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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wer bin ich? Auf den Spuren Egon Schieles

1910 stell­te er sich schrei­end, mit schmerz­haft auf­ge­ris­se­nem Mund dar, schräg in der Bild­ebe­ne, in jener zer­klüf­te­ten und doch so kor­rek­ten Umriss­li­nie, die die Hand­schrift des Künst­lers fast von Beginn an präg­te. Sei­ne ver­form­ten, nack­ten Selbst­bild­nis­se, die einen Zug zum Exhi­bi­tio­nis­mus nicht ver­leug­nen, spie­geln pani­sches Ent­set­zen und an Hyste­rie gren­zen­de Exi­stenz­angst wider. Nie­mand anders hat den Schrei der Zeit, den Schrei der Ver­ein­sa­mung und Ver­zweif­lung, die Wider­sprü­che und see­li­schen Span­nun­gen vor und wäh­rend des Ersten Welt­krie­ges so ein­ge­fan­gen wie der öster­rei­chi­sche Maler und Zeich­ner Egon Schie­le, der schon mit 28 Jah­ren von einer ver­hee­ren­den Grip­pe-Epi­de­mie dahin­ge­rafft wur­de. Vie­le sei­ner Dar­stel­lun­gen stam­men aus einem unmit­tel­ba­ren Erle­ben, sind Ankla­gen, Empö­rungs­schreie, mit denen der Künst­ler sich mit den Opfern iden­ti­fi­ziert, wenn er nicht ohne­hin selbst Opfer gewe­sen ist. In scho­nungs­lo­ser Offen­heit, die kei­ne Tabus kennt, wand­te er sich an den Mit­men­schen, woll­te er eige­ne Beun­ru­hi­gung auf ihn übertragen.

Der 1890 in Tulln an der Donau als Sohn eines auto­ri­tär herr­schen­den Bahn­be­triebs­amts­vor­stan­des gebo­re­ne Egon Schie­le hat­te wenig Lust auf die Schu­le und wid­me­te sich schon früh dem Zeich­nen und Aqua­rel­lie­ren. Nach­dem der Vater, kör­per­lich und gei­stig völ­lig zer­stört, gestor­ben war, konn­te Schie­le eine Aus­bil­dung an der Wie­ner Kunst­ge­wer­be­schu­le durch­set­zen. Franz von Stuck in Mün­chen wur­de sein Vor­bild, er nahm Kon­takt zur Wie­ner Werk­stät­te und zu dem von ihm ver­ehr­ten Gustav Klimt auf, der sich dann für Schie­les Fort­kom­men enga­gier­te. Aber im Unter­schied zu des­sen den Jugend­stil anzei­gen­der Orna­men­tik dräng­te Schie­le in sei­nen Akt­dar­stel­lun­gen und Por­träts zum Expres­sio­nis­mus hin und blieb trotz erster Aus­stel­lungs­er­fol­ge das enfant ter­ri­ble des Wie­ner Kunst­le­bens. Sei­ne Arbei­ten wur­den als »Aus­wüch­se eines kran­ken Gehirns« oder als Kari­ka­tu­ren ange­se­hen, er wur­de sogar zu Gefäng­nis­haft ver­ur­teilt, weil die ero­ti­schen Zeich­nun­gen in sei­nem Ate­lier »Jugend­li­chen zugäng­li­che Por­no­gra­phie« sei­en. Obwohl er in stän­di­gen finan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten leb­te und um sei­ne Exi­stenz als Künst­ler rin­gen muss­te, besaß er doch einen klei­nen Kreis von Samm­lern und För­de­rern, die sein Werk schätz­ten. Aber über die Gren­zen des Lan­des hin­aus sind sei­ne Arbei­ten erst in den 1950er/​1960er Jah­ren inter­na­tio­nal bekannt geworden.

Schie­le hat fast sein gan­zes Leben zwi­schen Wien und Nie­der­öster­reich ver­bracht, doch die süd­böh­mi­sche Stadt Kru­mau (heu­te Čes­ký Krum­l­ov, Tsche­chi­en), die Hei­mat­stadt sei­ner Mut­ter, kann­te er von Kind­heit an. In einer Schlei­fe der Mol­dau wie auf einer Insel gele­gen, hat die­se Renais­sance­stadt mit ihren alten Mau­ern, engen Gas­sen und inein­an­der geschach­tel­ten Häu­sern Schie­le zu wie­der­hol­ten Auf­ent­hal­ten ver­an­lasst. Hier sind vie­le sei­ner ein­drucks­voll­sten Stadt- und Land­schafts­bil­der ent­stan­den, so die einer Stadt­vi­si­on glei­chen­de »Tote Stadt« (1911), ein in beweg­ter Farb­ma­te­rie ein­ge­bet­te­ter und mit geheim­nis­vol­len Licht­re­fle­xen ver­se­he­ner Kru­mau­er Häu­ser­kom­plex, umflos­sen vom schwarz­blau­en Fluss, in stei­ler Drauf­sicht. In küh­ner Per­spek­ti­van­sicht zeigt er »Kru­mau an der Mol­dau« (1913/​14), zwar auf die Flä­che geglie­dert und doch eine räum­li­che Wir­kung der Häu­ser erzie­lend, indem er sie stu­fen­mä­ßig nach­ein­an­der auf­baut. So ent­fal­ten sie in ihren unter­schied­lich gefärb­ten Fas­sa­den unter dunk­len Dächern ein eigen­ar­ti­ges Leben, ja, neh­men sogar einen phy­sio­gno­mi­schen Cha­rak­ter an. In einem Renais­sance­ge­bäu­de der ehe­ma­li­gen städ­ti­schen Braue­rei befin­det sich das Egon Schie­le Art Cen­trum, das eine stän­di­ge Doku­men­ta­ti­on von Leben und Werk des Künst­lers sowie Expo­na­te aus sei­nem per­sön­li­chen Nach­lass zeigt.

Doch die welt­weit größ­te Schie­le-Samm­lung mit mehr als 200 Wer­ken ist im Leo­pold-Muse­um in Wien zu sehen, in der über­haupt die öster­rei­chi­sche Kunst der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts und der Moder­ne her­vor­ra­gend ver­tre­ten ist. Wun­der­bar kann man hier erken­nen, dass die die Zeich­nung bei Schie­le immer Vor­rang vor der Far­be hat, auch in sei­nen line­ar auf­ge­bau­ten men­schen­lee­ren Land­schaf­ten. Vor allem aber tritt das The­ma der Ero­tik in den Aqua­rel­len und Zeich­nun­gen viel stär­ker her­vor als in sei­nen Ölbil­dern. Wenn es auch in den frü­hen Por­träts und Figu­ren­dar­stel­lun­gen vie­le deko­ra­ti­ve Ele­men­te gibt, ist er dem Far­ben­rausch von Klimts Bild­nis­sen nicht gefolgt. Um 1910 gewin­nen düste­re, mor­bi­de Ele­men­te die Ober­hand. Sei­ne Figu­ren zeich­nen sich durch unge­wöhn­li­che Kör­per­hal­tun­gen, über­lan­ge Glied­ma­ßen oder auf­fal­len­de Gestik aus. Im Spie­gel wird das Selbst­bild­nis zur Mario­net­te und eröff­net damit neue Dimen­sio­nen. Die nack­ten Kör­per wir­ken durch die unna­tür­lich ver­krampf­ten Stel­lun­gen und die bru­ta­le Beto­nung der Geschlechts­tei­le noch heu­te bei­na­he absto­ßend auf den Betrach­ter. Feh­len­de Extre­mi­tä­ten, auf Tor­si redu­zier­te Kör­per domi­nie­ren. Trü­ben Tönun­gen wer­den grel­le, hef­ti­ge Far­ben ent­ge­gen­ge­setzt, die den Kon­trast ins Qual­vol­le stei­gern. Die Kör­per erhal­ten einen hohen Grad abstra­hie­ren­der Ver­ein­fa­chung. Schie­le »ent­häu­tet« gleich­sam sei­ne Figu­ren auf beäng­sti­gen­de, bedroh­li­che Art, er legt Mus­kel- und Ner­ven­strän­ge frei und sucht mit Hil­fe »kli­ni­scher Befun­de« einen syn­ony­men Aus­druck für See­len­zu­stän­de zu gewin­nen. Er ver­wen­det Wir­bel­mo­ti­ve, dor­nen­ar­ti­ge Zacken und sta­chel­draht­ähn­li­che Lini­en­struk­tu­ren als beun­ru­hi­gen­de, bedroh­li­che Elemente.

Die wie dena­tu­riert wir­ken­den Far­ben des Inkar­nats und die eckig her­vor­sprin­gen­den Kno­chen des »Sit­zen­den Män­ner­ak­tes (Selbst­dar­stel­lung)« (1910) sug­ge­rie­ren Aus­zeh­rung und Ver­fall. Ein in Gegen­be­we­gun­gen kom­po­nier­ter »Hocken­der weib­li­cher Akt« (1910) mit klar durch­ge­führ­ter Bin­nen­glie­de­rung lässt den Kör­per ocker­gelb mit weni­gen grü­nen und gelb­li­chen Tönen her­vor­tre­ten, wäh­rend der Kopf im ris­kan­ten Farb­kon­trast zwi­schen dem Oran­ge des Gesichts und dem Lila­rot und Blau der Haa­re gehal­ten ist. Schie­les »Lyri­ker« (1911) – die selbst­bild­nis­haf­ten Züge sind offen­sicht­lich – lei­det an der Welt, wird unter ihrer Last fast erdrückt. Der geneig­te, wie ein­ge­presst wir­ken­de Kopf wird durch die auf­wärts­stre­ben­de rech­te Hand und den ent­blöß­ten Kör­per wie von einem Bal­ken gestützt. Gro­tesk-unheim­lich und arm­se­lig zugleich wirkt das »Selbst­bild­nis mit gesenk­tem Kopf« (1912) – der Kopf ist gebeugt, die Augen sind nach oben ver­dreht, so dass das Weiß der Augen hell im sonst dunk­len Ant­litz leuch­tet. Die Figu­ren von 1914, dem Jahr des Kriegs­aus­bruchs, gewin­nen Pla­stik und Kör­per­haf­tig­keit durch gewag­te­ste Form­ver­kür­zun­gen und -über­schnei­dun­gen. Das »Lie­bes­paar« von 1914/​15 ist zu einer Bild­säu­le ver­schmol­zen; die Erre­gung spie­gelt sich in den aus­fah­ren­den Vor­sprün­gen der Umriss­ver­läu­fe bei­der Sei­ten wider. Den­noch blei­ben tra­gi­sche Ver­ein­sa­mung und Iso­lie­rung vor­herr­schend, die auch kör­per­li­che »Umar­mung« (1912) – Schie­le hat den bei­den ein­an­der umar­men­den Figu­ren einen gemein­sa­men Umriss gege­ben – nicht zu über­win­den ver­mag. Die Prä­senz des Todes wird spür­bar. Schon bei Rodin und Munch umarm­te die Frau den Tod und lie­fer­te sich ihm aus. Auch bei Schie­le sind Kunst und Eros, Leben und Tod, Sehn­sucht und Traum untrenn­bar mit­ein­an­der verbunden.

Schie­le hat kei­ne Por­träts im her­kömm­li­chen Sin­ne geschaf­fen, son­dern Eigen­schaf­ten der Por­trä­tier­ten bis aufs Äußer­ste gestei­gert. Der Wie­der­erken­nungs­ef­fekt war gering, irgend­wel­che Gefäl­lig­kei­ten ihnen gegen­über kamen nicht infra­ge. Schie­le hat sich auch selbst­kri­tisch als Dan­dy por­trä­tiert, in vie­ler­lei Vari­an­ten und Rol­len­bil­dern – bis hin zur Clow­ne­rie und Gro­tes­ke. Dabei wird alles aus­ge­rich­tet auf die Geste, die ein wesent­li­ches Merk­mal in sei­nem Schaf­fen bil­det. Die mit­un­ter wie ske­let­tiert wir­ken­den Hän­de haben in ihrer magi­schen Leb­lo­sig­keit eine beson­de­re Funk­ti­on. Es geht Schie­le immer um die mehr­fa­che Erschei­nung im Spie­gel­bild, nicht nur des Men­schen, son­dern auch der Innen- und Außen­räu­me, wie sei­ne Ate­lier­bil­der und Land­schaf­ten bezeu­gen. Viel­deu­tig­keit statt Ein­deu­tig­keit, ein Schwe­be­zu­stand anstel­le der Schwer­kraft ist sei­ne Maxime.

Als Schie­les Frau Edith im Som­mer 1918 schwan­ger wur­de, misch­te sich in die­ses Glück auch die Freu­de dar­über, dass der lan­ge Welt­krieg zu Ende ging. Aber Edith erkrank­te unrett­bar an jener Grip­pe, die als Epi­de­mie Euro­pa dezi­mier­te. Schie­le zeich­ne­te ein lie­be­vol­les Por­trät sei­ner ster­ben­den Frau. Der mat­te, angst­voll auf ihren Mann gerich­te­te Blick der Tod­kran­ken lässt sei­ne letz­te Zeich­nung zu einem mensch­lich ergrei­fen­den Doku­ment wer­den. Denn drei Tage nach ihrem Tode erlag auch er, 28 Jah­re alt, der Epidemie.