Gerd Büntzly greift in seinem Artikel »Lieder und ihre Schicksale« (Ossietzky 25/22) ein interessantes und zugleich politisch und sozialgeschichtlich wichtiges Thema auf. Er behandelt zunächst das Schicksal zweier populärer Lieder mit ernstem, ja, sogar tragischem Hintergrund, die in eine Sammlung von Studentenliedern aufgenommen worden sind. Er stellt in Bezug auf das erste die rhetorische Frage: »Ist es möglich, dass man dieses Lied einfach so runtergesungen hat, wie alles andere, ohne sich über seinen Inhalt wirklich Gedanken (Hinrichtung eines Deserteurs) zu machen?«
War in diesem Fall noch eine Frage offen, so stellt sie sich in dem zweiten Fall nicht mehr, weil die Desertion und die bevorstehende Hinrichtung vom Ich-Sprecher offen benannt werden. Büntzly nimmt dies als ein »jammervolles Beispiel für den Umstand, dass kein Lied, und sei es auch noch so kritisch, davor gefeit ist, ins Triviale, ja, ins Reaktionäre abzurutschen«.
Wie ist das zu erklären? In den beiden zu »Studentenliedern« gewordenen Gedichten bietet sich die Vermutung an, dass die Grundlage für die Gefühllosigkeit in der Tradition der Herrschenden – sei es die Kirche, sei es die weltliche Obrigkeit – zu sehen ist, Grausamkeit unter dem Vorwand des Vollzugs einer gerechten Strafe öffentlich zur Schau zu stellen: Zum einen zu Zwecken der Abschreckung, zum anderen – es lässt sich wohl nicht anders sagen – zur Unterhaltung der Untertanen. Musikalische Reflexe finden sich in den »Liedern aus der Küche«. Heutzutage sollen »Tatort«-Sendungen das Publikum bei Laune halten.
Was speziell die studentische Rezeption anbelangt, ist davon auszugehen, dass militärische Werte in jenen Zeiten hoch im Rang standen; das bedeutet, dass für die Befehlsgewalt und gegen den Ungehorsam Partei genommen wurde.
Bevor ich zu einer weiteren, für die Gegenwart wichtigeren Erklärung komme, drehe ich die Ausgangsfrage einmal um: Lässt sich ein Lied wie der von Büntzly getadelte »Gute Kamerad« (Ludwig Uhland) auch anders als »sentimental« (Büntzly) oder (so Büntzly, sinngemäß) zynisch lesen? Ja!
Ein persönliches Zeugnis gibt Victor Klemperer in seinen Tagebüchern: Im Oktober 1936 wird der jüdische Jurist Breit beerdigt. Die Ansprache hält der Berliner Justizrat Magnus. Er spricht zwar verhüllt, aber doch so deutlich, dass die Anwesenden ihn verstehen, über die Ausgrenzung der Juden aus dem Rechtsleben. Klemperer berichtet als Teilnehmer der Beerdigung: »Was mich wie ein Schlag aufs Herz traf und aus meiner Depression aufriss, war eine Schlusswendung, in die der Mann wohl gegen seinen Willen hereingerissen wurde.« Und nun zitiert er ihn – Uhlands mit Magnus‘ Worten mischend: »Kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad (…), ich meine (…) nun eben: kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad, bleib du im ew’gen Leben mein guter Kamerad!« Über seine eigene Reaktion auf dieses anspielungsvolle Zitat schreibt Klemperer: »Es riss mich wahrhaftig hoch, und ich schwor mir zu: Es wird weiter geladen, einerlei, ob man ein juristisches Buch schreibt oder die Geschichte der französischen Aufklärung, wer hier als Jude weiterarbeitet und das deutsche Geistesleben bereichert, der ›lädt‹ – und mit einem Male erschien mir diese ganze Versammlung sozusagen im Rütlilicht« (Eintrag vom 9.10.1936, seinem 65. Geburtstag). Als Hintergrund zum Verständnis für Klemperers heftige, positive Reaktion auf das Uhland-Gedicht muss allerdings hinzugefügt werden, dass Klemperer (1935 aus seiner Professur an der TH Dresden entlassen) hier als der typische jüdische Weltkriegssoldat spricht, der nicht verstehen kann, dass seine Verdienste vom herrschenden Regime in den Dreck getreten werden.
Büntzly stellt dar, wie Lieder (Stichwort: Studenten- bzw. »Sauflieder«) in unpassender Weise neu kontextualisiert werden. Anders verhält es sich beispielsweise mit einer Adaption von Theodorakis’ Lied »Arnisi« (»Ablehnung«): »Sto perigiáli to kryphó«. Er hatte ein Gedicht des griechischen Nobelpreisträgers Giorgos Seferis vertont. In der von der italienischen Sängerin Milva gesungenen Fassung (»Zusammenleben«) wurde das Lied textlich vollkommen verändert: Aus einem Rückblick auf einen Lebensabschnitt wird in dieser Version ein feministisch akzentuiertes Lob auf die Achtung ihrer Eigenständigkeit, die ihr der Lebensgefährte entgegenbringt.
Hier ließe sich von Verfälschung des Ursprungstextes sprechen, doch ist diese Version zu Theodorakis‘ Lebenszeiten erschienen, so dass sein Einverständnis vorausgesetzt werden kann. Grundsätzlich ist es zu begrüßen – so ließe sich argumentieren –, dass ein Gedicht verschiedene Botschaften auf vergleichbarer Ebene der Bedeutsamkeit tragen kann. Doch ein Missbehagen – so etwas wie ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Dichter – sollte bleiben.
Deutlich problematischer verhält es sich mit »Kaimos« (»Schmerz«) in der von Vicky Leandros verbreiteten deutschen Fassung (»Ich hab‘ die Liebe geseh’n / beim ersten Blick in deine Augen«). Beide haben inhaltlich auch nichts miteinander zu tun: Zwar scheint der Anfang des griechischen Textes auf ein Liebeslied hinzulaufen, dann aber, wie es der Titel aussagt, auf ein trauriges – nur der Form nach – Liebeslied: »Es ist groß das Meer, / es ist lang die Welle. / Es ist groß die Sorge / und bitter das Unglück. // Bitterer Fluss ist in mir / das Blut deiner Wunde, / doch bitterer als das Blut / ist dein Kuss auf den Mund.« Was »wie ein Liebeslied klingt, ist ein hoch politischer Text. Er bezieht sich auf den griechischen Bürgerkrieg, der von 1946 bis 1949 wütete«, worauf in einem Beitrag des Deutschlandfunks hingewiesen wird (https://www.deutschlandfunkkultur.de/athen-bei-nacht-wenn-sich-der-abend-senkt-100.html).
Es fragt sich, wie es möglich ist, dass Theodorakis dieser Entpolitisierung – um nicht zu sagen: Banalisierung – des Textes, der seiner Musik zugrunde lag, zustimmte. Auf die mögliche Antwort gibt ein Facebook-Eintrag der Sängerin aus Anlass seines Todes einen Hinweis: »Mikis Theodorakis, einer der größten Komponisten unserer Zeit und mein lieber Freund, ist heute leider von uns gegangen. Ich kannte ihn seit meiner Jugend und habe ihm mit dem Lied ›O Kaimos‹ in mehreren Sprachen, einen meiner größten Erfolge weltweit zu verdanken. Über 8 Millionen Tonträger wurden davon verkauft, wie er mir bei einem unserer zahlreichen Treffen erzählte. In meinen Erinnerungen hatten wir auch eine besonders schöne und kreative Zusammenarbeit kurz vor den Olympischen Spielen 2004. Ich war täglich bei ihm zu Hause und wir haben zusammen 16 Lieder von ihm ausgesucht, die ich dann auch aufgenommen habe« (https://smago.de/ws2/schlager/mikis-theodorakis-bewegende-worte-des-abschieds-von-vicky-leandros/).
Weitaus problematischer wiederum als dieses Vorgehen erscheint mir der Fall »›Bella Ciao‹ als Sommerhit 2018«. Es handelt sich um einen Song im Techno-Stil, dessen Hintergrund die SZ (1.8.2018) folgendermaßen beleuchtet: »Grund für den neuerlichen Hype um ›Bella Ciao‹ ist (…) die spanische TV-Serie Haus des Geldes, die sehr erfolgreich bei Netflix läuft. Darin raubt eine Gruppe Krimineller eine Banknotendruckerei aus und nimmt viele Geiseln.« Abschließend zieht die SZ aber die tröstliche Bilanz: »Das alles ist nun trotzdem kein Grund kulturpessimistisch zu werden. Denn erstens: Die Dinge wandeln sich nun einmal, neuer Kontext schafft neue Bedeutung. So wird aus einer Antifa-Hymne eben ein Clubhit.« Und außerdem werde in der Berichterstattung über diesen Titel auch immer wieder der historische Hintergrund angesprochen.
So mag man sich trösten. Es gibt aber auch eine Rap-Fassung, die die historische und politische Bedeutung wiedererweckt: Esther Bejarano hat mit ihrer Gruppe »Microphone Mafia« Bella Ciao auf ihrer ersten CD »per la vita« eingespielt. Hier wahrt die Bearbeitung die inhaltliche Treue des Bekenntnisses zum Antifaschismus.