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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Weltliteratur traf auf Weltgeschichte

»Heut­zu­ta­ge kom­men die Tou­ri­sten nicht wegen kul­tu­rel­ler und histo­ri­scher Sehens­wür­dig­kei­ten nach Nürn­berg (die fin­den sich jetzt unter Schutt und Asche), auch nicht wegen der berühm­ten Nürn­ber­ger Leb­ku­chen. Heu­te steht Nürn­berg im Mit­tel­punkt welt­wei­ter Auf­merk­sam­keit, weil hier 23 Haupt­ver­bre­cher des Nazi-Regimes vor Gericht ste­hen.« Es sind Sät­ze aus der Repor­ta­ge »Vor dem Pro­zess« des chi­ne­si­schen Kriegs­be­richt­erstat­ters Xiao Qui­an. Uwe Neu­mahr hat sie aus­ge­gra­ben für sein äußerst lesens­wer­tes und anschau­lich geschrie­be­nes erzäh­len­des Sach­buch »Das Schloss der Schriftsteller«.

Nürn­berg, die Stadt der Reichs­par­tei­ta­ge, wo die Ein­heit von Par­tei und Staat demon­striert wur­de, wo Mas­sen­kund­ge­bun­gen mit ihren Fah­nen­wäl­dern, »Licht­do­men« und künst­le­ri­schem Schnick­schnack zu kul­ti­schen Fei­ern gerie­ten, auf die­ses Nürn­berg hat­ten sich die vier Sie­ger­mäch­te Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, USA und UdSSR nach der Bil­dung des Inter­na­tio­na­len Mili­tär­ge­richts­hofs geei­nigt, um den »Haupt­kriegs­ver­bre­chern« den Pro­zess zu machen.

Der Pro­zess gegen füh­ren­de Poli­ti­ker, Beam­te, Funk­tio­nä­re der NSDAP und gegen Gene­rä­le fand zwi­schen dem 20. Novem­ber 1945 und dem 1. Okto­ber 1946 statt. Alle waren nach vier haupt­säch­li­chen Punk­ten ange­klagt: Gemein­sa­mer Plan oder Ver­schwö­rung; Ver­bre­chen gegen den Frie­den; Kriegs­ver­bre­chen; Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit. Am Ende des Pro­zes­ses stan­den zwölf Todes­ur­tei­le: gegen Hit­lers »Stell­ver­tre­ter« Mar­tin Bor­mann (in Abwe­sen­heit), gegen Gene­ral­gou­ver­neur Hans Frank, Reichs­mi­ni­ster Wil­helm Frick, Reichs­mar­schall Her­mann Göring, Gene­ral­oberst Alfred Jodl, gegen den Chef des Reichs­si­cher­heits­haupt­amts Ernst Kal­ten­brun­ner, gegen Gene­ral­feld­mar­schall Wil­helm Kei­tel, gegen Außen­mi­ni­ster Joa­chim von Rib­ben­trop, Reichs­mi­ni­ster Alfred Rosen­berg, Reichs­ver­tei­di­gungs­kom­mis­sar Fritz Sau­ckel, SS-Ober­grup­pen­füh­rer Arthur Seyß-Inquart und gegen Juli­us Strei­cher, Grup­pen­füh­rer SA.

Göring beging vor der Hin­rich­tung Selbst­mord, die ande­ren wur­den 14 Tage nach Pro­zess­ende gehängt. Nicht vor Gericht stan­den der Haupt­ver­ant­wort­li­che Adolf Hit­ler und zwei sei­ner wich­tig­sten Hel­fer, Reichs­pro­pa­gan­da­lei­ter Joseph Goeb­bels und Reichs­füh­rer SS Hein­rich Himm­ler. Das ver­bre­che­ri­sche Trio hat­te Selbst­mord began­gen. Auch Robert Ley, Reichs­or­ga­ni­sa­ti­ons­lei­ter der NSDAP, hat­te sich dem Pro­zess durch Selbst­mord entzogen.

Als am 20. Novem­ber 1945 im Schwur­ge­richts­saal 600 des Nürn­ber­ger Justiz­pa­la­stes der Pro­zess gegen die Haupt­kriegs­ver­bre­cher begann, rich­te­ten sich die Augen der Welt­öf­fent­lich­keit auf die Stadt an der Peg­nitz. Damit die Welt von dem Uner­hör­ten und Unfass­ba­ren erfah­ren konn­te, waren inter­na­tio­nal berühm­te Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler, Jour­na­li­sten und Jour­na­li­stin­nen, Repor­te­rin­nen und Repor­ter ange­reist sowie Per­so­nen, die spä­ter ein­mal Berühmt­heit erlan­gen soll­ten, wie zum Bei­spiel Wolf­gang Hil­des­hei­mer, Robert Jungk, Peter de Men­dels­ohn und Gre­gor von Rezz­ori. Sowie: Wil­ly Brandt, der spä­te­re SPD-Vor­sit­zen­de und Bun­des­kanz­ler, als Kor­re­spon­dent der Oslo­er Zei­tung Arbei­ter­bla­det, und, auf rus­si­schem Ticket: Mar­kus Wolf, der spä­te­re Lei­ter der Haupt­ver­wal­tung Auf­klä­rung der DDR, der eben die­sen Wil­ly Brandt im Mai 1974 mit der Spio­na­ge­af­fä­re Guil­laume zu Fall brin­gen soll­te. 1945 war er Kor­re­spon­dent des Ber­li­ner Rund­funks und der Ber­li­ner Zei­tung.

Es war die Crè­me de la Crè­me an Bericht­erstat­te­rin­nen und Bericht­erstat­tern, die nach Nürn­berg gekom­men war, unter ihnen der deut­sche Schrift­stel­ler Erich Käst­ner; die aus der USA-Emi­gra­ti­on zurück­ge­kehr­te Schrift­stel­le­rin Eri­ka Mann; der ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­ler John dos Pas­sos, schon damals ein berühm­ter Kol­le­ge von Ernest Heming­way, Wil­liam Faul­k­ner und F. Scott Fitz­ge­rald; die ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­li­stin Mar­tha Gell­horn; die bri­ti­sche Schrift­stel­le­rin Rebec­ca West; Augu­sto Roa Bastos, der heu­te als größ­ter Roman­au­tor Para­gu­ays gilt; aus Russ­land der Schrift­stel­ler Ilja Ehren­burg; die rus­sisch-fran­zö­si­sche Schrift­stel­le­rin Elsa Trio­let, Ehe­frau des berühm­ten Lou­is Ara­gon; und, wie erwähnt, aus Chi­na Kriegs­be­richt­erstat­ter Xiao Qui­an: »Welt­li­te­ra­tur traf auf Weltgeschichte.«

Neu­mahr, pro­mo­vier­ter Roma­nist und Ger­ma­nist, beschreibt, wie die­se Rie­ge welt­be­rühm­ter Schrift­stel­ler, Jour­na­li­sten und Repor­ter »im Gerichts­saal den Ver­bre­chern ins Ange­sicht blick­te, die sich für den Krieg und den Holo­caust ver­ant­wor­ten muss­ten«, wie sie, wäh­rend sie »in den Abgrund der Geschich­te sahen und über Schuld, Süh­ne und Gerech­tig­keit nach­dach­ten, nicht nur sich ver­än­der­ten, son­dern auch die Art, wie sie schrie­ben«. Neu­mahr wirft einen Blick auf die inter­na­tio­na­le Reso­nanz, auf ein­zel­ne Repor­te­rin­nen und Repor­ter nebst ihrer Bericht­erstat­tung sowie auf die Dis­kus­sio­nen im Press Camp, die sich auch vor dem Hin­ter­grund des auf­zie­hen­den Kal­ten Krie­ges ent­wickel­ten. Und er regi­striert die kri­ti­schen Stim­men zum Nürn­ber­ger Pro­zess. Den einen war es zu viel Sie­ger­ju­stiz, ande­ren ging es nicht weit genug, sie hät­ten gern im Sin­ne einer Kol­lek­tiv­schuld das gan­ze deut­sche Volk auf der Ankla­ge­bank gesehen.

Es waren meh­re­re hun­dert Pres­se­ver­tre­ter, die den Pro­zess ver­folg­ten und dar­über berich­te­ten. Ihnen hat­ten die Besat­zungs­be­hör­den in Stein, einer nahe Nürn­berg gele­ge­nen Ort­schaft, ein inter­na­tio­na­les Press Camp ein­ge­rich­tet. Kur­zer­hand war zu die­sem Zweck das Schloss der Schreib­wa­ren­fa­bri­kan­ten Faber-Castell beschlag­nahmt wor­den, das den Krieg eini­ger­ma­ßen unbe­scha­det über­stan­den hat­te. Das Press Camp war Her­ber­ge und Arbeits­stät­te zugleich. Es wur­de bis zum Ende der Nürn­ber­ger Nach­fol­ge­pro­zes­se 1949 aufrechterhalten.

Hier, »im Mikro­kos­mos des Faber-Schlos­ses, tra­fen Exil-Rück­keh­rer auf Über­le­ben­de des Holo­caust, kriegs­er­fah­re­ne Offi­zie­re auf Rési­stance-Kämp­fer, Kom­mu­ni­sten auf Ver­tre­ter west­li­cher Medi­en­kon­zer­ne, Front­be­richt­erstat­ter auf extra­va­gan­te Star­re­por­ter. Man schlief auf Feld­bet­ten und begeg­ne­te sich in der Bar, im Salon, im Spiel­zim­mer und im Kino, die die Alli­ier­ten in der glo­ba­len Her­ber­ge ein­ge­rich­tet hatten«.

Tags­über sahen sich die Pro­zess­be­ob­ach­ter mit den Ver­bre­chen kon­fron­tiert, »mit Bil­dern aus Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, von Mas­sen­er­schie­ßun­gen und den Aus­sa­gen der Opferzeu­gen«. Abends, schreibt Neu­mahr, »betäub­ten sich vie­le mit Alko­hol, spät in der Nacht fie­len alle Schran­ken, man tanz­te mit­ein­an­der und trank«.

Uwe Neu­mahr hat ein facet­ten- und anek­do­ten­rei­ches emp­feh­lens­wer­tes Buch vor­ge­legt. Es gilt schon jetzt, ein hal­bes Jahr nach sei­nem Erschei­nen, als ein Stück Zeit- und Literaturgeschichte.

Post­skrip­tum: Mar­tha Gell­horn hat fast 50 Jah­re lang von nahe­zu jedem Schlacht­feld der Erde berich­tet. Im Schwei­zer Dör­le­mann Ver­lag sind ihre Aus­ge­wähl­ten Wer­ke neu oder erst­mals auf Deutsch erschie­nen. In Ossietzky 4/​2014 habe ich die bei­den Bän­de »Die Rei­sen mit mir und einem Ande­ren« und »Das Gesicht des Krie­ges« vor­ge­stellt. Das zuletzt genann­te Buch ent­hält ihre zwi­schen 1937 und 1987 ent­stan­de­nen Kriegs-Repor­ta­gen, dar­un­ter »Das deut­sche Volk« (April 1945) und »Dach­au« (Mai 1945). Der Band schließt mit einem Zitat aus dem Schluss­plä­doy­er des bri­ti­schen Haupt­an­klä­gers beim Nürn­ber­ger Pro­zess: »Der Staat und das Gesetz sind für Men­schen gemacht, damit die­se durch sie ein Leben in stär­ke­rer Erfül­lung errei­chen kön­nen, ein höhe­res End­ziel und grö­ße­re Wür­de.« Mar­tha Gell­horn fügt hin­zu: »Der Staat hat bei sei­ner Auf­ga­be ver­sagt: Statt den Men­schen ein Leben stär­ke­rer Erfül­lung zu bie­ten, hat er sie in ein Leben stän­di­ger Bedro­hung geführt. Es muss eine bes­se­re Art geben, die Geschicke der Welt zu len­ken. Sor­gen wir dafür, dass sie Wirk­lich­keit wird.«

Womit wir in der Gegen­wart ange­langt wären.

Uwe Neu­mahr: Das Schloss der Schrift­stel­ler – Nürn­berg ’46. Tref­fen am Abgrund, Ver­lag C.H. Beck, Mün­chen 2023, 304 S., mit 31 Abbil­dun­gen, 26 €.