»Heutzutage kommen die Touristen nicht wegen kultureller und historischer Sehenswürdigkeiten nach Nürnberg (die finden sich jetzt unter Schutt und Asche), auch nicht wegen der berühmten Nürnberger Lebkuchen. Heute steht Nürnberg im Mittelpunkt weltweiter Aufmerksamkeit, weil hier 23 Hauptverbrecher des Nazi-Regimes vor Gericht stehen.« Es sind Sätze aus der Reportage »Vor dem Prozess« des chinesischen Kriegsberichterstatters Xiao Quian. Uwe Neumahr hat sie ausgegraben für sein äußerst lesenswertes und anschaulich geschriebenes erzählendes Sachbuch »Das Schloss der Schriftsteller«.
Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage, wo die Einheit von Partei und Staat demonstriert wurde, wo Massenkundgebungen mit ihren Fahnenwäldern, »Lichtdomen« und künstlerischem Schnickschnack zu kultischen Feiern gerieten, auf dieses Nürnberg hatten sich die vier Siegermächte Frankreich, Großbritannien, USA und UdSSR nach der Bildung des Internationalen Militärgerichtshofs geeinigt, um den »Hauptkriegsverbrechern« den Prozess zu machen.
Der Prozess gegen führende Politiker, Beamte, Funktionäre der NSDAP und gegen Generäle fand zwischen dem 20. November 1945 und dem 1. Oktober 1946 statt. Alle waren nach vier hauptsächlichen Punkten angeklagt: Gemeinsamer Plan oder Verschwörung; Verbrechen gegen den Frieden; Kriegsverbrechen; Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Am Ende des Prozesses standen zwölf Todesurteile: gegen Hitlers »Stellvertreter« Martin Bormann (in Abwesenheit), gegen Generalgouverneur Hans Frank, Reichsminister Wilhelm Frick, Reichsmarschall Hermann Göring, Generaloberst Alfred Jodl, gegen den Chef des Reichssicherheitshauptamts Ernst Kaltenbrunner, gegen Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, gegen Außenminister Joachim von Ribbentrop, Reichsminister Alfred Rosenberg, Reichsverteidigungskommissar Fritz Sauckel, SS-Obergruppenführer Arthur Seyß-Inquart und gegen Julius Streicher, Gruppenführer SA.
Göring beging vor der Hinrichtung Selbstmord, die anderen wurden 14 Tage nach Prozessende gehängt. Nicht vor Gericht standen der Hauptverantwortliche Adolf Hitler und zwei seiner wichtigsten Helfer, Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels und Reichsführer SS Heinrich Himmler. Das verbrecherische Trio hatte Selbstmord begangen. Auch Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP, hatte sich dem Prozess durch Selbstmord entzogen.
Als am 20. November 1945 im Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher begann, richteten sich die Augen der Weltöffentlichkeit auf die Stadt an der Pegnitz. Damit die Welt von dem Unerhörten und Unfassbaren erfahren konnte, waren international berühmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Journalisten und Journalistinnen, Reporterinnen und Reporter angereist sowie Personen, die später einmal Berühmtheit erlangen sollten, wie zum Beispiel Wolfgang Hildesheimer, Robert Jungk, Peter de Mendelsohn und Gregor von Rezzori. Sowie: Willy Brandt, der spätere SPD-Vorsitzende und Bundeskanzler, als Korrespondent der Osloer Zeitung Arbeiterbladet, und, auf russischem Ticket: Markus Wolf, der spätere Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR, der eben diesen Willy Brandt im Mai 1974 mit der Spionageaffäre Guillaume zu Fall bringen sollte. 1945 war er Korrespondent des Berliner Rundfunks und der Berliner Zeitung.
Es war die Crème de la Crème an Berichterstatterinnen und Berichterstattern, die nach Nürnberg gekommen war, unter ihnen der deutsche Schriftsteller Erich Kästner; die aus der USA-Emigration zurückgekehrte Schriftstellerin Erika Mann; der amerikanische Schriftsteller John dos Passos, schon damals ein berühmter Kollege von Ernest Hemingway, William Faulkner und F. Scott Fitzgerald; die amerikanische Journalistin Martha Gellhorn; die britische Schriftstellerin Rebecca West; Augusto Roa Bastos, der heute als größter Romanautor Paraguays gilt; aus Russland der Schriftsteller Ilja Ehrenburg; die russisch-französische Schriftstellerin Elsa Triolet, Ehefrau des berühmten Louis Aragon; und, wie erwähnt, aus China Kriegsberichterstatter Xiao Quian: »Weltliteratur traf auf Weltgeschichte.«
Neumahr, promovierter Romanist und Germanist, beschreibt, wie diese Riege weltberühmter Schriftsteller, Journalisten und Reporter »im Gerichtssaal den Verbrechern ins Angesicht blickte, die sich für den Krieg und den Holocaust verantworten mussten«, wie sie, während sie »in den Abgrund der Geschichte sahen und über Schuld, Sühne und Gerechtigkeit nachdachten, nicht nur sich veränderten, sondern auch die Art, wie sie schrieben«. Neumahr wirft einen Blick auf die internationale Resonanz, auf einzelne Reporterinnen und Reporter nebst ihrer Berichterstattung sowie auf die Diskussionen im Press Camp, die sich auch vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Krieges entwickelten. Und er registriert die kritischen Stimmen zum Nürnberger Prozess. Den einen war es zu viel Siegerjustiz, anderen ging es nicht weit genug, sie hätten gern im Sinne einer Kollektivschuld das ganze deutsche Volk auf der Anklagebank gesehen.
Es waren mehrere hundert Pressevertreter, die den Prozess verfolgten und darüber berichteten. Ihnen hatten die Besatzungsbehörden in Stein, einer nahe Nürnberg gelegenen Ortschaft, ein internationales Press Camp eingerichtet. Kurzerhand war zu diesem Zweck das Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell beschlagnahmt worden, das den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden hatte. Das Press Camp war Herberge und Arbeitsstätte zugleich. Es wurde bis zum Ende der Nürnberger Nachfolgeprozesse 1949 aufrechterhalten.
Hier, »im Mikrokosmos des Faber-Schlosses, trafen Exil-Rückkehrer auf Überlebende des Holocaust, kriegserfahrene Offiziere auf Résistance-Kämpfer, Kommunisten auf Vertreter westlicher Medienkonzerne, Frontberichterstatter auf extravagante Starreporter. Man schlief auf Feldbetten und begegnete sich in der Bar, im Salon, im Spielzimmer und im Kino, die die Alliierten in der globalen Herberge eingerichtet hatten«.
Tagsüber sahen sich die Prozessbeobachter mit den Verbrechen konfrontiert, »mit Bildern aus Konzentrationslagern, von Massenerschießungen und den Aussagen der Opferzeugen«. Abends, schreibt Neumahr, »betäubten sich viele mit Alkohol, spät in der Nacht fielen alle Schranken, man tanzte miteinander und trank«.
Uwe Neumahr hat ein facetten- und anekdotenreiches empfehlenswertes Buch vorgelegt. Es gilt schon jetzt, ein halbes Jahr nach seinem Erscheinen, als ein Stück Zeit- und Literaturgeschichte.
Postskriptum: Martha Gellhorn hat fast 50 Jahre lang von nahezu jedem Schlachtfeld der Erde berichtet. Im Schweizer Dörlemann Verlag sind ihre Ausgewählten Werke neu oder erstmals auf Deutsch erschienen. In Ossietzky 4/2014 habe ich die beiden Bände »Die Reisen mit mir und einem Anderen« und »Das Gesicht des Krieges« vorgestellt. Das zuletzt genannte Buch enthält ihre zwischen 1937 und 1987 entstandenen Kriegs-Reportagen, darunter »Das deutsche Volk« (April 1945) und »Dachau« (Mai 1945). Der Band schließt mit einem Zitat aus dem Schlussplädoyer des britischen Hauptanklägers beim Nürnberger Prozess: »Der Staat und das Gesetz sind für Menschen gemacht, damit diese durch sie ein Leben in stärkerer Erfüllung erreichen können, ein höheres Endziel und größere Würde.« Martha Gellhorn fügt hinzu: »Der Staat hat bei seiner Aufgabe versagt: Statt den Menschen ein Leben stärkerer Erfüllung zu bieten, hat er sie in ein Leben ständiger Bedrohung geführt. Es muss eine bessere Art geben, die Geschicke der Welt zu lenken. Sorgen wir dafür, dass sie Wirklichkeit wird.«
Womit wir in der Gegenwart angelangt wären.
Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller – Nürnberg ’46. Treffen am Abgrund, Verlag C.H. Beck, München 2023, 304 S., mit 31 Abbildungen, 26 €.