»In diesem Morast gedeiht keine Kunst mehr und keine Wissenschaft, vor allem aber kein weißes Tischtuch mehr und kein gewaschenes Gesicht« (Karl Emil Franzos, 1875).
Der vor 175 Jahren geborene Karl Emil Franzos (1848-1904), Schriftsteller, Journalist und erster Herausgeber der Werke Georg Büchners, wurde nicht müde zu betonen, dass er »den Osten weder germanisiert noch gallisiert« sich wünsche, »beileibe nicht!« Nein, er wünschte ihn sich »bloß kultivierter, als er derzeit ist«, und sah keinen anderen Weg dazu, »als wenn sich der Einfluss und die willige Pflege westlicher Bildung und westlichen Geistes steigern«.
Ist, wenn es um den Schriftsteller Franzos geht, von »deutscher Kulturmission« die Rede, wird der Blick auf einen Autor verengt, dem man vorwirft, seinen Landsleuten lediglich fremde Kultur »überstülpen« zu wollen, und greift zu kurz, wenn dabei vor »postkolonialem Gedankengut« gewarnt wird.
Gewiss, Franzos bietet mit Äußerungen wie: hier »Zivilisation« und dort »Barbarei« reichlich Angriffsflächen, wenn auch mehr aus heutiger Sicht. Es ging dem Mann des 19. Jahrhunderts im Kern um »Kunst, Wissenschaft, Bildung« und »Gesittung«. Er ist ein Spätaufklärer, der allerdings Ende der 1890er Jahre beginnt, an seinen Thesen selbst zu zweifeln.
In den literarischen Texten wird deutlich, dass Franzos, bei aller Ambivalenz, seine Landsleute liebte.
Das bestätigte mir, etwa einhundert Jahre später, der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch in einem Gespräch, der einst seinen Vater fragte, als er in den Ferien am Schwarzen Meer einen Roman von Franzos las, wer dieser Autor denn sei, und vom Vater nur kurz zur Antwort bekam: Der liebt uns. Ein jüdisch-französisch-galizisch-deutscher Autor liebt die Ukrainer!
Franzos erhielt in Czernowitz deutsche Bildung, promovierte in Graz zum Dr. Juris und bereiste Europa. Doch zuvor prägte ihn fürs Leben der Beruf des Vaters, der in München und Erlangen Medizin studiert hatte und daher wusste, dass die Ursache vieler Krankheiten in den hygienischen Verhältnissen wurzelt.
Karl Emil begleitet den Vater zu Krankenbesuchen in Czortkow, lernt die Lebensumstände der Bevölkerung kennen, sieht, wo »weißes Tischzeug, Bildung und Gesittung« zu finden sind und wo nicht.
Franzos beklagte stets die unhygienischen Zustände »Halb-Asiens«, verursacht durch Armut und Unwissenheit, fremdes und eigenes Verschulden: »Wer auf schmutzigen Tischtüchern isst«, gehört einem »anderen Weltteil« an. Hier muss für den Arztsohn die praktische Aufklärung ansetzen, die in Mitteleuropa zu entscheidenden Verbesserungen der Lebensqualität in Städten und Dörfern geführt hat. Neben der Literatur, ob Schiller, Lessing oder auch Fontane (der sich beklagte, dass im Hotel in Hannover der Nachttopf drei Tage vergessen worden ist und diesen vom Fenster direkt auf die Straße entleerte), neben Bildung und Presse, sind medizinische Versorgung und Hygienemaßnahmen ein zentraler Teil bürgerlicher Aufklärungskultur, für die Franzos das Bild vom »weißen Tischzeug« findet. Germanisten, Philologen oder Literaturwissenschaftler übersehen diesen Zusammenhang leicht.
Allerdings: Das weiße Tischtuch überspannte als zerschlissenes Totenlaken längst den Morast idealisierten Bürgertums. Franzos muss das in den letzten Lebensjahren geahnt haben. Er sprach von »Miasmen«, die nicht nur Erdgräbern entsteigen. Der Zweigeist und Tendenzschriftsteller Franzos hoffte, dass es den Menschen im »seltsamen Zwielicht« des Ostens einmal besser gehe, im aufklärenden Sinne, leidenschaftlich, ambivalent, kämpferisch, wenn auch bisweilen mit verletzendem Witz.