Geschichte am Weißen See ist Vielfalt und Gegensatz in einem. Der See mitsamt Dorfidylle lag jottwede für die Berliner. Also janz weet draußen, doch per Pferdebahn direktemang erreichbar – in fast gleicher Fahrzeit wie heute mit der Tram M4, die Rösser durften ampelfrei traben.
Theodor Fontane wanderte von dort per pedes nach Malchow. Ein gewisser Rudolph Sternecker lud in seinen besten Zeiten die Berliner zu Volksvergnügen aller Art und elektrischer Beleuchtung ins »Welt-Etablissement Schloss Weißensee«. Später verschwand er spurlos. Der ursprüngliche Gutshausneubau brannte 1919 nieder. Existent blieben Brauerei samt Restauration. Heuer bereiten dem See Wasserknappheit und klamme Kommunalkassen Sorgen.
In jenen fernen Jahren gehörte das umliegende Gemeindeduo aus Weißensee-Alt und expandierendem Neu-Weißensee zum Niederbarnimschen Kreis im oberhoheitlichen Regierungsbezirk Potsdam. Es wünschte sich sehnlichst Vereinigung und eigenes Stadtrecht. Am 4. Januar 1905 vermeldete das Niederbarnimer Kreisblatt, dass »im großen Festsaal der Brauerei von Gustav Enders die von Ortsvorsteher Heinrich Feldtmann lange angestrebte Fusion festlich begangen« wurde. Eine Hürde schien genommen, um nicht nach Berlin eingemeindet zu werden. 1920 platzte der Traum per Groß-Berlin-Gesetz, und erst da verlor das echte berlinische Schloss an der Spree den Status als Gutsbezirk im Landkreis Niederbarnim. Wäre er aktenkundig mit Alt- und Neu-Weißensee fusioniert worden, was dann? Nicht auszudenken!
Die neue Gemeinde war 1908 sehr wohlhabend und Schlossimitat, Park und Seepromenade, der Brauerei-Ausschank mit zwei Sälen sowie die Badeanstalt wurden aufgekauft, um stetig wechselnde Besitzerungewissheit(!) zu vermeiden. Diese Weitsicht erwies sich als neuzeitlicher Glücksfall. Der Stadtbezirk Pankow als Nachfolgekommune ist nach wie vor Eigentümer und konnte einen Erbbaupachtvertrag mit dem gemeinnützigen Kommunalen Bildungswerk e. V. für das einstige Kulturhaus Peter Edel abschließen. Das hatte seit 1990 mehr Tiefen als Höhen durchgemacht.
Eine öffentliche Besichtigung am Tag des offenen Denkmals legte im September 2016 ein peinliches Erbe offen. Denkmalpflege und Corona gaben in der Folge einen widrigen Bautakt vor. Vom Keller bis zum Dach platzierte sich dem Phoenix gleich ein neues Kleinod am Weißen See. Den Namensgeber Peter Edel würde es freuen, denn Bildung und Kultur waren sein Lebenselixier.
Das Signet des Bildungs- und Kulturzentrums Peter Edel – das Haus erhält am 4. Dezember 2023 den Berliner Denkmalpflegepreises, die Ferdinand-von-Quast-Medaille – ziert die erhaltene charakteristische Dachspitze über dem großen Saal. Und eben der erzählt eine spezielle Geschichte. Sie begann im März 1902 mit Berechnungen der Dachkonstruktion. Am 16. Juni konnte Bauherr Enders die Rohbau- und am 22. Oktober die Gebrauchsabnahme beantragen. Acht-Stunden-Tag? Der kam erst später. Übernommen hatte das Projekt ein Architekt und Baumeister namens Max Bing. Unter den Linden 53, nordseitig nahe Ecke Friedrichstraße, firmierte er mit einer attraktiven Geschäftsadresse. Ein Zeitgenosse von Paul Wallot, der den Reichstag schuf.
Es fanden sich viele namensgleiche Spuren in Berlin, Hamburg, Paris und Köln. Der Geburtseintrag eines Sohnes Martin, ein Aktenfund im Bundesarchiv zu dessen Person sowie alte Berliner Adressbücher führten ins Sächsische. Hermann Edmund Max Bing kam am 15. Dezember 1857 in Schandau als Sohn des Klempnermeisters Edmund Hermann Bing zur Welt.* 1865 zog die Familie nach Dresden. 1874 verstarb der Vater. Sohn Max muss ein sehr guter Schüler gewesen sein, begabt und praktisch veranlagt. Eine Ausbildung zum Baumeister, vermutlich an der etablierten Staatsbauschule, setzte das 16. Lebensjahr und eine Tätigkeit als Maurer oder Zimmerer voraus. Der Unterricht im Winterhalbjahr umfasste fünf Semester und beinhaltete u. a. das Entwerfen von Bauwerken, Mathematik und Physik, Projektionslehre, Feldmessen sowie deutsche Sprache und Buchhaltung. Die Studis müssen von einem anderen Stern gekommen sein. Alles ohne IT und KI!
Das expandierende kaiserliche Berlin lockte Bing wie viele andere an die Spree. 1888 heiratet er Anna Emilie Gertrud Günther. Sie wohnen von 1894 bis 1900 in der Greifswalder Straße 202, stadteinwärts kurz vor der Marienburger Straße. Als viertes von sieben Kindern wird dort ihr Sohn Erich Martin am 27. August 1894 geboren. Drei der Geschwister verstarben kurz nach ihrer Geburt. Keine leichte Zeit.
Zu Bings fachlicher Profession wäre anzumerken, dass in Dresden wie anderenorts der Neobarock oder typische Mischformen des Historismus stilprägend waren, die bei seinen Bauten erkennbar sind. 1899 beteiligt sich Bing mit Otto Scheer, einem Architekten aus Schöneberg, am Wettbewerb für das Nyegaard-Stift im damals preußischen Altona bei Hamburg. Der Entwurf erhielt zwar keinen Preis, wurde aber zum Ankauf empfohlen. Im heutigen Neukölln, das einmal Rixdorf hieß, wurde das Haus Erkstraße 1A in der Datenbank des Landesdenkmalamtes als Umbau erfasst. Bauherren waren Zimmermeister Wilhelm Gäbel und »Eigentümer Max Bing, Baumeister«. Die Fassade gestaltete das Städtische Hochbauamt. Ein Entwurf von Bing war als kleinteilig-historistisch verworfen worden. Er störte wohl das Bild vom modernen neuen Rathaus mit dem schlanken Turm.
Ein prominenter Bauherr Bings war der Chocolatier und Kaiserliche Hoflieferant Theodor Hildebrand, der 1911 ihn und Heinrich Förstchen aus Friedenau mit Neubauten in der Leipziger Straße 100 und Kronenstraße 17 beauftragte, womit sie zu den Mitgestaltern der Berliner City-Architektur zählen, die im 2. Weltkrieg vernichtet oder schwer beschädigt wurde. Im Adressbuch waren seit 1913 der Architekt und der Kommerzienrat mit ihren Geschäftsadressen in der Potsdamer Straße 22a erreichbar. Soweit zur fachlichen Seite der Bing’schen Vita.
Bei der Wohnanschrift NW 52 Helgoländer Ufer 7, die lange Zeit für Max Bing und Sohn Martin gemeinsam galt, sowie der Geschäftsadresse Potsdamer Straße fiel 1921 eine Veränderung auf. Beide verzeichnen den Eintrag Bing & Co., Bankgeschäft, Inh. Martin Bing. Sein Vater war am 22. April 1920 in Dresden verstorben. Im Bundesarchiv fand sich zum Sohn ein Fragebogen der NSDAP Gau Berlin vom 5. November 1935. Der gelernte Bankkaufmann war am 1. August 1931 in die NSDAP eingetreten und gab seine Tätigkeit als »Behördenangestellter« an. Die Frage »Wo tätig?« beantwortete er mit »Landesfinanzamt-Berlin Devisenstelle«.
Das war die zentrale Behörde im Finanzamt Moabit-West, die die Nazi-Gesetze und Verordnungen vollzog und allen deutschen, rassistisch als Juden gebrandmarkten Staatsbürgern jegliche wirtschaftliche und soziale Existenzgrundlage raubte. Zu diesem Personenkreis gehörten Peter Edels Familie und Ignatz Nacher, in dessen Besitz 1911 die Enders-Brauerei übergegangen war und die bis 1921 als Berg-Brauerei Nacher & Co. betrieben wurde.
Berlin ohne Weißensee? Undenkbar! Die Radrennbahn gar feierte 1988 und 1990 einen ihrer größten Triumphe. Joe Cocker, Bruce Springsteen, Tina Turner & Co. rockten hier, was Stimme, Bands, Gitarren und Drums hergaben und Hunderttausende in Ekstase trieb.
Anno 2023 zählt W. als Ortsteil, wiederum einer Reform geschuldet, zu Pankow, dem nach Neukölln an Einwohnern zweitplatzierten Bezirk der Arm-aber-sexy-Bundeshauptstadt. Der Spandauer Spruch »Bewahr uns Gott und Kaisers Hand vor Groß-Berlin und Zweckverband« half nie und niemandem.
Die Weißenseer fahren daher widerständig wie alle vormals Brandenburgischen »inne Stadt« und die Dortigen nach jwd. Ein modus vivendi eben.
* Ancestry.com./Berlin, Deutschland, Heiratsregister, 1874-1936. Der genealogische Dienstleister Ancestry hat die im Landesarchiv vorhandenen Berliner Register teilweise digitalisiert (Geburten bis 1906, Heiraten bis 1940 und Sterbefälle bis 1955) und in einer Datenbank erfasst.
»Alles nach Weißensee zum Sternecker«, erschienen 1997 als Begleitbuch zu der gleichnamigen Ausstellung im STADTGESCHICHTLICHEN MUSEUM WEISSENSEE. Überarbeiteter Nachdruck: Weißenseer Heimatfreunde e. V., 2017.