1910 stellte er sich schreiend, mit schmerzhaft aufgerissenem Mund dar, schräg in der Bildebene, in jener zerklüfteten und doch so korrekten Umrisslinie, die die Handschrift des Künstlers fast von Beginn an prägte. Seine verformten, nackten Selbstbildnisse, die einen Zug zum Exhibitionismus nicht verleugnen, spiegeln panisches Entsetzen und an Hysterie grenzende Existenzangst wider. Niemand anders hat den Schrei der Zeit, den Schrei der Vereinsamung und Verzweiflung, die Widersprüche und seelischen Spannungen vor und während des Ersten Weltkrieges so eingefangen wie der österreichische Maler und Zeichner Egon Schiele, der schon mit 28 Jahren von einer verheerenden Grippe-Epidemie dahingerafft wurde. Viele seiner Darstellungen stammen aus einem unmittelbaren Erleben, sind Anklagen, Empörungsschreie, mit denen der Künstler sich mit den Opfern identifiziert, wenn er nicht ohnehin selbst Opfer gewesen ist. In schonungsloser Offenheit, die keine Tabus kennt, wandte er sich an den Mitmenschen, wollte er eigene Beunruhigung auf ihn übertragen.
Der 1890 in Tulln an der Donau als Sohn eines autoritär herrschenden Bahnbetriebsamtsvorstandes geborene Egon Schiele hatte wenig Lust auf die Schule und widmete sich schon früh dem Zeichnen und Aquarellieren. Nachdem der Vater, körperlich und geistig völlig zerstört, gestorben war, konnte Schiele eine Ausbildung an der Wiener Kunstgewerbeschule durchsetzen. Franz von Stuck in München wurde sein Vorbild, er nahm Kontakt zur Wiener Werkstätte und zu dem von ihm verehrten Gustav Klimt auf, der sich dann für Schieles Fortkommen engagierte. Aber im Unterschied zu dessen den Jugendstil anzeigender Ornamentik drängte Schiele in seinen Aktdarstellungen und Porträts zum Expressionismus hin und blieb trotz erster Ausstellungserfolge das enfant terrible des Wiener Kunstlebens. Seine Arbeiten wurden als »Auswüchse eines kranken Gehirns« oder als Karikaturen angesehen, er wurde sogar zu Gefängnishaft verurteilt, weil die erotischen Zeichnungen in seinem Atelier »Jugendlichen zugängliche Pornographie« seien. Obwohl er in ständigen finanziellen Schwierigkeiten lebte und um seine Existenz als Künstler ringen musste, besaß er doch einen kleinen Kreis von Sammlern und Förderern, die sein Werk schätzten. Aber über die Grenzen des Landes hinaus sind seine Arbeiten erst in den 1950er/1960er Jahren international bekannt geworden.
Schiele hat fast sein ganzes Leben zwischen Wien und Niederösterreich verbracht, doch die südböhmische Stadt Krumau (heute Český Krumlov, Tschechien), die Heimatstadt seiner Mutter, kannte er von Kindheit an. In einer Schleife der Moldau wie auf einer Insel gelegen, hat diese Renaissancestadt mit ihren alten Mauern, engen Gassen und ineinander geschachtelten Häusern Schiele zu wiederholten Aufenthalten veranlasst. Hier sind viele seiner eindrucksvollsten Stadt- und Landschaftsbilder entstanden, so die einer Stadtvision gleichende »Tote Stadt« (1911), ein in bewegter Farbmaterie eingebetteter und mit geheimnisvollen Lichtreflexen versehener Krumauer Häuserkomplex, umflossen vom schwarzblauen Fluss, in steiler Draufsicht. In kühner Perspektivansicht zeigt er »Krumau an der Moldau« (1913/14), zwar auf die Fläche gegliedert und doch eine räumliche Wirkung der Häuser erzielend, indem er sie stufenmäßig nacheinander aufbaut. So entfalten sie in ihren unterschiedlich gefärbten Fassaden unter dunklen Dächern ein eigenartiges Leben, ja, nehmen sogar einen physiognomischen Charakter an. In einem Renaissancegebäude der ehemaligen städtischen Brauerei befindet sich das Egon Schiele Art Centrum, das eine ständige Dokumentation von Leben und Werk des Künstlers sowie Exponate aus seinem persönlichen Nachlass zeigt.
Doch die weltweit größte Schiele-Sammlung mit mehr als 200 Werken ist im Leopold-Museum in Wien zu sehen, in der überhaupt die österreichische Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Moderne hervorragend vertreten ist. Wunderbar kann man hier erkennen, dass die die Zeichnung bei Schiele immer Vorrang vor der Farbe hat, auch in seinen linear aufgebauten menschenleeren Landschaften. Vor allem aber tritt das Thema der Erotik in den Aquarellen und Zeichnungen viel stärker hervor als in seinen Ölbildern. Wenn es auch in den frühen Porträts und Figurendarstellungen viele dekorative Elemente gibt, ist er dem Farbenrausch von Klimts Bildnissen nicht gefolgt. Um 1910 gewinnen düstere, morbide Elemente die Oberhand. Seine Figuren zeichnen sich durch ungewöhnliche Körperhaltungen, überlange Gliedmaßen oder auffallende Gestik aus. Im Spiegel wird das Selbstbildnis zur Marionette und eröffnet damit neue Dimensionen. Die nackten Körper wirken durch die unnatürlich verkrampften Stellungen und die brutale Betonung der Geschlechtsteile noch heute beinahe abstoßend auf den Betrachter. Fehlende Extremitäten, auf Torsi reduzierte Körper dominieren. Trüben Tönungen werden grelle, heftige Farben entgegengesetzt, die den Kontrast ins Qualvolle steigern. Die Körper erhalten einen hohen Grad abstrahierender Vereinfachung. Schiele »enthäutet« gleichsam seine Figuren auf beängstigende, bedrohliche Art, er legt Muskel- und Nervenstränge frei und sucht mit Hilfe »klinischer Befunde« einen synonymen Ausdruck für Seelenzustände zu gewinnen. Er verwendet Wirbelmotive, dornenartige Zacken und stacheldrahtähnliche Linienstrukturen als beunruhigende, bedrohliche Elemente.
Die wie denaturiert wirkenden Farben des Inkarnats und die eckig hervorspringenden Knochen des »Sitzenden Männeraktes (Selbstdarstellung)« (1910) suggerieren Auszehrung und Verfall. Ein in Gegenbewegungen komponierter »Hockender weiblicher Akt« (1910) mit klar durchgeführter Binnengliederung lässt den Körper ockergelb mit wenigen grünen und gelblichen Tönen hervortreten, während der Kopf im riskanten Farbkontrast zwischen dem Orange des Gesichts und dem Lilarot und Blau der Haare gehalten ist. Schieles »Lyriker« (1911) – die selbstbildnishaften Züge sind offensichtlich – leidet an der Welt, wird unter ihrer Last fast erdrückt. Der geneigte, wie eingepresst wirkende Kopf wird durch die aufwärtsstrebende rechte Hand und den entblößten Körper wie von einem Balken gestützt. Grotesk-unheimlich und armselig zugleich wirkt das »Selbstbildnis mit gesenktem Kopf« (1912) – der Kopf ist gebeugt, die Augen sind nach oben verdreht, so dass das Weiß der Augen hell im sonst dunklen Antlitz leuchtet. Die Figuren von 1914, dem Jahr des Kriegsausbruchs, gewinnen Plastik und Körperhaftigkeit durch gewagteste Formverkürzungen und -überschneidungen. Das »Liebespaar« von 1914/15 ist zu einer Bildsäule verschmolzen; die Erregung spiegelt sich in den ausfahrenden Vorsprüngen der Umrissverläufe beider Seiten wider. Dennoch bleiben tragische Vereinsamung und Isolierung vorherrschend, die auch körperliche »Umarmung« (1912) – Schiele hat den beiden einander umarmenden Figuren einen gemeinsamen Umriss gegeben – nicht zu überwinden vermag. Die Präsenz des Todes wird spürbar. Schon bei Rodin und Munch umarmte die Frau den Tod und lieferte sich ihm aus. Auch bei Schiele sind Kunst und Eros, Leben und Tod, Sehnsucht und Traum untrennbar miteinander verbunden.
Schiele hat keine Porträts im herkömmlichen Sinne geschaffen, sondern Eigenschaften der Porträtierten bis aufs Äußerste gesteigert. Der Wiedererkennungseffekt war gering, irgendwelche Gefälligkeiten ihnen gegenüber kamen nicht infrage. Schiele hat sich auch selbstkritisch als Dandy porträtiert, in vielerlei Varianten und Rollenbildern – bis hin zur Clownerie und Groteske. Dabei wird alles ausgerichtet auf die Geste, die ein wesentliches Merkmal in seinem Schaffen bildet. Die mitunter wie skelettiert wirkenden Hände haben in ihrer magischen Leblosigkeit eine besondere Funktion. Es geht Schiele immer um die mehrfache Erscheinung im Spiegelbild, nicht nur des Menschen, sondern auch der Innen- und Außenräume, wie seine Atelierbilder und Landschaften bezeugen. Vieldeutigkeit statt Eindeutigkeit, ein Schwebezustand anstelle der Schwerkraft ist seine Maxime.
Als Schieles Frau Edith im Sommer 1918 schwanger wurde, mischte sich in dieses Glück auch die Freude darüber, dass der lange Weltkrieg zu Ende ging. Aber Edith erkrankte unrettbar an jener Grippe, die als Epidemie Europa dezimierte. Schiele zeichnete ein liebevolles Porträt seiner sterbenden Frau. Der matte, angstvoll auf ihren Mann gerichtete Blick der Todkranken lässt seine letzte Zeichnung zu einem menschlich ergreifenden Dokument werden. Denn drei Tage nach ihrem Tode erlag auch er, 28 Jahre alt, der Epidemie.