Was ist nur los, fragten sich viele seit Anfang 2020. Wir leiden nicht an Corona, sondern am Spaltpilz. Mit Erstaunen mussten sie feststellen, dass mit der Corona-Pandemie auch Liberale und Linke sich plötzlich in verschiedenen Lagern befanden. Unsäglich wurde zwischen Freunden und in den Familien gestritten. Alle fanden sich »kritisch«, aber die einen folgten den Regierungen, deren Maßnahmen sie berechtigt fanden, die anderen fühlten sich zu den sogenannten Querdenkern hingezogen. Und kaum ist die eine Krise vorbei, sind wir in der nächsten gelandet. Waffenlieferungen, ja oder nein? Wieder schauen sich Liberale und Linke wie auch Linke und Linke gegenseitig an und verstehen sich überhaupt nicht mehr.
Umso dankenswerter ist es, wenn Sozialwissenschaftler wenigstens die eine der beiden Krisen mit methodischen Mitteln zu verstehen suchen. Nützlich wäre es zu wissen, ob es auch beim Ukraine-Thema wieder ähnliche Dispositionen oder Umstände sind, die die Menschen auf die eine oder die andere Seite der sich erneut bildenden Fronten treiben. Bereits 2020 untersuchte ein Forschungsteam an der Universität Basel die Gruppe der Querdenker und »Coronarebellen« in Deutschland und in der Schweiz. Neben anderen Methoden kamen eine umfangreiche Online-Umfrage sowie qualitative Interviews zum Einsatz, und das Ergebnis war zunächst überraschend. Querdenker, öffentlich bereits als rechtsradikal etikettiert, erwiesen sich mehrheitlich eher als links. Sie gehören vorwiegend der bürgerlichen Mittelschicht an und verfügen über einen überdurchschnittlichen Bildungsgrad. Ein großer Teil von ihnen wählte in Deutschland nicht etwa die AfD, sondern häufig die Linke, die SPD und in Baden-Württemberg vor allem die Grünen. Der Leiter des Basler Forschungsteams, Oliver Nachtwey, hat nun zusammen mit Carolin Amlinger eine umfangreiche Interpretation dieser empirischen Ergebnisse vorgelegt, die als Buch erschienen ist: »Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus« (Suhrkamp, Berlin 2022).
Wer eine neutrale Analyse des Gesamtphänomens erwartet, sieht sich allerdings enttäuscht. Denn die beiden Autoren stehen mit beiden Beinen innerhalb des Gerangels, das eigentlich erklärt werden sollte. Wie kenntnisreich und klug auch viele der umfangreichen Ausführungen zu den Wandlungen moderner Gesellschaften sind, sie beruhen auf einer versteckten, aber durchaus deutlichen Festlegung: Die Autoren – obgleich Vertreter der linken Kritischen Theorie – sind sich sicher, dass die Corona-Maßnahmen grundsätzlich berechtigt waren und die querdenkerische Kritik daran gänzlich daneben lag. Die Möglichkeit, dass manches richtig war und vieles falsch oder manches falsch und vieles richtig, dass jedenfalls nach wie vor eine große Unklarheit darüber herrscht, wie angemessen die Corona-Politik tatsächlich war, kommt bei den Autoren nicht vor. Weiß ich aber, dass sich die untersuchte Gruppe auf der falschen Seite befindet, vereinfacht das zwar die Herangehensweise, es führt aber kaum zu überzeugenden Erkenntnissen. Und die Frage, warum sich Linke bzw. Linksliberale in den Haaren lagen, bleibt weiterhin unaufgeklärt. Festgestellt werden muss nur noch, weshalb die anderen so defizitär tickten und überhaupt nicht begriffen, worum es wirklich ging.
Worum ging es nach Auffassung der Autoren? Darum, seine Freiheit angemessen zu nutzen. Nicht einfach zu tun, wozu man gerade Lust hatte, sondern berechtigte Einschränkungen solidarisch zu akzeptieren. Zulässig ist hier durchaus ein Anklang an die Ukraine-Krise, obwohl diese im Buch nicht zur Sprache kommt. Auch jetzt gilt es, nicht sich selbst für den Nabel der Welt zu halten, sondern gemeinsam Opfer zu bringen: Waffenlieferungen, Aufrüstung, Sanktionen – koste es, was es wolle, ist es doch für den objektiv guten Zweck. Und schon wieder scheint Widerstand von der gleichen Seite zu kommen, die Seite, so die Autoren, des »libertären Autoritarismus«.
Libertärer Autoritarismus. Querdenker und dergleichen Personen fallen in diese Kategorie. Zwar liegt zwischen dem Koch Attila Hildmann und dem Psychiater Hans-Joachim Maaz oder dem Medizinprofessor Andreas Sönnichsen ein erheblicher Niveauunterschied, doch »libertär« seien beide, insofern sie einem radikalisierten individuellen Freiheitsbegriff anhingen, und »autoritär« deshalb, weil für sie allein die individualistisch überspitzte Willkür maßgebend sei. Libertär, schön und gut, aber autoritär? Im Grunde beschreiben Nachtwey und Amlinger ungezogene Kinder, die sich partout den vernünftigen Anordnungen der Eltern nicht fügen wollen. Wie kann Familienleben funktionieren, wenn jeder macht, was er will? Freilich ist genau das die Entwicklung in der postmodernen Gesellschaft, so analysieren die Autoren: Jeder macht, was er will, und er glaubt, in keiner Weise berücksichtigen zu müssen, dass er es nur deshalb kann, weil sich andere verantwortlich verhalten.
Wer aber ist »autoritär«? Sind es jene, die jeder Elternanweisung kritiklos folgen, oder Kinder, die unverfroren ihrer eignen Wege gehen? Nachtwey und Amlinger tippen auf Letzteres. Doch es gleicht einem gedanklichen Salto mortale, wenn sie das psychologische autoritäre Syndrom entkernen, indem sie dessen Hauptmerkmal, die Unterwürfigkeit, durch das Gegenteil ersetzen, nämlich die übertriebene Selbständigkeit. Aus dem Radfahrer, der nach oben buckelt und nach unten tritt, der faschistoiden Persönlichkeit also, wird so ein Mensch mit aufrechtem Gang. Das ist zweifellos ein Missgriff, enthält aber einen versteckten Hinweis auf die Autoren selbst.
Fruchtbarer ist andererseits der Versuch, die Deutung psychischer Dispositionen von Querdenkern mit der Narzissmus-Thematik zu verbinden. Narziss sieht nur sich selbst. Obwohl er nicht frei sein kann, ohne diese Freiheit gesellschaftlich verbürgt zu bekommen, fehlt ihm diese Einsicht und daher – deshalb libertär – hat er kaum Sinn für Verantwortung und Solidarität. Beruft er sich auf Grundrechte, so sieht er sie in krass individualistischer Missdeutung. Daraus folge ein »destruktiv gegen jede soziale Beschränkung« gerichteter Protest. Hier zielt die Analyse in eine nachvollziehbare Richtung. Die neoliberale Umgestaltung der Gesellschaft kann kaum spurlos an den Individuen vorbeigegangen sein. Jeder ist sich selbst der Nächste, der soziale Zusammenhalt wird über den Markt bewerkstelligt. Ausgeblendet bleibt dabei, dass individuelle Freiheit ohne das Netz gesellschaftlicher Bezüge niemals existieren könnte. Solidarität ist daher so etwas wie eine Schuld, die der Gesellschaft gegenüber abgetragen wird, freilich fragt es sich, gegenüber welcher Gesellschaft. Und natürlich kann auch in diesem Zusammenhang Autoritarismus eine Rolle spielen.
Wo aber steckt er? Wohl kaum in den Individuen, die vielleicht ein wenig »neoliberal verseucht« sein mögen, die aber damit gewiss nicht autoritär sind. Stattdessen könnte man sich – auch wenn das Umdrehen des Spießes nicht immer ganz fair ist – die beiden Autoren näher anschauen. Ihre versteckte Prämisse der gesamten Untersuchung lautet schlicht: Der Staat war im Recht, Querdenker hatten unrecht. Doch woher wissen sie, dass die Corona-Maßnahmen weitgehend angebracht waren? Irgendwie scheinen sie anzunehmen, der Konsens der Wissenschaft habe zu diesen Eingriffen geführt. Aber auf welchem Konsens beruhten etwa die hochgradig falschen Annahmen über die Impfung? Sie unterbreche die Infektionskette, daher müssten Ungeimpfte draußen bleiben. Eingriffe in Grundrechte auf so schwankender Basis? Wer dagegen aufbegehrte, musste nicht zwingend den verkehrten Freiheitsbegriff haben, vielleicht hatte er den unbedingt richtigen. Und autoritär war er schon gar nicht. Ähnlich sieht es gegenwärtig aus: Wer im Krieg zwischen den Hegemonialinteressen des Westens und denen Russlands nicht unbedingt einen Kampf zwischen Gut und Böse sieht, muss nicht notwendig berechtigte Solidarität verweigern.
Was wäre aus linker Sicht wirklich interessant, sofern man nach den Wurzeln gegenwärtiger Verwerfungen fragt? Weshalb das Volk nicht so will, wie es sollte und muss? Warum Libertäre die Segnungen einer wissenschaftlich gelenkten Politik nicht begreifen? Viel interessanter wäre zu fragen, ob eigentlich richtig ist, zu was man die Menschen nötigen möchte. Warum gehen Staatsräson und Kapitalinteresse eine neue Symbiose ein? War denn keine Lobby tätig, als es um Corona ging und jetzt um Waffen? Könnte es sein, dass Eliten ihre Weltsicht nicht unbedingt an den Wünschen der Mehrheit ausrichten? Und die Medien? Waren und sind sie die kritische Vierte Gewalt oder eher die Megafone der Regierungen? Wer sich als links verortet oder als klassisch liberal, stellte bislang solche Fragen ganz selbstverständlich. Was ist eigentlich passiert, dass neuerdings solches Fragen als abwegig gilt, jedenfalls bei Vertretern der Kritischen Theorie? Leider bietet das fragliche Buch darüber überhaupt keinen Aufschluss. Stattdessen dürfte es die Spaltung vertiefen.