In den 1980er Jahren klebten am Rollschrank in meinem Studierzimmer vier Flugblätter aus der Jungen Welt: »Free Angela Davis!«, »Free Luis Corvalán!«, »Free Nelson Mandela!« und »Free Leonard Peltier«. Die afroamerikanische Bürgerrechtlerin und Philosophin Angela Davis wurde 1972 nach mehr als einem Jahr Haft entlassen und hat seither an verschiedensten Universitäten weltweit gelehrt. Der chilenische Unidad Popular-Politiker Luis Corvalán, nach dem faschistischen Putsch 1973 im Konzentrationslager auf der Insel Dawson eingekerkert, kam im Austausch mit einem sowjetischen Dissidenten nach drei Jahren frei. Und der im August 1962 vom südafrikanischen Apartheid-Regime inhaftierte Nelson Mandela erlangte bekanntlich 1990 nach mehr als 27 Jahren die Freiheit und erhielt 1993 gemeinsam mit dem südafrikanischen Präsidenten Frederik de Klerk den Friedensnobelpreis. Nur Leonard Peltier, Aktivist der nordamerikanischen Ureinwohner und Mitglied der American Indian Movement, ist immer noch in den USA in Haft – inzwischen seit mehr als 48 Jahren.
Bevor ich die im Titel gestellte Frage behandeln werde, ein kleiner Exkurs bezüglich der Situation der Ureinwohner im »Musterland der Demokratie«: Als ich 1993 zu Beginn eines 2 ½-jährigen Forschungsaufenthalts mit meiner damals vierköpfigen Familie im mittleren Westen der USA Arbeitskollegen, Nachbarn und selbst gute Freunde fragte, wie man mit den nordamerikanischen Ureinwohnern Bekanntschaft schließen könne, traf ich oft auf Unverständnis: »Was wollt Ihr dort, die trinken doch nur und machen Glücksspiele?« Nur ein aus Kanada stammender Kollege meinte euphorisch, das wäre eine gute Idee, er müsse mich nur vorwarnen, dass wir nicht überrascht sein sollten, wenn wir z. B. auf bayrisch begrüßt würden, da viele »Native Americans« in amerikanischen Militärbasen in der Bundesrepublik dienen mussten. Meine erste (wissentliche) Begegnung mit einem Native American war die mit dem Weltmusiker Carlos Nakai. Er trat mit einer Adlerknochenflöte auf die Bühne und hat die Konzertbesucher darauf aufmerksam gemacht, dass die nordamerikanischen Ureinwohner von den Weißen allenfalls als Maskottchen betrachtet werden. Das wurde uns auch beim ersten Powwow-Besuch bewusst als außer unserer Familie nur noch eine weiße Familie zu Gast war. Die indigene Bevölkerung ließ man also unter sich. Auf diesem indianischen Fest, wie auch weiteren Powwows, die ich seither besuchte, wurden Flugblätter zur Freilassung von Leonard Peltier verteilt. Unter den nordamerikanischen Ureinwohnern gilt dieser bekannteste indigene Gefangene der USA als deren spiritueller Kopf, der sich mit seiner Stimme, mit Schriften aber auch Malerei immer wieder zur Situation der Ureinwohner aus dem Gefängnis zu Wort gemeldet hat. 2004 wurde er von der Peace and Freedom Party als Präsidentschaftskandidat aufgestellt. Bei Auftritten indianischer Musiker wie Wade Fernandez oder Mitch Walking Elk in Europa fehlt nie ein Song, der zur Befreiung von Leonard Peltier aufruft. Bei einer Friedensveranstaltung in Europa hatte ich Gelegenheit, die aus Guatemala stammende Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú Tum auf Leonard Peltier anzusprechen, worauf sie ausführlich von zwei Besuchen bei Leonardo, wie sie ihn nannte, im Hochsicherheitsgefängnis berichtete.
Leonard Peltier, Jahrgang 1944 (die Eltern waren vom Stamme der Anishinabe und Lakota), wurde 1977 in einem bis heute umstrittenen Gerichtsverfahren für schuldig befunden, 1975 bei einer Schießerei nach bürgerkriegsähnlichen Stammesunruhen im Pine Ridge Reservat*, South Dakota, zwei FBI-Männer erschossen zu haben. In den Jahren 1973-75 nach der Besetzung des historischen Ortes Wounded Knee nutzte das FBI die Spaltung innerhalb der Oglala-Lakota und unterstützte die US-treuen Reservatsbewohner mit Waffen und Munition. Zunächst wegen Mordes ersten Grades verurteilt, wurde das Urteil – nachdem sich alle Beweise als falsch erwiesen hatten – auf »Beihilfe zum Mord« geändert, die Strafe von zweifach lebenslänglicher Haft, ironischerweise nacheinander abzuleisten, aber blieb bestehen. Beweismittel, die Leonard Peltiers Verteidigung hätten unterstützen können, waren nicht zugelassen. Inzwischen hat sich der ehemalige Staatsanwalt James Reynolds, der für das Urteil mitverantwortlich war, 2017 öffentlich für eine sofortige Begnadigung ausgesprochen. Die deutschsprachigen Mainstream-Medien schweigen überwiegend. Allein die unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz stehende Tageszeitung junge Welt weist jedes Jahr bei der von ihr organisierten Rosa-Luxemburg-Konferenz auf das Schicksal des inzwischen schwerkranken, fast 80-jährigen Aktivisten hin. Die Gesellschaft für bedrohte Völker betrachtet ihn als politischen Gefangenen und setzt sich seit Jahrzehnten für seine Freilassung ein. Amnesty International, die weltweit operierende NGO, der bis vor kurzem das Eintreten für in den USA Inhaftierte verwehrt wurde, ruft inzwischen aus humanitären Gründen zu seiner Begnadigung auf. Nelson Mandela, Erzbischof Desmond Tutu, der Dalai Lama und Rigoberta Menchú haben sich bei den scheidenden US-Präsidenten Bill Clinton und Barak Obama für seine Begnadigung eingesetzt, aber der Druck des FBI dagegen war zu groß. Selbst zwei Briefe von Papst Franziskus an die Präsidenten Obama und Biden blieben ohne Erfolg. Das am 10. Juli 2024 gestellte Ansuchen für Bewährungsfreilassung wurde am 2.7.2024 durch die U.S. Parole Commission abgelehnt. Damit ist sicher, dass Leonard Peltier (Häftlingsnummer 89637-132) auch seinen 80. Geburtstag am 12. September 2024 als Gefangener im Hochsicherheitstrakt von Coleman in Florida verbringen muss. Nun kann nur noch eine Begnadigung des scheidenden Präsidenten Joe Biden helfen, damit Leonard Peltier wenigstens in Freiheit und im Beisein seiner Familie sterben kann.
* Ein Blick in Wikipedia zeigt, dass selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Lebenserwartung der Bewohner des Reservats mit 47 Jahren für Männer und 55 Jahren für Frauen unterhalb des Niveaus der meisten afrikanischen Länder liegt.
Gesellschaft für bedrohte Völker: Podcast-Serie von Claus Biegert »In the Spirit of Crazy Horse – Die Geschichte des Leonard Peltier«.