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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wer gibt den Ton an?

Neben guten Wün­schen zur Wahl als Bun­des­kanz­ler und mit allem Respekt vor der Per­son Olaf Scholz und sei­nem neu­en Staats­amt sehe ich von der nun amtie­ren­den Regie­rung, die mit gro­ßer Aus­strah­lung über deut­sche und euro­päi­sche Gren­zen hin­aus­wirkt, ernst­zu­neh­men­de Gefah­ren aus­ge­hen. Laut Grund­ge­setz bestimmt der Bun­des­kanz­ler die Richt­li­ni­en der deut­schen Poli­tik, auch der Außen­po­li­tik, der ja nun, dank koali­ti­ons­in­ter­ner Abre­den um reprä­sen­ta­ti­ve Regie­rungs­äm­ter für die Vor­sit­zen­den der Koali­ti­ons­part­ner FDP und Die Grü­nen, Frau Anna­le­na Baer­bock vor­steht. Nun spricht nichts gegen eine jun­ge Frau in sol­cher Posi­ti­on, wenn sie das Amt reprä­sen­tiert, nicht ihre Per­son. Wie aber ist es um ihre all­ge­mei­nen poli­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen bestellt, um einen inter­na­tio­nal ange­se­he­nen und ein­fluss­rei­chen Staat wie die BRD ver­tre­ten zu kön­nen? Nach bis­he­ri­gen öffent­li­chen Erklä­run­gen von Frau Baer­bock habe nicht nur ich erheb­li­che Zwei­fel an ihrer Kom­pe­tenz. Vor­schnel­le Äuße­run­gen und for­sche Auf­trit­te einer Vier­zig­jäh­ri­gen sind nicht unbe­dingt Zei­chen mehr für jugend­li­chen Elan, son­dern schei­nen unzu­rei­chen­de Kennt­nis­se in der Sache zu übertünchen.

Die Sache, um die es gegen­wär­tig vor­ran­gig geht, sind die poli­ti­schen Bezie­hun­gen zwi­schen Deutsch­land und Russ­land sowie zur Volks­re­pu­blik Chi­na. Anti­rus­si­sche und anti­chi­ne­si­sche Aus­fäl­le der Außen­mi­ni­ste­rin füh­ren die Ankün­di­gung der »Ampel­ko­ali­ti­on« auf eine neue Außen­po­li­tik ad absur­dum, wenn Frau Baer­bock in pein­li­chen Inter­views über Russ­land im Voka­bu­lar des Kal­ten Krie­ges spricht. Das macht Angst.

Nun gut, über deutsch-rus­si­sche bzw. deutsch-sowje­ti­sche Bezie­hun­gen kann sie nicht mehr Kennt­nis­se haben, als ihr in der Schu­le ver­mit­telt wor­den sind. Bei der Ein­glie­de­rung der DDR in die Alt-BRD 1990 war sie etwa zehn Jah­re alt und ging noch in die Grund­schu­le. Was damals über die DDR, die Sowjet­uni­on und inter­na­tio­na­le Poli­tik ver­brei­tet wur­de, wird heu­te, zum Teil wenig­stens, dif­fe­ren­zier­ter gese­hen. Gegen Russ­land wer­den seit über ein­hun­dert Jah­ren ver­bis­sen alte Unter­stel­lun­gen beibehalten.

Dem heu­ti­gen Russ­land wird erneut unter­stellt, es rüste zum Krieg gegen die Ukrai­ne, und das müss­te die Nato ver­hin­dern. Zur Erin­ne­rung: Mit der frei­en Erfin­dung von 1946/​47, Sta­lin wür­de bis zum Rhein vor­sto­ßen, wur­de 1948 die Nato gegrün­det. Die Sowjet­uni­on und die Rote Armee waren am Kriegs­en­de aus­ge­blu­tet. Ideen zur Wei­ter­füh­rung des Krie­ges konn­ten nur aus mili­tan­ten Hir­nen von Rüstungs- und Kriegs­ge­winn­lern in den USA ent­sprin­gen. Deut­sche Mili­ta­ri­sten und Faschi­sten woll­ten ihre mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge durch »bol­sche­wi­sti­sche Unter­men­schen« nicht akzep­tie­ren und hät­ten wei­ter Krieg gegen »die Rus­sen« geführt, hät­te man sie gelas­sen. Das anti­so­wje­ti­sche Lügen­ge­bäu­de der Nazis wur­de in der BRD weit­ge­hend unge­niert über­nom­men. Ade­nau­er sprach stets von der »Befrei­ung der Sowjet­zo­ne« und davon, dass die Kom­mu­ni­sten an allem Elend schuld wären. Der USA-Prä­si­dent nach dem Tode Roo­se­velts pro­kla­mier­te sei­ne »Tru­man-Dok­trin«. Sie lau­tet in Kurz­fas­sung: Rus­sen raus aus Euro­pa, USA rein nach Euro­pa, Deutsch­land unter Kon­trol­le. In einer »gehei­men Kanz­ler­ak­te« vom 21. Mai 1949 wur­de die Medi­en­ho­heit der west­li­chen alli­ier­ten Sie­ger über das BRD-Pres­se­we­sen gere­gelt, außer­dem wur­den alle Bun­des­kanz­ler ver­pflich­tet, die­se Akte zu unter­zeich­nen. Deren Gül­tig­keit soll bis 2099 rei­chen. Wil­ly Brandt hat­te sei­ne Unter­schrift unter die­sen »Unter­wer­fungs­brief« zunächst ver­wei­gert, aber ihn schließ­lich doch unter­zeich­net (Egon Bahr: Mein Deutsch­land – http://www.zeit.de/2009/21/D-Souveraenitaet). Wird an die­ser »Akte« noch immer fest­ge­hal­ten, dann sind Fra­gen zur Sou­ve­rä­ni­tät der Bun­des­re­pu­blik sehr berech­tigt. Für die USA ste­hen stets die eige­nen Inter­es­sen im Vor­der­grund (sie­he Nord Stream 2). Deutsch­land hat ab Janu­ar 2022 den Vor­sitz bei den G7-Staa­ten – dem »Polit­bü­ro« des Kapi­ta­lis­mus. Wes­sen Inter­es­sen wird Frau Baer­bock da vertreten?

Nach Auf­lö­sung der Sowjet­uni­on und des War­schau­er Mili­tär­pak­tes 1991 hat­te die Nato kei­nen »Feind« mehr. Die Rüstungs­in­du­strie woll­te aber wei­ter­hin Spit­zen­ge­win­ne erzie­len, also such­te sie neue Fein­de und führ­te Krie­ge gegen ara­bi­sche Staa­ten wie Irak, Afgha­ni­stan, Liby­en, Syri­en, in Afri­ka und Latein­ame­ri­ka. Ent­ge­gen allen Ver­ein­ba­run­gen um 1990 steht die Nato heu­te an den Gren­zen Russ­lands. Poli­ti­sche Hasar­deu­re set­zen zum Sprung nach den Boden­schät­zen des größ­ten Lan­des der Welt an. Jun­ge west­li­che Heiß­spor­ne, die im Kriegs­hand­werk Männ­lich­keit demon­strie­ren und Hel­den wer­den wol­len, soll­ten Kriegs­grä­ber z. B. auf den See­lower Höhen öst­lich von Ber­lin besu­chen, da lie­gen 17- bis 20-Jäh­ri­ge, man­cher von denen woll­te ein Held sein. Das deut­sche Volk in Ost und West woll­te nie wie­der in Krie­ge ver­wickelt wer­den. Frau Baer­bock will nach Pres­se­mel­dun­gen in Litau­en eine Bun­des­wehr­ka­ser­ne bau­en – wozu?

Die deut­sche Geschich­te ist seit 1918 von Anti­bol­sche­wis­mus, Anti­so­wje­tis­mus, Anti­kom­mu­nis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und jüngst einer lächer­li­chen, aber sehr gefähr­li­chen mili­tan­ten Rus­so­pho­bie durchsetzt.

Deutsch­land, genau­er das deut­sche Volk, hat gegen­über den Völ­kern des größ­ten Staa­tes der Erde eine histo­ri­sche Schuld abzu­tra­gen, die ihm die Regie­run­gen des deut­schen Kai­sers, der Wei­ma­rer Repu­blik, die faschi­sti­sche Nazi­re­gie­rung und nicht zuletzt seit 1949 auch alle Bun­des­re­gie­run­gen auf­ge­bür­det haben. Der kai­ser­li­che Gene­ral Hoff­mann hat im Früh­jahr 1918 in den Frie­dens­ver­hand­lun­gen in Brest-Litowsk der Sowjet­re­gie­rung einen Raub­frie­den mit rie­si­gen ter­ri­to­ria­len Ver­lu­sten auf­ge­zwun­gen. Eine beson­de­re Per­fi­die war, dass deut­sche Trup­pen wäh­rend der Frie­dens­ver­hand­lun­gen die Kriegs­hand­lun­gen fort­setz­ten. Es folg­te die Inva­si­on von 16 kapi­ta­li­sti­schen Staa­ten in Sowjet­russ­land, um die Sowjet­re­gie­rung zu stür­zen. Die­ser pro­vo­zier­te und geschür­te Bür­ger­krieg ende­te 1922 mit dem Sieg der Roten Armee über die Eindringlinge.

In Ber­lin ent­stand am 1. Dezem­ber 1918 eine »Anti­bol­sche­wi­sti­sche Liga« und wur­de zum Dach­ver­band ande­rer »zum Stu­di­um und zur Bekämp­fung des Bol­sche­wis­mus« ent­stan­de­ner Orga­ni­sa­tio­nen. Was Hit­ler­deutsch­land den Völ­kern der UdSSR ange­tan hat, muss ich nicht aus­drück­lich benen­nen. Bevöl­ke­rung und Regie­run­gen der DDR mögen mit »Deutsch-Sowje­ti­scher Freund­schaft« man­ches über­trie­ben oder geschönt haben, aber es war ehr­li­cher Wil­le der Mehr­heit des Vol­kes, mit den Völ­kern Russ­lands und Euro­pas nur noch im Frie­den leben zu wol­len. Auf einer Vor­trags­rei­se für die Deutsch-Sowje­ti­sche Freund­schafts­ge­sell­schaft (DSF) in der BRD 1955 erzähl­ten mir älte­re Arbei­ter, dass sie im Krieg in sowje­ti­schen Fabri­ken »Rote Ecken« vor­ge­fun­den hät­ten, in denen Maschi­nen aus Deutsch­land stan­den, die die Sowjet­re­gie­rung in der Kri­se 1929 aus Deutsch­land ein­ge­kauft hat­te und die zum Grund­stock für ihren eige­nen wirt­schaft­li­chen Auf­bau wur­den. Tau­sen­de deut­sche Arbei­ter wur­den in die­ser Kri­se vor der Arbeits­lo­sig­keit bewahrt, berich­te­ten eini­ge. Die West­mäch­te hat­ten damals eine Embar­go­po­li­tik gegen Sowjet­russ­land beschlossen.

Alles das will Frau Baer­bock in »neu­er« Qua­li­tät fort­set­zen? Histo­ri­sche Fak­ten sind Hand­werks­zeug der Außen­po­li­tik. Unlängst haben sich ame­ri­ka­ni­sche Gene­ra­le und ehe­ma­li­ge US-Außen­po­li­ti­ker an Prä­si­dent Biden mit der Auf­for­de­rung gewandt, kei­ne Zuspit­zung des Ver­hält­nis­ses zwi­schen den USA und Russ­land sowie Chi­na zuzu­las­sen. Wer heu­te für deut­sche Außen­po­li­tik zustän­dig ist, der muss erken­nen wol­len, dass die USA die deut­sche Bun­des­re­pu­blik als Hege­mon der EU anse­hen und dar­um aus­ge­wählt haben, mit Hil­fe der Nato-Keu­le den Ein­fluss Russ­lands aus Euro­pa wei­ter hin­aus­zu­drän­gen – Tru­man-Dok­trin für 2022 neu auf­ge­legt. Eine sol­che Poli­tik wider­spricht deut­schen und euro­päi­schen Inter­es­sen. Die USA küm­mern sich pri­mär dar­um, den Ein­fluss der VR Chi­na in Asi­en ein­zu­däm­men. Deutsch­land rückt damit in eine vor­de­re Posi­ti­on um die poli­ti­schen Vor­macht­kämp­fe in der kapi­ta­li­sti­schen Welt. Mit einer sol­chen »Arbeits­tei­lung« wird die BRD zum Kom­pli­zen von USA-Aggres­sio­nen. Wie mag die­ses Kom­plott wohl aus­ge­hen? Ein Leben immer am Ran­de eines mili­tä­ri­schen Infer­nos? Die Bun­des­re­gie­rung soll­te unser Volk fra­gen, ob es eine sol­che Rol­le für Deutsch­land haben will.