Dass bei einem Treffen der Staatsoberen der in den Ukraine-Krieg brutal und offen oder im Hintergrund – aber nicht weniger wirksam – involvierten Länder über dessen Beendigung je »weißer Rauch« aufsteigt wie nach einer erfolgreichen Papstwahl, wäre eine dringende Notwendigkeit, aber vermutlich nur ein frommer Wunsch. Denn völlig klar ist, wenn das Treffen von der jahrtausendalten Macht- und Kriegslogik beherrscht wird, bliebe der Rauch auf ewig tiefschwarz. Es wäre der Rauch tausendfacher Leichen, die die von den Völkern inthronisierten Repräsentanten erneut zu verantworten haben. Diese obersten Staatsdiener müssten selbstredend so lange in dem Konklave verharren, bis sie eine friedensstiftende und damit menschheitserhaltende Lösung gefunden haben. Wenn ihnen diese nicht gelingt, bliebe ihnen als Konsequenz der »Heldentod«, den sie ihren Völkern ein ums andere Mal anpreisen, wenn aus ihrer Sicht Krieg als Mittel der Politik ansteht.
Bevor sich die Protagonisten der menschlichen Tragödie zur Entscheidung durchringen, müssten sie verpflichtet werden, aus dem riesigen Schatz menschlicher Vernunft, der – wenn es um die Geißel der Kriege geht – bisher keine Realität wurde, zumindest zwei kleine Druckerzeugnisse zu lesen: Immanuel Kants Altersschrift »Zum Ewigen Frieden« und Lenins knapp 50seitige Broschüre »Sozialismus und Krieg«. Nach dem intensiven Studium sollten die Damen und Herren selbstkritisch anhand der Kriterien und Prämissen, Kant spricht von Präliminar- und Definitivartikeln, eine unvoreingenommene und ehrliche Analyse dahingehend betreiben, inwieweit sie oder ihre Vorgänger im Amte seit 1990 Handlungen begangen haben, die diesen unmenschlichen Krieg als Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln zur Folge hatten. Vor über 200 Jahren schrieb Kant z. B., dass »stehende Heere (miles perpetuus) mit der Zeit ganz aufhören sollten«, weil sie andere Staaten unaufhörlich mit KRIEG bedrohen. Fernab von klassischer Bildung schwafelt ein CDU-Vorsitzender: »Putin weiß, dass die Nato ihn nicht gefährdet. Die Nato greift niemanden an, er hat von der Nato nichts zu befürchten, und das weiß er.« Dass Putin Kant offensichtlich besser kennt als der Christdemokrat, und ihn in diesem Punkt durchaus verstanden hat, liegt vermutlich daran, dass Königsberg, inzwischen Kaliningrad, in dem der Philosoph über Krieg und Frieden nachsann, heute im russischen Einflussbereich liegt und derartige Gedanken als anstößig gelten könnten, wenn man daraus Anleihen nehmen würde.
Übrigens konnte auch Kant aus dem Vollen schöpfen. Das 18. Jahrhundert Europas war nicht weniger reich an Kriegen, deren Zeitgenosse er war, als die nachfolgenden. Stoff zu Analyse boten der 8jährige Erbfolgekrieg und der Siebenjährige Krieg. Kants Gedanken kreisten vor allem um eine effektive Verhinderung von Kriegen. Ob allmähliche Auflösung der Streitkräfte oder ständige Verringerung des militärischen Potentials, ob Nichteinmischung eines Staates in Verfassung und Regierung eines anderen Staates (»Denn was kann ihn dazu berechtigen?«, fragt Kant), ob Verzicht auf Staatsschulden »in Beziehung auf äußeren Staatshändel« – all das, so Kant, sollte doch wohl friedensstiftend sein. Nun sollten sich diejenigen Teilnehmer des Treffens, die allesamt tief im Kriege stecken und ihn mit schweren Waffen kräftig anheizen, fragen, wie oft sie gegen die Kant’schen Präliminarartikel verstoßen haben. Keiner, auch nicht einer ist für das Zustandekommen des Krieges frei von Schuld.
Wenn auch Putin Kant verstanden hat, was die Bedrohung für sein Land anbetrifft, gelten ihm Warnungen und Hinweise Lenins nicht viel, obwohl er Lenins Werke irgendwann einmal intensiver studiert haben dürfte als den deutschen Philosophen Kant. Für Putin sind Lenin und die Bolschewiki von Übel. Vor über 100 Jahren hätten sie die moderne Ukraine geschaffen, die nach Putins Lesart selbst eine entscheidende Ursache für den aktuellen Krieg sei. Lenin und seine Kommunisten hätten also wissen müssen, dass nach 70 Jahren die UdSSR, zu deren Mitgliedstaaten die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik bis zur deren Auflösung gehörte, sowie andere verbündete sozialistische Staaten, der Warschauer Vertrag usw. usf. zusammenbrechen und in diesen Staaten nach 30 Jahren Kapitalismus und Imperialismus restauriert sind. Wenn man das in Lenins Broschüre unter der Überschrift »Wofür kämpft Russland?« liest, ist man geneigt zu glauben, dass die Kriegsziele des zaristischen Russlands heute fröhlich Urständ feiern.
Bei allen Differenzen unter Linken sollte man sich darüber einig sein, dass dieser von Russland geführte und von den westlichen Staaten massiv befeuerte Krieg auch nicht ein Quäntchen gesellschaftlichen Fortschritt in sich trägt. Dieser Krieg ist – wie in der Gegenwart nahezu alle Kriege – zutiefst reaktionär. Die Herrschenden haben zum wiederholten Mal versagt – und das nach zwei verheerenden Weltkriegen und vielen weiteren im 20. Jahrhundert sowie neuen Kriegen im 21. Jahrhundert –, Weltfrieden und internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten, Bedrohungen des Friedens vorzubeugen und zu beseitigen. Wenn sich widerstreitende soziale Klassen und Schichten und deren politische Interessenvertreter nicht auf das Völkerrecht besinnen und weiterhin menschheitsfeindliche Partikularinteressen durchsetzen, droht der Untergang der Menschheit. Sollen die mahnenden Worte Brechts wieder ungehört und unverstanden verhallen?
»Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten
Habt doch nun endlich mit euch selbst Erbarmen!
Zieht nun in neue Kriege nicht, ihre Armen
Als ob die alten nicht gelanget hätten.«