»Heutzutage noch fernzusehen, das klingt so passiv, ungesund und erbärmlich, als würde man sich von Fertiggerichten ernähren«, konstatiert Jochen Schmidt in seinem neuesten Buch. Es enthält Kolumnen über das Fernsehen, ist Abschied von einem Medium und Ausblick auf ein Dutzend neue. Was das Fernsehen einmal war, belegt der Autor mit einer Anekdote: Für seinen ersten TV-Auftritt feierten ihn die Eltern so, wie er es sich von seinen zuvor veröffentlichten Büchern vergebens erhofft hatte. Einmal »im Fernsehen« war der Mensch unanfechtbar bedeutsam. Für den Ostberliner Schmidt hätte diesen Triumph auch das DDR-Fernsehen bereitgehalten. Geguckt wurde es allerdings selten, dazu war die Alternative zu mächtig: »Ohne Westfernsehen wäre die DDR kaum erträglich gewesen und sicher früher zusammengebrochen.« Nicht weniger systemrelevant, ist anzumerken, war es für die BRD, erschuf doch Helmut Kohl mit seinem allerersten Gesetz das Privat-TV, das den Widerstand gegen die nachfolgenden Privatisierungswellen und ihre sozialen Folgen sedieren half.
Für Schmidt wie für viele seiner X-Generationskollegen war Fernsehen mehr als nur dominant im Alltag. Es war der Alltag. Wie einer sich entwickelte, war eine Begleiterscheinung der medialen Entwicklung. Das jahrelange Fehlen einer Fernbedienung sieht Schmidt, heute Kicker in der Autorennationalmannschaft, als Ursache für seine Sportlichkeit, musste er zum Zappen doch jedesmal aufstehen und durchs Wohnzimmer laufen. Die Miracoli-Werbung setzte den Maßstab dafür, wie selbstgekochtes Essen bei der Familie ankam. Umgekehrt helfen dem passionierten Familienmenschen Schmidt heute nur GNTM und ähnliche Formate bei dem Versuch, seine Teenager-Tochter zu verstehen. Dass Fernsehen und Leben in Wahrheit Synonyme sind, zeigte sich während der Covid-Pandemie, als Videocalls die Rollenverteilung der lebensfernen Institution Schule aufbrachen. Jahrzehnte vorher entwickelte Schüler Schmidt seine Kreativität zu gleichen Teilen fernsehend und, wenn daran verhindert, sich den lesenswertesten Blödsinn ausdenkend. Die Schule vermittelte ihm nur das ihr Eigene: Langeweile.
Wie Alltag und Fernsehen, das Leben und seine Darstellung zusammenhängen, nimmt der Autor nicht nur wahr, sondern zum Anlass weit ausgreifender, routiniert überraschender Betrachtungen. Keineswegs entgeht ihm, dass auch vor den TV-Kameras echtes Leben stattfindet, in das er sich wie folgt einfühlt: »Wenn die Leute im Fernsehen uns beim Fernsehen beobachten könnten, würden sie sich wie die Tiere im Zoo fühlen, die uns ja auch dabei beobachten, wie wir auf ihr Verhalten reagieren.« Vom Inhalt der Sendungen scheint Zuschauer Schmidt, je älter er wird, desto systematischer abzuschweifen hin zu dem Gewinn, der sich vom gemeinsamen Gucken in der Beziehung, in der Familie und anderen Kollektiven erzielen lässt. Selbst ein Fußballspiel, verrät er, interessiert ihn mittlerweile weniger als die antikefähigen Dramen zwischen den beteiligten Spielern oder diejenigen zwischen Familienmitgliedern unterschiedlichen Alters, die unterschiedlich lange aufbleiben und fernsehen dürfen. Schiedsrichter gibt es da immer zwei, Schmidt und seine Freundin, die von einer gemeinsamen Linie weiter entfernt sind als die FIFA von der Definition des strafbaren Handspiels. Wer allerdings vermutet, das Fernsehen gelte dem Autor als Beziehungskiller, erfährt verblüfft: »Meine Eltern haben sich nie getrennt, sie hatten ja getrennte Fernseher.«
In seinem Roman »Phlox« hatte Jochen Schmidt unlängst eine Ferienidylle geschildert, wie sie fernsehferner nicht denkbar ist. Eine junge Familie macht dort Urlaub, wo der Vater als Kind die Ferien verbrachte, taucht ein in eine anarchische Gegengesellschaft aus Gestrandeten des havarierten Traumschiffs DDR. Ist Fernsehen für Schmidt dann nur eins dieser Auftragsthemen, die Schriftsteller heute behandeln müssen, weil das aktuelle Zeitungshonorar oder Stipendium es von ihnen verlangt? Wer »Phlox« gelesen hat, weiß es besser, und zwar von einer der schrulligsten Figuren. »Tante Viechen war eigentlich immer empört und erleichtert, wenn sie einen Grund dafür fand.« Einen Gegner hat sie dabei immer im Visier: »Wenn sie gerade keinen Grund zur Empörung fand, sagte sie: ›Der Fernseher ist so ein Störenfried‹.«
Übrigens besitzt Jochen Schmidt gar keinen Fernseher. Schmidts schauen auf einem Computerbildschirm, was impliziert: Youtube, Netflix und Co. sind feste Programmbestandteile. Die Ästhetik entwickelt sich parallel, zappelt auf Zeithöhe, sodass der Autor schon in seinem Dialogband »Paargespräche« den Kollegen Brecht fragen lässt: »Aber wie machen die das, dass man immer weitergucken will? Im Theater wären die Zuschauer längst eingeschlafen.« Wie Schmidt es anstellt, bleibt sein Geheimnis, aber man will seine Bücher definitiv immer weiterlesen.
Jochen Schmidt, Zu Hause an den Bildschirmen. Schmidt sieht fern, Verlag C.H.Beck 2023, 287 S., 24 €.