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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Weißrussland zwischen den Fronten

Das Dra­ma, das zur­zeit an den öst­li­chen Außen­gren­zen der Euro­päi­schen Uni­on, kon­kret am Grenz­strei­fen zwi­schen Polen, Litau­en, Lett­land gegen­über Weiß­russ­land, auf dem Rücken der dort um Asyl nach­su­chen­den Men­schen auf­ge­führt wird, ver­an­lasst die west­li­chen Medi­en, wie­der ein­mal den Aus­bruch eines Krie­ges im Her­zen Euro­pas an die Wand zu malen.

Die Wirk­lich­keit ist aber kom­ple­xer: Einen Krieg gibt es bereits, nur wird er nicht mili­tä­risch, son­dern medi­al, man könn­te auch klar sagen, als Infor­ma­ti­ons­krieg aus­ge­tra­gen. Auch ist er nicht auf Euro­pa beschränkt. Viel­mehr ver­bin­den sich die loka­len Kon­flik­te an der Gren­ze zwi­schen Euro­päi­scher Uni­on, kon­kret ihren nord­öst­li­chen Mit­glied­staa­ten, und Weiß­russ­land zu einem Vexier­bild unter­halb der Kriegs­schwel­le, das sei­ne sich über­schnei­den­den Lini­en in glo­ba­len Ver­schie­bun­gen hat.

Da ist zunächst der neue Schub der Migra­ti­on, aus­ge­löst durch den plötz­li­chen Abzug der West­mäch­te aus Afgha­ni­stan, der erneut Men­schen zu Gestran­de­ten an die Ufer Euro­pas spült. Der Schub trifft die Euro­päi­sche Uni­on an ihrer bis­her noch nicht durch Fron­tex abge­schot­te­ten Nord-Ost­flan­ke, nach­dem die süd­li­chen Gren­zen bereits geschlos­sen wor­den sind. Die mei­sten der Ankom­men­den wol­len über Weiß­russ­lands Gren­ze durch Polen, Litau­en, Lett­land nach Deutsch­land. Weiß­russ­land ist für sie nur Tran­sit – wie auch die öst­li­chen Län­der der Euro­päi­schen Union.

Schon in der »Flücht­lings­kri­se« von 2015 waren die drei öst­li­chen »Tran­sit­län­der« nicht wil­lens, die ihnen zuge­teil­ten Kon­tin­gen­te von Men­schen auf­zu­neh­men. Jetzt sind sie dazu über­ge­gan­gen, die noch nicht abge­schot­te­te Außen­gren­ze, also ihre eige­ne Gren­ze, mit Gewalt, ein­schließ­lich des Auf­fah­rens einer von Pan­zern gebil­de­ten Droh­ku­lis­se, gegen die auf die Gren­ze ein­stür­men­den Men­schen zu schlie­ßen. Über eine zukünf­ti­ge Aus­wei­tung der Fron­tex-Ein­sät­ze, wie sie an den ande­ren Grenz­be­rei­chen der Euro­päi­schen Uni­on statt­fin­den, wird verhandelt.

Folgt man den Dar­stel­lun­gen aus Brüs­sel, wie sie in den Medi­en wei­ter­ge­ge­ben wer­den, dann hat Weiß­russ­lands Prä­si­dent Lukaschen­ko die Asyl­su­chen­den mit Unter­stüt­zung, zumin­dest mit Dul­dung Wla­di­mir Putins als »Waf­fe« ins Land geholt, um die EU dazu zu erpres­sen, ihre Sank­ti­ons­po­li­tik ein­zu­stel­len, mit der sie die Oppo­si­ti­on unter­stützt, die nach den letz­ten von der Euro­päi­schen Uni­on als Fäl­schung kri­ti­sier­ten Wah­len in Weiß­russ­land ent­stan­den ist.

Lukaschen­ko hält dage­gen: Er habe als Reak­ti­on auf die Sank­ti­ons­po­li­tik und das völ­ker­rechts­wid­ri­ge Ein­grei­fen in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten Weiß­russ­lands durch die Poli­tik der EU ledig­lich die zuvor von Weiß­russ­land prak­ti­zier­te Schlie­ßung der Gren­zen gegen­über durch­rei­se­wil­li­gen Asyl­su­chen­den auf­ge­ho­ben. Von einem »orche­strier­ten Ein­satz« der Asyl­su­chen­den als »Waf­fe« kön­ne kei­ne Rede sein. Die Asyl­su­chen­den, die Weiß­russ­land ohne­hin nur als Durch­gangs­land nut­zen woll­ten, kämen über ein inter­na­tio­na­les Schlep­per­kar­tell in eige­ner Initia­ti­ve und auf eige­ne Kosten. Auch Putin, sei­tens der EU der Dul­dung, wenn nicht gar der Unter­stüt­zung Lukaschen­kos ver­däch­tigt, wies einen sol­chen Vor­wurf zurück und for­der­te im Gegen­zug die Poli­ti­ker der Euro­päi­schen Uni­on auf, direk­te Gesprä­che zur Lösung der Kri­se mit Lukaschen­ko zu suchen.

Die Wirk­lich­keit, wenn auch nicht unbe­dingt die Wahr­heit, dürf­te zwi­schen die­sen bei­den Posi­tio­nen lie­gen. Sie könn­te durch­aus zu ent­wir­ren sein, wenn es bei dem Kon­flikt nur um die Fra­ge gin­ge, ob für die zwi­schen 6.000 bis 10.000 Men­schen, um die es sich nach unter­schied­li­chen Anga­ben han­delt, eine Auf­nah­me­be­reit­schaft in der EU her­ge­stellt wür­de. Zu reden wäre nach Lage der Din­ge kon­kret über eine Durch­rei­se­er­laub­nis durch Polen zur Wei­ter­rei­se nach Deutsch­land. Im Ver­gleich zu den Mil­lio­nen, die im Jah­re 2015 unter­zu­brin­gen waren, und den 48.622, die 2021 nach Anga­ben der Platt­form Sta­ti­sta (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1263980/umfrage/antraege-auf-asyl-in-der-eu-nach-nationalitaeten/) bis zum August des Jah­res Asyl­an­trä­ge an die Euro­päi­sche Uni­on gestellt haben, wären die jetzt an der pol­ni­schen Gren­ze auf­ge­hal­te­nen sechs- oder zehn­tau­send Men­schen kein Pro­blem, zumal dann nicht, wenn – wie ruhi­ge­re Stim­men, etwa die des ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten des Deut­schen Bun­des­ta­ges, Schäub­le – vor­schla­gen, dass sie erst ein­mal alle auf­ge­nom­men wer­den könn­ten, um die Mehr­zahl von ihnen nach Prü­fung ihrer Asyl­an­trä­ge dann wie­der in ihr Hei­mat­land zurück­zu­schicken. Das ist auch nicht gera­de so human, wie es klin­gen soll, aber doch die wei­che­re Variante.

Aber sol­che Stim­men konn­ten deut­sche Hard­li­ner, nament­lich den ehe­ma­li­gen Innen­mi­ni­ster See­ho­fer nicht davon über­zeu­gen, das Pro­blem in dem von Schäub­le ange­dach­ten Sin­ne zu ent­schär­fen. Es geht ums Prin­zip: Man will es Lukaschen­ko zei­gen, ihm klar machen, dass die EU sich nicht erpres­sen las­se. Damit wer­den die über­ge­ord­ne­ten Kon­flik­te sicht­bar, die in den Vor­gän­gen an der pol­nisch-weiß­rus­si­schen Gren­ze stell­ver­tre­tend auf­bre­chen. Die­se Kon­flik­te las­sen sich in aller Kür­ze wie folgt skizzieren:

Da sind die inne­ren Wider­sprü­che in der Euro­päi­schen Uni­on, die zum Zer­rei­ßen gespannt sind: Exem­pla­risch sei nur auf die Reak­ti­on Ungarns auf die genann­ten Ereig­nis­se an der pol­ni­schen Gren­ze ver­wie­sen. Ungarns Ver­tre­ter beklag­ten sich prompt nach Bekannt­wer­den der »push backs«, mit denen die pol­ni­sche Regie­rung die Asyl­su­chen­den zurück hin­ter die Gren­ze zu Weiß­russ­land trei­ben lässt, dass Ungarn und Polen in der EU mit unter­schied­li­chen Maß­stä­ben gemes­sen wür­den, wenn Polen für sei­ne bru­ta­le Abwehr der Migran­ten von Brüs­sel gelobt, Ungarn für sein Gesetz zum Schutz sei­ner Gren­zen dage­gen als natio­na­li­stisch ver­ur­teilt wer­de. Was für Polen rich­tig sei, kön­ne für ande­re Mit­glie­der der Uni­on doch nicht falsch sein.

Ange­sichts der Kon­fron­ta­ti­on, die sich in letz­ter Zeit zwi­schen Brüs­sel und Polen über Polens zuneh­men­den natio­na­li­sti­schen Kurs ent­wickelt hat, kann man sol­che Zustim­mung Brüs­sels zu dem har­ten Kurs Polens, der den »Wer­ten« der Uni­on krass wider­spricht, nur als Ver­such ver­ste­hen, die bröckeln­de Ein­heit der Uni­on durch den Auf­bau einer Front gegen einen gemein­sa­men Feind, der Euro­pas Ein­heit gefähr­de, also Lukaschen­ko und hin­ter ihm Wla­di­mir Putin, wie­der her­zu­stel­len. Die­se Hal­tung Brüs­sels reiht sich voll und ganz in die anti-rus­si­sche Kam­pa­gnen ein, die mit Joe Bidens erneu­er­ter Feind­er­klä­rung gegen­über Russ­land unter erheb­li­chem pro­pa­gan­di­sti­schem Auf­wand geführt wird. Ob das die Uni­on auf die Dau­er kit­ten kann – vor allem auf Basis wel­cher »Wer­te«? –, das muss ein Geheim­nis der Brüs­se­ler und gege­be­nen­falls auch deut­scher EU-Stra­te­gen bleiben.

Kein Geheim­nis sind schon jetzt die tie­fer­lie­gen­den Moti­ve sei­tens der Brüs­se­ler Uni­on und der hin­ter ihr ste­hen­den USA, einem Zusam­men­wach­sen Weiß­russ­lands und Russ­lands zu einer weiß­rus­sisch-rus­si­schen Uni­on ent­ge­gen­zu­wir­ken. Denn was mit dem Regi­me­ch­an­ge im Zuge der Mai­dan-Pro­te­ste und danach gelang, näm­lich die Ukrai­ne ins west­li­che Lager zu zie­hen, sogar zum uner­klär­ten Part­ner der Nato zu machen, ließ sich mit Weiß­russ­land trotz aller Inter­ven­tio­nen der EU in die inne­ren Ange­le­gen­hei­ten Weiß­russ­lands bis­her nicht errei­chen. Die Maß­nah­men haben ledig­lich dazu geführt, Weiß­russ­land enger in die Gemein­schaft mit Russ­land zu treiben.

Im Ergeb­nis haben Lukaschen­ko und Putin kürz­lich ver­trag­lich ver­ein­bart, die for­mal schon seit dem Ende der Sowjet­uni­on ange­streb­te Uni­on zwi­schen Russ­land und Weiß­russ­land durch eine Rei­he von wirt­schaft­li­chen und ver­wal­tungs­tech­ni­schen Maß­nah­men ein­zu­lei­ten. Damit wird wei­te­ren Ver­su­chen der Desta­bi­li­sie­rung Weiß­russ­lands erst ein­mal ein Rie­gel vor­ge­scho­ben. Die weiß­rus­sisch-rus­si­sche Uni­on hat das Zeug, wei­te­ren Ver­su­chen der Ein­fluss­nah­me des Westens eine erkenn­ba­re Gren­ze zu set­zen. Und schon ist durch Lukaschen­ko auch wie­der von einer Stär­kung der Eura­si­schen Uni­on die Rede.

Dass dies den Brüs­se­ler Poli­to­kra­ten ein Dorn im stra­te­gi­schen Auge ist, ver­steht sich von selbst. Hin­zu kommt, last not least, der Kampf um die Ver­sor­gung Euro­pas mit rus­si­schem Gas, genau­er, der Kampf um den zukünf­ti­gen glo­ba­len Ener­gie­markt. Schon die Ukrai­ne­kri­se war wesent­lich durch die­sen Kon­flikt bestimmt, als Russ­land und die Ukrai­ne sich nach dem Aus­ein­an­der­bre­chen der Sowjet­uni­on, in des­sen Zuge die durch die Ukrai­ne füh­ren­de süd­li­che Pipe­line zum Eigen­tum der Ukrai­ne wur­de, nicht auf die von Russ­land gefor­der­te Ein­füh­rung von Markt­prei­sen eini­gen konn­ten. Die Jamal-Euro­pa-Linie durch Weiß­russ­land blieb von sol­chen Umwand­lun­gen unbe­rührt. Sie blieb Eigen­tum Russ­lands, wird aber von Weiß­russ­land unter­hal­ten, das dafür Vor­zugs­prei­se für Eigen­ver­brauch und Wei­ter­lei­tung erhält.

Neu­er­dings erle­ben wir die hef­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die »Nord Stream 2«, von der sich ihre Betrei­ber, die Rus­sen, wie auch über die aktu­el­le Alli­anz mit den USA hin­aus­blicken­de Euro­pä­er, nicht nur eine Kapa­zi­täts­er­wei­te­rung, son­dern zugleich eine Rück­ver­si­che­rung gegen Lie­fer­be­schrän­kun­gen durch mög­li­che Kri­sen in der Ukrai­ne oder Weiß­russ­land ver­spre­chen. Das ist stra­te­gisch im Eigen­in­ter­es­se der Euro­päi­schen Uni­on gedacht. Wur­de doch in den mas­si­ven Ver­su­chen der USA, den Bau die­ses nörd­li­chen Lie­fer­we­ges zu ver­hin­dern, nicht nur ihr öko­no­mi­sches Inter­es­se offen­bar, näm­lich ihr eige­nes Gas an Euro­pa zu ver­kau­fen, son­dern auch die Absicht, Euro­pa für ihre Ein­däm­mung gegen Russ­land und die erklär­te Offen­si­ve gegen Chi­na in Abhän­gig­keit zu halten.

Als Lukaschen­ko jetzt andeu­te­te, er kön­ne als Reak­ti­on auf die Sank­tio­nen sei­tens der Euro­päi­schen Uni­on die Durch­lei­tung des Gases, das über die Jamal-Euro­pa-Pipe­line durch Weiß­russ­land nach Euro­pa führt, unter­bin­den, wur­de deut­lich, wie kri­sen­an­fäl­lig nicht nur die süd­li­che, son­dern auch die­se Ver­bin­dung ist. Die öffent­li­che Erklä­rung Putins, er kön­ne sich nicht vor­stel­len, dass Lukaschen­ko zu solch einem Akt fähig sei, deck­te zunächst ein­mal das Tuch glo­ba­ler Diplo­ma­tie über den Abgrund, der sich hier auf­tat. Auf Dau­er über­brückt ist er damit aber nicht.