Könnte es sein, dass der Olaf Scholz von Anfang der 1980er Jahre immer noch mehr Wirklichkeit erfasst hatte als die gleiche Person 40 Jahre später? Ausgerechnet 1984 wusste der damalige Jungsozialist zur Aufrüstung in Europa und zu deren Ursachen das Folgende zu berichten: »Aspekte sozialistischer Friedensarbeit« müssten beachten, dass die Raketenstationierung der USA Anfang der 1980er Jahre in der BRD eine »zunehmend aggressivere Strategie der USA« beweisen. Die »Ursache der Aufrüstung (sei) in der aggressiv-imperialistischen Nato-Strategie zu suchen« (Bertram Sauer/Olaf Scholz: Aspekte sozialistischer Friedensarbeit, in: SPW 22, 1984, S. 85-89). Ist Scholz nun einfach klüger geworden, oder hat er seine »Jugendsünden« schlicht vergessen? Das könnte vielleicht erklären, wieso ihm auch sonst viele Widersprüche in der westlichen Welt und die katastrophalen Folgen der Sanktionspolitik nicht mehr auffallen: »Russland ruinieren«, Waffen liefern, »egal was die Wähler denken«. Da scheint der junge Scholz doch um einiges klüger gewesen zu sein als der Alte.
Als der Grünen-Politiker Robert Habeck im Jahre 2021 noch nicht Bundeswirtschaftsminister war, gab er über die Bundesrepublik Deutschland unter der Regierung der Bundeskanzlerin Angela Merkel folgende Diagnose zu Protokoll: »Jeder Kreisverband der Grünen ist besser geführt als dieses Land« (FAZ v. 27.3.2021). Das mag auch im Jahre 2023 noch stimmen. Wobei auch die »Umwandlung« einer Partei in ein atlantisches Lobbyunternehmen mit angehängten »Familienbetrieben« in den Ministerien einer etwas sonderbaren Auffassung von »Führung« entsprechen dürfte. In jedem Fall hat die Vorgehensweise – Kriege führen, Waffen liefern, vor patriarchalen Diktatoren buckeln, das Klima und die Umwelt mit Fracking-Gas u. a. zerstören und mit Sanktionen Krisen, Hunger und Fluchtgründe fördern –, bei gleichzeitig fehlender linker Alternativen, der rechten AFD womöglich die Hasen nur so in die Küche gelockt.
Viele Menschen glauben, Deutschlands größte Diplomatin aller Zeiten würde sich dauernd verhaspeln. Doch das stimmt gar nicht. Noch im Wahlkampf 2021 sagte Annalena Baerbock wortwörtlich: »Lasst uns gemeinsam dieses Europa verenden!« (https://www.youtube.com/watch?v=wGRMjJHaNmU) Das ist vielleicht ein bisschen gebrochenes Deutsch, aber dieses Wahlversprechen scheint sie mit ihrer Regierung zumindest zu halten. Neulich hat sie in Südafrika den »Speck der Hoffnung« entdeckt, als sie einen »Hoffnungsschimmer« sehen wollte (https://www.youtube.com/watch?v=SoXpGcAcz_g).
Somit wird sie für uns »für immer« die größte englischsprachige deutsche Diplomatin aller Zeiten bleiben – noch vor dem genialen Bundespräsidenten und KZ-Architekten Heinrich Lübke. »Für immer« kann man natürlich nur die deutsche Außenhandelspolitik bestimmen, wenn man für »vier Jahre« mandatiert ist (zum Vergleich: die Nazis wollten »nur« 1000 Jahre regieren).
Immer häufiger haben immer mehr Menschen, Staaten und Regierungen in der Welt den Eindruck, der sog. globale Westen mache sich die Welt, wie sie ihm gefällt – und ignoriere dabei, dass große Teile des globalen Südens das anders sehen. Schon der frühere US-Präsident George W. Bush wollte 2022 seiner ganzen Abscheu gegen einen Angriffskrieg Ausdruck verleihen. Doch statt »Ukraine« sagte er peinlicherweise »Irak« und erinnerte die Zuhörer somit an seine glorreichsten Heldentaten im Nahen und Mittleren Osten. Mit hunderttausenden v. a. muslimischen und arabischen Toten von Libyen und Somalia über Syrien und Irak bis nach Afghanistan und Pakistan erreichte der »Krieg gegen den Terror« durch direkte Aggressionen, Besatzungsregime und tagtägliche Drohnen-Gewalt – mit deutscher Ramstein-Hilfe – eine unfassbar hohe Opferzahl in der jeweiligen Zivilbevölkerung, ohne dass auch nur ein deutscher Regierungspolitiker die Verletzung des Völkerrechts bemängelte. Der Journalist Julian Assange sitzt indes seit Jahren in einem Gefängnis, weil er einige US-Kriegsverbrechen bekannt gemacht hat. Die Verbrecher, die Auftraggeber und ihre Komplizen verzeihen ihm das nicht. Nun droht ihm als Australier die Auslieferung von Großbritannien in die USA, während die meisten »wertewestlichen« Politiker/-innen schweigen oder wegschauen und damit die Demokratie und das Völkerrecht verraten.
Man stelle sich nur einen Moment lang vor, in den hiesigen Breitengraden hätten nach einem der vielen völkerrechtswidrigen Angriffskriege und Besatzungsregime der USA einflussreiche gesellschaftliche Kräfte versucht, nicht nur einen anti-amerikanischen Wirtschaftskrieg zu starten, sondern zugleich jegliche US-amerikanische Wirtschaft, Wissenschaft sowie Wissenschaftler/-innen, Kunst, Kultur, Musik, Literatur, Sprache, Philosophie, Filme, Sportlerinnen und Sportler, Bürgerinnen und Bürger, alles erdenklich US-Amerikanische kollektiv aus allen Schulen, Universitäten, Museen, Bibliotheken, Opern, Konzertsälen, Sportstadien, Radios, Fernsehen und jeglicher Öffentlichkeit zu vertreiben. Wer in solchen Fällen zu Recht Antiamerikanismus vermutete und missbilligte, müsste eigentlich den russophoben Charakter vieler Boykott-Maßnahmen gegen alles Russische in der Gegenwart ebenfalls ablehnen. Wer sich noch darüber wunderte, dass bis vor kurzem in einem angeblich zivilisierten Rechtsstaat nicht gegen Corona geimpfte Menschen ungestraft mit Hass und Hetze in Politik, Medien und Wissenschaft überzogen werden duften (als asoziale »Sozialschädlinge«, FDP-Politiker), kann bei der momentanen Behandlung vieler Russ(inn)en und alles Russischen nur noch Scham empfinden. Die an sich berechtigte, vorgebrachte Kriegsempörung seit dem 24. Februar 2022 wäre dabei noch glaubhafter, wenn sie auch die über 13.000 Kriegsopfer der Beschießungen ost-ukrainischer Städte und Dörfer im Donbass durch das Kiewer Militär seit 2014 berücksichtigen würde.
Als der gegenwärtige US-Präsident Joseph Biden kürzlich von sich gab, dass »Putin im Irak« scheitern werde, korrigierte ihn keiner der Dutzenden von Hauptstadt-Journalisten um ihn herum. Dagegen reagierte die russische Außenamtssprecherin Sacharowa sofort humorvoll irritiert. Sie wisse gar nicht, dass die Russen im Irak seien – sie dachte immer, man wäre in Vietnam. Interessant ist auch hier, dass Biden öffentlich sagt, Putin habe praktisch die ganze zivilisierte Welt gegen sich (»nicht nur Nato, EU, Japan, sondern ganze 40 Staaten«). Die von ihm vergessenen restlichen 155 Staaten der Vereinten Nationen erschienen ihm nicht der Rede wert.
Das erinnert ein wenig an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und seine neo-kolonial klingende Aussage, die EU sei ein »Garten« – und drumherum gäbe es nur »wilden Dschungel«. Auch für die Nachfahren der von den europäischen Kolonisatoren ausgeraubten und z. T. ausgerotteten Ureinwohner wird es sicherlich von Interesse sein, vom EU-Chefdiplomat Borrell zu hören: »Wie die Konquistadoren müssen wir eine neue Welt erfinden.«
Derweil geht das gegenwärtig populärste Nato-Narrativ in etwa so: »Wenn die Russen aufhören zu kämpfen, ist der Krieg zu Ende – wenn die Ukrainer aufhören zu kämpfen, ist die Ukraine zu Ende.« Der Preis dieser – auch von Bundeskanzler Olaf Scholz regelmäßig bemühten – Losung lautet, dass bis zum letzten Ukrainer und bis zur Verwandlung des ganzen Landes in ein Schlachtfeld gekämpft werden kann und soll. Das nennen Bundeskanzler Scholz und andere dann »Logik«, während sie alle Kritiker/innen entweder als naiv oder als kreml-gekaufte Idioten darstellen. Einmal ganz abgesehen von der Entstehungsgeschichte dieses Krieges, den Kontexten, der vorherigen absprache-widrigen Nato-Expansion, den Raketen-Stationierungen nahe der russischen Grenze, dem Stellvertreterkriegs-Charakter und der Bombardierung der Ostukraine durch Kiewer Truppen seit dem verfassungswidrigen Putsch von 2014: Ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bedeuten ja gerade, dass zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) gekämpft wird. Die Verhandlungen zum Kriegsgefangenenaustausch, zum Getreide-Abkommen sowie die Vor-Entwürfe zu einem Friedensabkommen von März/April 2022 (das von westlichen Mächten torpediert wurde) beweisen, dass vernünftige Verhandlungen möglich sind und das alltägliche Massaker beendet werden kann.
Statt sich unterdessen auf die Deeskalation, Demilitarisierung und Zivilisierung internationaler Beziehungen und Konflikte zu konzentrieren, tritt die höchste deutsche Diplomatin, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, im Frühjahr 2023 in einer Aachener Karnevalssitzung auf. Sie berichtet stolz, dass sie eigentlich im »Leoparden«-Kostüm verkleidet erscheinen wollte, aber Angst hatte, dass ihr daraufhin das Bundeskanzleramt drei Wochen Auslandsreiseverbot erteile. Das anwesende Publikum aus den höheren Etagen der Gesellschaft hatte einen Mords-Spaß.
Und Anfang Juni 2023 war es dann endlich so weit. Das Boulevardblatt BILD brachte alte Wehrmachts-Nostalgiker und andere Russen-Hasser zum Schwärmen. Dort hieß es in großen Lettern: »Die ganze Welt wartete darauf. Jetzt ist es so weit: die Ukraine stößt mit deutschen Leopard-2-Panzern gegen die Russen vor!« (BILD.de v. 8.6.2023) Diese Bild-Überschrift bietet die gewohnten Fake News des globalen Nordens: Die ganze Welt habe den Einsatz deutscher Panzer erwartet – obwohl 80 Prozent der Welt gegen Waffenlieferungen und Sanktionspolitik sind.
Anhand quantifizierter Diskursanalysen großer westlicher Informationsmedien wie Tagesschau, SPIEGEL, New York Times, Le Monde, CNN etc. kann der Geisteswissenschaftler Ladislaus Ludescher nachweisen, dass der größte Teil der Menschheit und deren Themen wie Probleme regelmäßig seit Jahren praktisch keinerlei Niederschlag in den Nachrichtenorganen des globalen Nordens findet. »Vor dem Hintergrund, dass etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern des Globalen Südens leben, ergibt sich ein Beitragsschema mit einem umgekehrt negativen Verhältnis. Pointiert gesagt: 15 Prozent der Weltbevölkerung genießen mehr als 85 Prozent der medialen Aufmerksamkeit, während 85 Prozent der Weltbevölkerung weniger als 15 Prozent der medialen Wahrnehmung erhalten« (Telepolis.de v. 22.4.2023).
Wenn dann der deutsche Kanzler oder die deutsche Außenministerin nach Chile, Brasilien, Südafrika oder Vietnam fliegen und den dortigen Regierungen »erklären«, dass gerade ein noch nie dagewesenes, schreckliches Terrorregime einen seit dem Zweiten Weltkrieg angeblich erstmaligen Angriffs-Krieg führt und sie, die südlichen Länder, deshalb gefälligst sofort alle Sanktionen beschließen und Waffen gegen Russland liefern sollten, wird es schwierig. Denn die Bevölkerung und die Regierungen vieler Länder des globalen Südens haben meist nicht so ein schlechtes historisches Gedächtnis wie deutsche Regierungsmitglieder. Sie können sich noch gut an die Unterstützung bundesdeutscher Regierungen und Industriegruppen für die US-Bombenkriege in Vietnam und Laos sowie die bundesdeutsche Unterstützung für die Militärdiktaturen und Terrorregime in ihren und vielen anderen Ländern z. B. in den 1960er- und 1970er-Jahren erinnern. Doch da war Annalena Baerbock ja noch nicht geboren, und Olaf Scholz leidet nicht nur in CumEx-Fragen unter empfindlichen Gedächtnisschwierigkeiten.
Somit hätten der junge Olaf Scholz von Anfang der 1980er Jahre, der oppositionelle Robert Habeck und die Wahlkämpferin Annalena Baerbock wenigstens in ein paar Punkten Recht behalten.