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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wenn Olaf, Robert und Annalena mal Recht haben

Könn­te es sein, dass der Olaf Scholz von Anfang der 1980er Jah­re immer noch mehr Wirk­lich­keit erfasst hat­te als die glei­che Per­son 40 Jah­re spä­ter? Aus­ge­rech­net 1984 wuss­te der dama­li­ge Jung­so­zia­list zur Auf­rü­stung in Euro­pa und zu deren Ursa­chen das Fol­gen­de zu berich­ten: »Aspek­te sozia­li­sti­scher Frie­dens­ar­beit« müss­ten beach­ten, dass die Rake­ten­sta­tio­nie­rung der USA Anfang der 1980er Jah­re in der BRD eine »zuneh­mend aggres­si­ve­re Stra­te­gie der USA« bewei­sen. Die »Ursa­che der Auf­rü­stung (sei) in der aggres­siv-impe­ria­li­sti­schen Nato-Stra­te­gie zu suchen« (Bert­ram Sauer/​Olaf Scholz: Aspek­te sozia­li­sti­scher Frie­dens­ar­beit, in: SPW 22, 1984, S. 85-89). Ist Scholz nun ein­fach klü­ger gewor­den, oder hat er sei­ne »Jugend­sün­den« schlicht ver­ges­sen? Das könn­te viel­leicht erklä­ren, wie­so ihm auch sonst vie­le Wider­sprü­che in der west­li­chen Welt und die kata­stro­pha­len Fol­gen der Sank­ti­ons­po­li­tik nicht mehr auf­fal­len: »Russ­land rui­nie­ren«, Waf­fen lie­fern, »egal was die Wäh­ler den­ken«. Da scheint der jun­ge Scholz doch um eini­ges klü­ger gewe­sen zu sein als der Alte.

Als der Grü­nen-Poli­ti­ker Robert Habeck im Jah­re 2021 noch nicht Bun­des­wirt­schafts­mi­ni­ster war, gab er über die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land unter der Regie­rung der Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel fol­gen­de Dia­gno­se zu Pro­to­koll: »Jeder Kreis­ver­band der Grü­nen ist bes­ser geführt als die­ses Land« (FAZ v. 27.3.2021). Das mag auch im Jah­re 2023 noch stim­men. Wobei auch die »Umwand­lung« einer Par­tei in ein atlan­ti­sches Lob­by­un­ter­neh­men mit ange­häng­ten »Fami­li­en­be­trie­ben« in den Mini­ste­ri­en einer etwas son­der­ba­ren Auf­fas­sung von »Füh­rung« ent­spre­chen dürf­te. In jedem Fall hat die Vor­ge­hens­wei­se – Krie­ge füh­ren, Waf­fen lie­fern, vor patri­ar­cha­len Dik­ta­to­ren buckeln, das Kli­ma und die Umwelt mit Frack­ing-Gas u. a. zer­stö­ren und mit Sank­tio­nen Kri­sen, Hun­ger und Flucht­grün­de för­dern –, bei gleich­zei­tig feh­len­der lin­ker Alter­na­ti­ven, der rech­ten AFD womög­lich die Hasen nur so in die Küche gelockt.

Vie­le Men­schen glau­ben, Deutsch­lands größ­te Diplo­ma­tin aller Zei­ten wür­de sich dau­ernd ver­has­peln. Doch das stimmt gar nicht. Noch im Wahl­kampf 2021 sag­te Anna­le­na Baer­bock wort­wört­lich: »Lasst uns gemein­sam die­ses Euro­pa ver­en­den!« (https://www.youtube.com/watch?v=wGRMjJHaNmU) Das ist viel­leicht ein biss­chen gebro­che­nes Deutsch, aber die­ses Wahl­ver­spre­chen scheint sie mit ihrer Regie­rung zumin­dest zu hal­ten. Neu­lich hat sie in Süd­afri­ka den »Speck der Hoff­nung« ent­deckt, als sie einen »Hoff­nungs­schim­mer« sehen woll­te (https://www.youtube.com/watch?v=SoXpGcAcz_g).

Somit wird sie für uns »für immer« die größ­te eng­lisch­spra­chi­ge deut­sche Diplo­ma­tin aller Zei­ten blei­ben – noch vor dem genia­len Bun­des­prä­si­den­ten und KZ-Archi­tek­ten Hein­rich Lüb­ke. »Für immer« kann man natür­lich nur die deut­sche Außen­han­dels­po­li­tik bestim­men, wenn man für »vier Jah­re« man­da­tiert ist (zum Ver­gleich: die Nazis woll­ten »nur« 1000 Jah­re regieren).

Immer häu­fi­ger haben immer mehr Men­schen, Staa­ten und Regie­run­gen in der Welt den Ein­druck, der sog. glo­ba­le Westen mache sich die Welt, wie sie ihm gefällt – und igno­rie­re dabei, dass gro­ße Tei­le des glo­ba­len Südens das anders sehen. Schon der frü­he­re US-Prä­si­dent Geor­ge W. Bush woll­te 2022 sei­ner gan­zen Abscheu gegen einen Angriffs­krieg Aus­druck ver­lei­hen. Doch statt »Ukrai­ne« sag­te er pein­li­cher­wei­se »Irak« und erin­ner­te die Zuhö­rer somit an sei­ne glor­reich­sten Hel­den­ta­ten im Nahen und Mitt­le­ren Osten. Mit hun­dert­tau­sen­den v. a. mus­li­mi­schen und ara­bi­schen Toten von Liby­en und Soma­lia über Syri­en und Irak bis nach Afgha­ni­stan und Paki­stan erreich­te der »Krieg gegen den Ter­ror« durch direk­te Aggres­sio­nen, Besat­zungs­re­gime und tag­täg­li­che Droh­nen-Gewalt – mit deut­scher Ram­stein-Hil­fe – eine unfass­bar hohe Opfer­zahl in der jewei­li­gen Zivil­be­völ­ke­rung, ohne dass auch nur ein deut­scher Regie­rungs­po­li­ti­ker die Ver­let­zung des Völ­ker­rechts bemän­gel­te. Der Jour­na­list Juli­an Assan­ge sitzt indes seit Jah­ren in einem Gefäng­nis, weil er eini­ge US-Kriegs­ver­bre­chen bekannt gemacht hat. Die Ver­bre­cher, die Auf­trag­ge­ber und ihre Kom­pli­zen ver­zei­hen ihm das nicht. Nun droht ihm als Austra­li­er die Aus­lie­fe­rung von Groß­bri­tan­ni­en in die USA, wäh­rend die mei­sten »wer­te­west­li­chen« Poli­ti­ker/-innen schwei­gen oder weg­schau­en und damit die Demo­kra­tie und das Völ­ker­recht verraten.

Man stel­le sich nur einen Moment lang vor, in den hie­si­gen Brei­ten­gra­den hät­ten nach einem der vie­len völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krie­ge und Besat­zungs­re­gime der USA ein­fluss­rei­che gesell­schaft­li­che Kräf­te ver­sucht, nicht nur einen anti-ame­ri­ka­ni­schen Wirt­schafts­krieg zu star­ten, son­dern zugleich jeg­li­che US-ame­ri­ka­ni­sche Wirt­schaft, Wis­sen­schaft sowie Wis­sen­schaft­ler/-innen, Kunst, Kul­tur, Musik, Lite­ra­tur, Spra­che, Phi­lo­so­phie, Fil­me, Sport­le­rin­nen und Sport­ler, Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, alles erdenk­lich US-Ame­ri­ka­ni­sche kol­lek­tiv aus allen Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten, Muse­en, Biblio­the­ken, Opern, Kon­zert­sä­len, Sport­sta­di­en, Radi­os, Fern­se­hen und jeg­li­cher Öffent­lich­keit zu ver­trei­ben. Wer in sol­chen Fäl­len zu Recht Anti­ame­ri­ka­nis­mus ver­mu­te­te und miss­bil­lig­te, müss­te eigent­lich den rus­so­pho­ben Cha­rak­ter vie­ler Boy­kott-Maß­nah­men gegen alles Rus­si­sche in der Gegen­wart eben­falls ableh­nen. Wer sich noch dar­über wun­der­te, dass bis vor kur­zem in einem angeb­lich zivi­li­sier­ten Rechts­staat nicht gegen Coro­na geimpf­te Men­schen unge­straft mit Hass und Het­ze in Poli­tik, Medi­en und Wis­sen­schaft über­zo­gen wer­den duf­ten (als aso­zia­le »Sozi­al­schäd­lin­ge«, FDP-Poli­ti­ker), kann bei der momen­ta­nen Behand­lung vie­ler Russ(inn)en und alles Rus­si­schen nur noch Scham emp­fin­den. Die an sich berech­tig­te, vor­ge­brach­te Kriegs­em­pö­rung seit dem 24. Febru­ar 2022 wäre dabei noch glaub­haf­ter, wenn sie auch die über 13.000 Kriegs­op­fer der Beschie­ßun­gen ost-ukrai­ni­scher Städ­te und Dör­fer im Don­bass durch das Kie­wer Mili­tär seit 2014 berück­sich­ti­gen würde.

Als der gegen­wär­ti­ge US-Prä­si­dent Joseph Biden kürz­lich von sich gab, dass »Putin im Irak« schei­tern wer­de, kor­ri­gier­te ihn kei­ner der Dut­zen­den von Haupt­stadt-Jour­na­li­sten um ihn her­um. Dage­gen reagier­te die rus­si­sche Außen­amts­spre­che­rin Sacha­rowa sofort humor­voll irri­tiert. Sie wis­se gar nicht, dass die Rus­sen im Irak sei­en – sie dach­te immer, man wäre in Viet­nam. Inter­es­sant ist auch hier, dass Biden öffent­lich sagt, Putin habe prak­tisch die gan­ze zivi­li­sier­te Welt gegen sich (»nicht nur Nato, EU, Japan, son­dern gan­ze 40 Staa­ten«). Die von ihm ver­ges­se­nen rest­li­chen 155 Staa­ten der Ver­ein­ten Natio­nen erschie­nen ihm nicht der Rede wert.

Das erin­nert ein wenig an den EU-Außen­be­auf­trag­ten Josep Bor­rell und sei­ne neo-kolo­ni­al klin­gen­de Aus­sa­ge, die EU sei ein »Gar­ten« – und drum­her­um gäbe es nur »wil­den Dschun­gel«. Auch für die Nach­fah­ren der von den euro­päi­schen Kolo­ni­sa­to­ren aus­ge­raub­ten und z. T. aus­ge­rot­te­ten Urein­woh­ner wird es sicher­lich von Inter­es­se sein, vom EU-Chef­di­plo­mat Bor­rell zu hören: »Wie die Kon­qui­sta­do­ren müs­sen wir eine neue Welt erfinden.«

Der­weil geht das gegen­wär­tig popu­lär­ste Nato-Nar­ra­tiv in etwa so: »Wenn die Rus­sen auf­hö­ren zu kämp­fen, ist der Krieg zu Ende – wenn die Ukrai­ner auf­hö­ren zu kämp­fen, ist die Ukrai­ne zu Ende.« Der Preis die­ser – auch von Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz regel­mä­ßig bemüh­ten – Losung lau­tet, dass bis zum letz­ten Ukrai­ner und bis zur Ver­wand­lung des gan­zen Lan­des in ein Schlacht­feld gekämpft wer­den kann und soll. Das nen­nen Bun­des­kanz­ler Scholz und ande­re dann »Logik«, wäh­rend sie alle Kritiker/​innen ent­we­der als naiv oder als kreml-gekauf­te Idio­ten dar­stel­len. Ein­mal ganz abge­se­hen von der Ent­ste­hungs­ge­schich­te die­ses Krie­ges, den Kon­tex­ten, der vor­he­ri­gen abspra­che-wid­ri­gen Nato-Expan­si­on, den Rake­ten-Sta­tio­nie­run­gen nahe der rus­si­schen Gren­ze, dem Stell­ver­tre­ter­kriegs-Cha­rak­ter und der Bom­bar­die­rung der Ost­ukrai­ne durch Kie­wer Trup­pen seit dem ver­fas­sungs­wid­ri­gen Putsch von 2014: Ein Waf­fen­still­stand und Frie­dens­ver­hand­lun­gen bedeu­ten ja gera­de, dass zu die­sem Zeit­punkt nicht (mehr) gekämpft wird. Die Ver­hand­lun­gen zum Kriegs­ge­fan­ge­nen­aus­tausch, zum Getrei­de-Abkom­men sowie die Vor-Ent­wür­fe zu einem Frie­dens­ab­kom­men von März/​April 2022 (das von west­li­chen Mäch­ten tor­pe­diert wur­de) bewei­sen, dass ver­nünf­ti­ge Ver­hand­lun­gen mög­lich sind und das all­täg­li­che Mas­sa­ker been­det wer­den kann.

Statt sich unter­des­sen auf die Dees­ka­la­ti­on, Demi­li­ta­ri­sie­rung und Zivi­li­sie­rung inter­na­tio­na­ler Bezie­hun­gen und Kon­flik­te zu kon­zen­trie­ren, tritt die höch­ste deut­sche Diplo­ma­tin, Bun­des­au­ßen­mi­ni­ste­rin Anna­le­na Baer­bock, im Früh­jahr 2023 in einer Aache­ner Kar­ne­vals­sit­zung auf. Sie berich­tet stolz, dass sie eigent­lich im »Leo­par­den«-Kostüm ver­klei­det erschei­nen woll­te, aber Angst hat­te, dass ihr dar­auf­hin das Bun­des­kanz­ler­amt drei Wochen Aus­lands­rei­se­ver­bot ertei­le. Das anwe­sen­de Publi­kum aus den höhe­ren Eta­gen der Gesell­schaft hat­te einen Mords-Spaß.

Und Anfang Juni 2023 war es dann end­lich so weit. Das Bou­le­vard­blatt BILD brach­te alte Wehr­machts-Nost­al­gi­ker und ande­re Rus­sen-Has­ser zum Schwär­men. Dort hieß es in gro­ßen Let­tern: »Die gan­ze Welt war­te­te dar­auf. Jetzt ist es so weit: die Ukrai­ne stößt mit deut­schen Leo­pard-2-Pan­zern gegen die Rus­sen vor!« (BILD.de v. 8.6.2023) Die­se Bild-Über­schrift bie­tet die gewohn­ten Fake News des glo­ba­len Nor­dens: Die gan­ze Welt habe den Ein­satz deut­scher Pan­zer erwar­tet – obwohl 80 Pro­zent der Welt gegen Waf­fen­lie­fe­run­gen und Sank­ti­ons­po­li­tik sind.

Anhand quan­ti­fi­zier­ter Dis­kurs­ana­ly­sen gro­ßer west­li­cher Infor­ma­ti­ons­me­di­en wie Tages­schau, SPIEGEL, New York Times, Le Mon­de, CNN etc. kann der Gei­stes­wis­sen­schaft­ler Ladis­laus Lude­scher nach­wei­sen, dass der größ­te Teil der Mensch­heit und deren The­men wie Pro­ble­me regel­mä­ßig seit Jah­ren prak­tisch kei­ner­lei Nie­der­schlag in den Nach­rich­ten­or­ga­nen des glo­ba­len Nor­dens fin­det. »Vor dem Hin­ter­grund, dass etwa 85 Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung in Län­dern des Glo­ba­len Südens leben, ergibt sich ein Bei­trags­sche­ma mit einem umge­kehrt nega­ti­ven Ver­hält­nis. Poin­tiert gesagt: 15 Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung genie­ßen mehr als 85 Pro­zent der media­len Auf­merk­sam­keit, wäh­rend 85 Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung weni­ger als 15 Pro­zent der media­len Wahr­neh­mung erhal­ten« (Telepolis.de v. 22.4.2023).

Wenn dann der deut­sche Kanz­ler oder die deut­sche Außen­mi­ni­ste­rin nach Chi­le, Bra­si­li­en, Süd­afri­ka oder Viet­nam flie­gen und den dor­ti­gen Regie­run­gen »erklä­ren«, dass gera­de ein noch nie dage­we­se­nes, schreck­li­ches Ter­ror­re­gime einen seit dem Zwei­ten Welt­krieg angeb­lich erst­ma­li­gen Angriffs-Krieg führt und sie, die süd­li­chen Län­der, des­halb gefäl­ligst sofort alle Sank­tio­nen beschlie­ßen und Waf­fen gegen Russ­land lie­fern soll­ten, wird es schwie­rig. Denn die Bevöl­ke­rung und die Regie­run­gen vie­ler Län­der des glo­ba­len Südens haben meist nicht so ein schlech­tes histo­ri­sches Gedächt­nis wie deut­sche Regie­rungs­mit­glie­der. Sie kön­nen sich noch gut an die Unter­stüt­zung bun­des­deut­scher Regie­run­gen und Indu­strie­grup­pen für die US-Bom­ben­krie­ge in Viet­nam und Laos sowie die bun­des­deut­sche Unter­stüt­zung für die Mili­tär­dik­ta­tu­ren und Ter­ror­re­gime in ihren und vie­len ande­ren Län­dern z. B. in den 1960er- und 1970er-Jah­ren erin­nern. Doch da war Anna­le­na Baer­bock ja noch nicht gebo­ren, und Olaf Scholz lei­det nicht nur in CumEx-Fra­gen unter emp­find­li­chen Gedächtnisschwierigkeiten.

Somit hät­ten der jun­ge Olaf Scholz von Anfang der 1980er Jah­re, der oppo­si­tio­nel­le Robert Habeck und die Wahl­kämp­fe­rin Anna­le­na Baer­bock wenig­stens in ein paar Punk­ten Recht behalten.