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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wer ist Leonard Peltier?

In den 1980er Jah­ren kleb­ten am Roll­schrank in mei­nem Stu­dier­zim­mer vier Flug­blät­ter aus der Jun­gen Welt: »Free Ange­la Davis!«, »Free Luis Cor­valán!«, »Free Nel­son Man­de­la!« und »Free Leo­nard Pel­tier«. Die afro­ame­ri­ka­ni­sche Bür­ger­recht­le­rin und Phi­lo­so­phin Ange­la Davis wur­de 1972 nach mehr als einem Jahr Haft ent­las­sen und hat seit­her an ver­schie­den­sten Uni­ver­si­tä­ten welt­weit gelehrt. Der chi­le­ni­sche Uni­dad Popu­lar-Poli­ti­ker Luis Cor­valán, nach dem faschi­sti­schen Putsch 1973 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger auf der Insel Daw­son ein­ge­ker­kert, kam im Aus­tausch mit einem sowje­ti­schen Dis­si­den­ten nach drei Jah­ren frei. Und der im August 1962 vom süd­afri­ka­ni­schen Apart­heid-Regime inhaf­tier­te Nel­son Man­de­la erlang­te bekannt­lich 1990 nach mehr als 27 Jah­ren die Frei­heit und erhielt 1993 gemein­sam mit dem süd­afri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Fre­de­rik de Klerk den Frie­dens­no­bel­preis. Nur Leo­nard Pel­tier, Akti­vist der nord­ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­ner und Mit­glied der Ame­ri­can Indi­an Move­ment, ist immer noch in den USA in Haft – inzwi­schen seit mehr als 48 Jahren.

Bevor ich die im Titel gestell­te Fra­ge behan­deln wer­de, ein klei­ner Exkurs bezüg­lich der Situa­ti­on der Urein­woh­ner im »Muster­land der Demo­kra­tie«: Als ich 1993 zu Beginn eines 2 ½-jäh­ri­gen For­schungs­auf­ent­halts mit mei­ner damals vier­köp­fi­gen Fami­lie im mitt­le­ren Westen der USA Arbeits­kol­le­gen, Nach­barn und selbst gute Freun­de frag­te, wie man mit den nord­ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­nern Bekannt­schaft schlie­ßen kön­ne, traf ich oft auf Unver­ständ­nis: »Was wollt Ihr dort, die trin­ken doch nur und machen Glücks­spie­le?« Nur ein aus Kana­da stam­men­der Kol­le­ge mein­te eupho­risch, das wäre eine gute Idee, er müs­se mich nur vor­war­nen, dass wir nicht über­rascht sein soll­ten, wenn wir z. B. auf bay­risch begrüßt wür­den, da vie­le »Nati­ve Ame­ri­cans« in ame­ri­ka­ni­schen Mili­tär­ba­sen in der Bun­des­re­pu­blik die­nen muss­ten. Mei­ne erste (wis­sent­li­che) Begeg­nung mit einem Nati­ve Ame­ri­can war die mit dem Welt­mu­si­ker Car­los Nakai. Er trat mit einer Adler­kno­chen­flö­te auf die Büh­ne und hat die Kon­zert­be­su­cher dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass die nord­ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­ner von den Wei­ßen allen­falls als Mas­kott­chen betrach­tet wer­den. Das wur­de uns auch beim ersten Pow­wow-Besuch bewusst als außer unse­rer Fami­lie nur noch eine wei­ße Fami­lie zu Gast war. Die indi­ge­ne Bevöl­ke­rung ließ man also unter sich. Auf die­sem india­ni­schen Fest, wie auch wei­te­ren Pow­wows, die ich seit­her besuch­te, wur­den Flug­blät­ter zur Frei­las­sung von Leo­nard Pel­tier ver­teilt. Unter den nord­ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­nern gilt die­ser bekann­te­ste indi­ge­ne Gefan­ge­ne der USA als deren spi­ri­tu­el­ler Kopf, der sich mit sei­ner Stim­me, mit Schrif­ten aber auch Male­rei immer wie­der zur Situa­ti­on der Urein­woh­ner aus dem Gefäng­nis zu Wort gemel­det hat. 2004 wur­de er von der Peace and Free­dom Par­ty als Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat auf­ge­stellt. Bei Auf­trit­ten india­ni­scher Musi­ker wie Wade Fer­nan­dez oder Mitch Wal­king Elk in Euro­pa fehlt nie ein Song, der zur Befrei­ung von Leo­nard Pel­tier auf­ruft. Bei einer Frie­dens­ver­an­stal­tung in Euro­pa hat­te ich Gele­gen­heit, die aus Gua­te­ma­la stam­men­de Frie­dens­no­bel­preis­trä­ge­rin Rigo­ber­ta Men­chú Tum auf Leo­nard Pel­tier anzu­spre­chen, wor­auf sie aus­führ­lich von zwei Besu­chen bei Leo­nar­do, wie sie ihn nann­te, im Hoch­si­cher­heits­ge­fäng­nis berichtete.

Leo­nard Pel­tier, Jahr­gang 1944 (die Eltern waren vom Stam­me der Anis­hina­be und Lako­ta), wur­de 1977 in einem bis heu­te umstrit­te­nen Gerichts­ver­fah­ren für schul­dig befun­den, 1975 bei einer Schie­ße­rei nach bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Stam­mes­un­ru­hen im Pine Ridge Reser­vat*, South Dako­ta, zwei FBI-Män­ner erschos­sen zu haben. In den Jah­ren 1973-75 nach der Beset­zung des histo­ri­schen Ortes Woun­ded Knee nutz­te das FBI die Spal­tung inner­halb der Ogla­la-Lako­ta und unter­stütz­te die US-treu­en Reser­vats­be­woh­ner mit Waf­fen und Muni­ti­on. Zunächst wegen Mor­des ersten Gra­des ver­ur­teilt, wur­de das Urteil – nach­dem sich alle Bewei­se als falsch erwie­sen hat­ten – auf »Bei­hil­fe zum Mord« geän­dert, die Stra­fe von zwei­fach lebens­läng­li­cher Haft, iro­ni­scher­wei­se nach­ein­an­der abzu­lei­sten, aber blieb bestehen. Beweis­mit­tel, die Leo­nard Pel­tiers Ver­tei­di­gung hät­ten unter­stüt­zen kön­nen, waren nicht zuge­las­sen. Inzwi­schen hat sich der ehe­ma­li­ge Staats­an­walt James Rey­nolds, der für das Urteil mit­ver­ant­wort­lich war, 2017 öffent­lich für eine sofor­ti­ge Begna­di­gung aus­ge­spro­chen. Die deutsch­spra­chi­gen Main­stream-Medi­en schwei­gen über­wie­gend. Allein die unter Beob­ach­tung durch den Ver­fas­sungs­schutz ste­hen­de Tages­zei­tung jun­ge Welt weist jedes Jahr bei der von ihr orga­ni­sier­ten Rosa-Luxem­burg-Kon­fe­renz auf das Schick­sal des inzwi­schen schwer­kran­ken, fast 80-jäh­ri­gen Akti­vi­sten hin. Die Gesell­schaft für bedroh­te Völ­ker betrach­tet ihn als poli­ti­schen Gefan­ge­nen und setzt sich seit Jahr­zehn­ten für sei­ne Frei­las­sung ein. Amne­sty Inter­na­tio­nal, die welt­weit ope­rie­ren­de NGO, der bis vor kur­zem das Ein­tre­ten für in den USA Inhaf­tier­te ver­wehrt wur­de, ruft inzwi­schen aus huma­ni­tä­ren Grün­den zu sei­ner Begna­di­gung auf. Nel­son Man­de­la, Erz­bi­schof Des­mond Tutu, der Dalai Lama und Rigo­ber­ta Men­chú haben sich bei den schei­den­den US-Prä­si­den­ten Bill Clin­ton und Barak Oba­ma für sei­ne Begna­di­gung ein­ge­setzt, aber der Druck des FBI dage­gen war zu groß. Selbst zwei Brie­fe von Papst Fran­zis­kus an die Prä­si­den­ten Oba­ma und Biden blie­ben ohne Erfolg. Das am 10. Juli 2024 gestell­te Ansu­chen für Bewäh­rungs­frei­las­sung wur­de am 2.7.2024 durch die U.S. Paro­le Com­mis­si­on abge­lehnt. Damit ist sicher, dass Leo­nard Pel­tier (Häft­lings­num­mer 89637-132) auch sei­nen 80. Geburts­tag am 12. Sep­tem­ber 2024 als Gefan­ge­ner im Hoch­si­cher­heits­trakt von Cole­man in Flo­ri­da ver­brin­gen muss. Nun kann nur noch eine Begna­di­gung des schei­den­den Prä­si­den­ten Joe Biden hel­fen, damit Leo­nard Pel­tier wenig­stens in Frei­heit und im Bei­sein sei­ner Fami­lie ster­ben kann.

* Ein Blick in Wiki­pe­dia zeigt, dass selbst zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts die Lebens­er­war­tung der Bewoh­ner des Reser­vats mit 47 Jah­ren für Män­ner und 55 Jah­ren für Frau­en unter­halb des Niveaus der mei­sten afri­ka­ni­schen Län­der liegt. 

Gesell­schaft für bedroh­te Völ­ker: Pod­cast-Serie von Claus Bie­gert »In the Spi­rit of Cra­zy Hor­se – Die Geschich­te des Leo­nard Peltier«.