Seit Rosa Luxemburg in ihrer »Junius-Broschüre« 1916 ohne Quellenangabe Friedrich Engels die Feststellung in den Mund legte, dass die bürgerliche Gesellschaft vor dem Dilemma stehe, entweder zum Sozialismus überzugehen oder in die Barbarei zurückzufallen, wird die Frage ventiliert, ob der Ausspruch authentisch ist oder nicht. Aber ist das wirklich entscheidend? Unstrittig hätten es sowohl Engels als auch Marx so sagen können! Es gibt einige Stellen bei Engels, die vermuten lassen, dass es von ihm stammt. Das sollte dazu genügen. Recht hat Rosa Luxemburg auf jeden Fall darin, dass man sich seinerzeit bis heute zu wenig Gedanken darüber gemacht hat, was »Rückfall in die Barbarei« bedeutet. Sie konkretisiert: »Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte« (Hervorhebung vom Autor).
Dass Kriege Rückfall in die Barbarei sind, galt 1916 wie 2024. Rosa Luxemburg sprach realitätsnah von Weltkriegen, und eben nicht nur vom dem, der seinerzeit tobte. Sie wie auch Tucholsky, Wedekind u. a. sahen bei einem Triumph des Imperialismus weitere Weltkriege voraus. Wenn auch die Oktoberrevolution und in deren Folge der Vielvölkerstaat UdSSR dem Imperialismus eine Friedensmacht entgegenstellen konnte, reichten die sozialistischen Kräfte nicht aus, den vorausgeahnten II. Weltkrieg zu verhindern. Der II. Weltkrieg endete zwar erneut mit einem Triumph des Imperialismus, aber zugleich auch mit einer unerwarteten Schwächung. Die sozialistische Staatengemeinschaft hatte 40 Jahre lang eine Stärke erreicht, die den Imperialismus von einem III. Weltkrieg abhielt.
Der Untergang der sozialistischen Staatengemeinschaft und die Auflösung des Warschauer Vertrages – wiederum ein Triumph des Imperialismus – führte zur Wende in Richtung Barbarei. Nicht die von bürgerlichen Apologeten und geläuterten Sozialisten verheißene Zukunft brach an, sondern barbarische Kriege in Jugoslawien und in der Golfregion. Mittendrin und an vorderster Stelle stets der US-Imperialismus und wechselnde Willige. Kann man deshalb nicht mit Fug und Recht sagen, dass der Rückfall in die Barbarei nicht bereits nach dem Untergang des Sozialismus begann? Wie naiv waren diejenigen, die meinten, der Untergang der sozialistischen Staaten wäre mit zivilisatorischem Fortschritt gleichzusetzen. Das Dilemma hat auch nach 30 Jahren seine Relevanz nicht verloren, sondern ganz im Gegenteil. Die Barbarei nimmt immer festere Konturen an; sie stabilisiert sich. Die weltweite Rechtsentwicklung, das Erstarken prä- und offen faschistischer Akteure, die gewaltige Militarisierung, das Schüren von Hass gegen andere Völker, die permanente Zerstörung des Völkerrechts und das Überschreiten roter Linien sind alles überdeutliche Symptome von Barbarei, von Entmenschlichung und Kulturlosigkeit. Staaten, Politiker und Konzernbosse halten sich nicht mehr an die geringsten Regeln der Zivilisation. Profitsucht, Streben nach egoistischer Ausnutzung politischer und staatlicher Macht, die Privatisierung des Staates zugunsten Superreicher ist im vollen Gang. Ein Lehrbuchbeispiel liefert die sich formierende Trump-Administration, die den Milliardären neben ihrer unbegrenzten und unkontrollierten ökonomischen Macht gleich noch die staatliche Macht zuschanzt, wodurch ein imperialistischer Idealzustand eintritt. Es bedarf weder Lobbyarbeit noch Bestechung der Gewerkschaften, weder Manipulation der Bevölkerung noch andere kostspielige Machenschaften. Das Großkapital hat immer mehr die uneingeschränkte Macht in Staat und Gesellschaft. Weit weniger als 1 Prozent der Menschen beherrscht fast die ganze Welt; sie herrschen, über 5-6 Milliarden Menschen, über die Produktionsprozesse, über die Verteilung der Güter, über die Armeen, über den Einsatz von Atomwaffen. Eine von Barbaren beherrschte Welt!
Kein Aufschrei der Zivilisation, kein Aufschrei einer Koalition der Vernunft! Zeichen dafür, diesen Wahnsinn zu stoppen, sind nicht in Sicht. Nicht einmal die Forderung nach einem sofortigen Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine ist unter Linken konsensfähig. Welch ein Trauerspiel? Welche Tragödie? Wie tief ist ein Großteil von Sozialisten gesunken? Sie erkennen nicht, wie sie zu nützlichen Idioten imperialistischer Kapitalinteressen geworden sind, und glauben, wenn sie einer imperialistischen Kriegspartei die alleinige Schuld zuzuweisen, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Schlimm daran ist, dass sie damit die verbliebenen Friedenskräfte schwächen und nicht stärken, wie sie in ihrer unbeschreiblichen Einfalt glauben.
Lasst uns die Warnungen, die mit dem von Rosa Luxemburg ins Bewusstsein gerückten Dilemma von Sozialismus und Barbarei verbunden sind, insbesondere vor der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, immer wieder sagen, damit sie nicht einmal zu wenig gesagt wurden, denn es droht ein Krieg, der die Menschheit vernichten und den Planeten aus der Bahn werfen könnte. Werfen wir uns den Mächtigen entgegen, entlarven wir sie, fallen wir ihnen in den Arm im Interesse der Menschheit und des Planeten!