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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Weitere Lieder-Schicksale

Gerd Büntzly greift in sei­nem Arti­kel »Lie­der und ihre Schick­sa­le« (Ossietzky 25/​22) ein inter­es­san­tes und zugleich poli­tisch und sozi­al­ge­schicht­lich wich­ti­ges The­ma auf. Er behan­delt zunächst das Schick­sal zwei­er popu­lä­rer Lie­der mit ern­stem, ja, sogar tra­gi­schem Hin­ter­grund, die in eine Samm­lung von Stu­den­ten­lie­dern auf­ge­nom­men wor­den sind. Er stellt in Bezug auf das erste die rhe­to­ri­sche Fra­ge: »Ist es mög­lich, dass man die­ses Lied ein­fach so run­ter­ge­sun­gen hat, wie alles ande­re, ohne sich über sei­nen Inhalt wirk­lich Gedan­ken (Hin­rich­tung eines Deser­teurs) zu machen?«

War in die­sem Fall noch eine Fra­ge offen, so stellt sie sich in dem zwei­ten Fall nicht mehr, weil die Deser­ti­on und die bevor­ste­hen­de Hin­rich­tung vom Ich-Spre­cher offen benannt wer­den. Büntzly nimmt dies als ein »jam­mer­vol­les Bei­spiel für den Umstand, dass kein Lied, und sei es auch noch so kri­tisch, davor gefeit ist, ins Tri­via­le, ja, ins Reak­tio­nä­re abzurutschen«.

Wie ist das zu erklä­ren? In den bei­den zu »Stu­den­ten­lie­dern« gewor­de­nen Gedich­ten bie­tet sich die Ver­mu­tung an, dass die Grund­la­ge für die Gefühl­lo­sig­keit in der Tra­di­ti­on der Herr­schen­den – sei es die Kir­che, sei es die welt­li­che Obrig­keit – zu sehen ist, Grau­sam­keit unter dem Vor­wand des Voll­zugs einer gerech­ten Stra­fe öffent­lich zur Schau zu stel­len: Zum einen zu Zwecken der Abschreckung, zum ande­ren – es lässt sich wohl nicht anders sagen – zur Unter­hal­tung der Unter­ta­nen. Musi­ka­li­sche Refle­xe fin­den sich in den »Lie­dern aus der Küche«. Heut­zu­ta­ge sol­len »Tatort«-Sendungen das Publi­kum bei Lau­ne halten.

Was spe­zi­ell die stu­den­ti­sche Rezep­ti­on anbe­langt, ist davon aus­zu­ge­hen, dass mili­tä­ri­sche Wer­te in jenen Zei­ten hoch im Rang stan­den; das bedeu­tet, dass für die Befehls­ge­walt und gegen den Unge­hor­sam Par­tei genom­men wurde.

Bevor ich zu einer wei­te­ren, für die Gegen­wart wich­ti­ge­ren Erklä­rung kom­me, dre­he ich die Aus­gangs­fra­ge ein­mal um: Lässt sich ein Lied wie der von Büntzly geta­del­te »Gute Kame­rad« (Lud­wig Uhland) auch anders als »sen­ti­men­tal« (Büntzly) oder (so Büntzly, sinn­ge­mäß) zynisch lesen? Ja!

Ein per­sön­li­ches Zeug­nis gibt Vic­tor Klem­pe­rer in sei­nen Tage­bü­chern: Im Okto­ber 1936 wird der jüdi­sche Jurist Breit beer­digt. Die Anspra­che hält der Ber­li­ner Justiz­rat Magnus. Er spricht zwar ver­hüllt, aber doch so deut­lich, dass die Anwe­sen­den ihn ver­ste­hen, über die Aus­gren­zung der Juden aus dem Rechts­le­ben. Klem­pe­rer berich­tet als Teil­neh­mer der Beer­di­gung: »Was mich wie ein Schlag aufs Herz traf und aus mei­ner Depres­si­on auf­riss, war eine Schluss­wen­dung, in die der Mann wohl gegen sei­nen Wil­len her­ein­ge­ris­sen wur­de.« Und nun zitiert er ihn – Uhlands mit Magnus‘ Wor­ten mischend: »Kann dir die Hand nicht geben, die­weil ich eben lad (…), ich mei­ne (…) nun eben: kann dir die Hand nicht geben, die­weil ich eben lad, bleib du im ew’gen Leben mein guter Kame­rad!« Über sei­ne eige­ne Reak­ti­on auf die­ses anspie­lungs­vol­le Zitat schreibt Klem­pe­rer: »Es riss mich wahr­haf­tig hoch, und ich schwor mir zu: Es wird wei­ter gela­den, einer­lei, ob man ein juri­sti­sches Buch schreibt oder die Geschich­te der fran­zö­si­schen Auf­klä­rung, wer hier als Jude wei­ter­ar­bei­tet und das deut­sche Gei­stes­le­ben berei­chert, der ›lädt‹ – und mit einem Male erschien mir die­se gan­ze Ver­samm­lung sozu­sa­gen im Rüt­li­licht« (Ein­trag vom 9.10.1936, sei­nem 65. Geburts­tag). Als Hin­ter­grund zum Ver­ständ­nis für Klem­pe­rers hef­ti­ge, posi­ti­ve Reak­ti­on auf das Uhland-Gedicht muss aller­dings hin­zu­ge­fügt wer­den, dass Klem­pe­rer (1935 aus sei­ner Pro­fes­sur an der TH Dres­den ent­las­sen) hier als der typi­sche jüdi­sche Welt­kriegs­sol­dat spricht, der nicht ver­ste­hen kann, dass sei­ne Ver­dien­ste vom herr­schen­den Regime in den Dreck getre­ten werden.

Büntzly stellt dar, wie Lie­der (Stich­wort: Stu­den­ten- bzw. »Sauf­lie­der«) in unpas­sen­der Wei­se neu kon­tex­tua­li­siert wer­den. Anders ver­hält es sich bei­spiels­wei­se mit einer Adap­ti­on von Theod­ora­kis’ Lied »Arni­si« (»Ableh­nung«): »Sto peri­giá­li to kry­phó«. Er hat­te ein Gedicht des grie­chi­schen Nobel­preis­trä­gers Gior­gos Sefe­ris ver­tont. In der von der ita­lie­ni­schen Sän­ge­rin Mil­va gesun­ge­nen Fas­sung (»Zusam­men­le­ben«) wur­de das Lied text­lich voll­kom­men ver­än­dert: Aus einem Rück­blick auf einen Lebens­ab­schnitt wird in die­ser Ver­si­on ein femi­ni­stisch akzen­tu­ier­tes Lob auf die Ach­tung ihrer Eigen­stän­dig­keit, die ihr der Lebens­ge­fähr­te entgegenbringt.

Hier lie­ße sich von Ver­fäl­schung des Ursprungs­tex­tes spre­chen, doch ist die­se Ver­si­on zu Theod­ora­kis‘ Lebens­zei­ten erschie­nen, so dass sein Ein­ver­ständ­nis vor­aus­ge­setzt wer­den kann. Grund­sätz­lich ist es zu begrü­ßen – so lie­ße sich argu­men­tie­ren –, dass ein Gedicht ver­schie­de­ne Bot­schaf­ten auf ver­gleich­ba­rer Ebe­ne der Bedeut­sam­keit tra­gen kann. Doch ein Miss­be­ha­gen – so etwas wie ein schlech­tes Gewis­sen gegen­über dem Dich­ter – soll­te bleiben.

Deut­lich pro­ble­ma­ti­scher ver­hält es sich mit »Kai­mos« (»Schmerz«) in der von Vicky Lean­dros ver­brei­te­ten deut­schen Fas­sung (»Ich hab‘ die Lie­be geseh’n /​ beim ersten Blick in dei­ne Augen«). Bei­de haben inhalt­lich auch nichts mit­ein­an­der zu tun: Zwar scheint der Anfang des grie­chi­schen Tex­tes auf ein Lie­bes­lied hin­zu­lau­fen, dann aber, wie es der Titel aus­sagt, auf ein trau­ri­ges – nur der Form nach – Lie­bes­lied: »Es ist groß das Meer, /​ es ist lang die Wel­le. /​ Es ist groß die Sor­ge /​ und bit­ter das Unglück. /​/​ Bit­te­rer Fluss ist in mir /​ das Blut dei­ner Wun­de, /​ doch bit­te­rer als das Blut /​ ist dein Kuss auf den Mund.« Was »wie ein Lie­bes­lied klingt, ist ein hoch poli­ti­scher Text. Er bezieht sich auf den grie­chi­schen Bür­ger­krieg, der von 1946 bis 1949 wüte­te«, wor­auf in einem Bei­trag des Deutsch­land­funks hin­ge­wie­sen wird (https://www.deutschlandfunkkultur.de/athen-bei-nacht-wenn-sich-der-abend-senkt-100.html).

Es fragt sich, wie es mög­lich ist, dass Theod­ora­kis die­ser Ent­po­li­ti­sie­rung – um nicht zu sagen: Bana­li­sie­rung – des Tex­tes, der sei­ner Musik zugrun­de lag, zustimm­te. Auf die mög­li­che Ant­wort gibt ein Face­book-Ein­trag der Sän­ge­rin aus Anlass sei­nes Todes einen Hin­weis: »Mikis Theod­ora­kis, einer der größ­ten Kom­po­ni­sten unse­rer Zeit und mein lie­ber Freund, ist heu­te lei­der von uns gegan­gen. Ich kann­te ihn seit mei­ner Jugend und habe ihm mit dem Lied ›O Kai­mos‹ in meh­re­ren Spra­chen, einen mei­ner größ­ten Erfol­ge welt­weit zu ver­dan­ken. Über 8 Mil­lio­nen Ton­trä­ger wur­den davon ver­kauft, wie er mir bei einem unse­rer zahl­rei­chen Tref­fen erzähl­te. In mei­nen Erin­ne­run­gen hat­ten wir auch eine beson­ders schö­ne und krea­ti­ve Zusam­men­ar­beit kurz vor den Olym­pi­schen Spie­len 2004. Ich war täg­lich bei ihm zu Hau­se und wir haben zusam­men 16 Lie­der von ihm aus­ge­sucht, die ich dann auch auf­ge­nom­men habe« (https://smago.de/ws2/schlager/mikis-theodorakis-bewegende-worte-des-abschieds-von-vicky-leandros/).

Weit­aus pro­ble­ma­ti­scher wie­der­um als die­ses Vor­ge­hen erscheint mir der Fall »›Bel­la Ciao‹ als Som­mer­hit 2018«. Es han­delt sich um einen Song im Tech­no-Stil, des­sen Hin­ter­grund die SZ (1.8.2018) fol­gen­der­ma­ßen beleuch­tet: »Grund für den neu­er­li­chen Hype um ›Bel­la Ciao‹ ist (…) die spa­ni­sche TV-Serie Haus des Gel­des, die sehr erfolg­reich bei Net­flix läuft. Dar­in raubt eine Grup­pe Kri­mi­nel­ler eine Bank­no­ten­drucke­rei aus und nimmt vie­le Gei­seln.« Abschlie­ßend zieht die SZ aber die tröst­li­che Bilanz: »Das alles ist nun trotz­dem kein Grund kul­tur­pes­si­mi­stisch zu wer­den. Denn erstens: Die Din­ge wan­deln sich nun ein­mal, neu­er Kon­text schafft neue Bedeu­tung. So wird aus einer Anti­fa-Hym­ne eben ein Club­hit.« Und außer­dem wer­de in der Bericht­erstat­tung über die­sen Titel auch immer wie­der der histo­ri­sche Hin­ter­grund angesprochen.

So mag man sich trö­sten. Es gibt aber auch eine Rap-Fas­sung, die die histo­ri­sche und poli­ti­sche Bedeu­tung wie­der­erweckt: Esther Beja­ra­no hat mit ihrer Grup­pe »Micro­pho­ne Mafia« Bel­la Ciao auf ihrer ersten CD »per la vita« ein­ge­spielt. Hier wahrt die Bear­bei­tung die inhalt­li­che Treue des Bekennt­nis­ses zum Antifaschismus.