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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Weißensee – ach so jottwede

Geschich­te am Wei­ßen See ist Viel­falt und Gegen­satz in einem. Der See mit­samt Dorf­idyl­le lag jott­we­de für die Ber­li­ner. Also janz weet drau­ßen, doch per Pfer­de­bahn direk­te­mang erreich­bar – in fast glei­cher Fahr­zeit wie heu­te mit der Tram M4, die Rös­ser durf­ten ampel­frei traben.

Theo­dor Fon­ta­ne wan­der­te von dort per pedes nach Mal­chow. Ein gewis­ser Rudolph Sternecker lud in sei­nen besten Zei­ten die Ber­li­ner zu Volks­ver­gnü­gen aller Art und elek­tri­scher Beleuch­tung ins »Welt-Eta­blis­se­ment Schloss Wei­ßen­see«. Spä­ter ver­schwand er spur­los. Der ursprüng­li­che Guts­haus­neu­bau brann­te 1919 nie­der. Exi­stent blie­ben Braue­rei samt Restau­ra­ti­on. Heu­er berei­ten dem See Was­ser­knapp­heit und klam­me Kom­mu­nal­kas­sen Sorgen.

In jenen fer­nen Jah­ren gehör­te das umlie­gen­de Gemein­de­duo aus Wei­ßen­see-Alt und expan­die­ren­dem Neu-Wei­ßen­see zum Nie­der­bar­nim­schen Kreis im ober­ho­heit­li­chen Regie­rungs­be­zirk Pots­dam. Es wünsch­te sich sehn­lichst Ver­ei­ni­gung und eige­nes Stadt­recht. Am 4. Janu­ar 1905 ver­mel­de­te das Nie­der­bar­ni­mer Kreis­blatt, dass »im gro­ßen Fest­saal der Braue­rei von Gustav Enders die von Orts­vor­ste­her Hein­rich Feldt­mann lan­ge ange­streb­te Fusi­on fest­lich began­gen« wur­de. Eine Hür­de schien genom­men, um nicht nach Ber­lin ein­ge­mein­det zu wer­den. 1920 platz­te der Traum per Groß-Ber­lin-Gesetz, und erst da ver­lor das ech­te ber­li­ni­sche Schloss an der Spree den Sta­tus als Guts­be­zirk im Land­kreis Nie­der­bar­nim. Wäre er akten­kun­dig mit Alt- und Neu-Wei­ßen­see fusio­niert wor­den, was dann? Nicht auszudenken!

Die neue Gemein­de war 1908 sehr wohl­ha­bend und Schlos­si­mi­tat, Park und See­pro­me­na­de, der Braue­rei-Aus­schank mit zwei Sälen sowie die Bade­an­stalt wur­den auf­ge­kauft, um ste­tig wech­seln­de Besit­ze­r­un­ge­wiss­heit(!) zu ver­mei­den. Die­se Weit­sicht erwies sich als neu­zeit­li­cher Glücks­fall. Der Stadt­be­zirk Pan­kow als Nach­fol­ge­kom­mu­ne ist nach wie vor Eigen­tü­mer und konn­te einen Erb­bau­pacht­ver­trag mit dem gemein­nüt­zi­gen Kom­mu­na­len Bil­dungs­werk e. V. für das ein­sti­ge Kul­tur­haus Peter Edel abschlie­ßen. Das hat­te seit 1990 mehr Tie­fen als Höhen durchgemacht.

Eine öffent­li­che Besich­ti­gung am Tag des offe­nen Denk­mals leg­te im Sep­tem­ber 2016 ein pein­li­ches Erbe offen. Denk­mal­pfle­ge und Coro­na gaben in der Fol­ge einen wid­ri­gen Bau­t­akt vor. Vom Kel­ler bis zum Dach plat­zier­te sich dem Phoe­nix gleich ein neu­es Klein­od am Wei­ßen See. Den Namens­ge­ber Peter Edel wür­de es freu­en, denn Bil­dung und Kul­tur waren sein Lebenselixier.

Das Signet des Bil­dungs- und Kul­tur­zen­trums Peter Edel – das Haus erhält am 4. Dezem­ber 2023 den Ber­li­ner Denk­mal­pfle­ge­prei­ses, die Fer­di­nand-von-Quast-Medail­le – ziert die erhal­te­ne cha­rak­te­ri­sti­sche Dach­spit­ze über dem gro­ßen Saal. Und eben der erzählt eine spe­zi­el­le Geschich­te. Sie begann im März 1902 mit Berech­nun­gen der Dach­kon­struk­ti­on. Am 16. Juni konn­te Bau­herr Enders die Roh­bau- und am 22. Okto­ber die Gebrauchs­ab­nah­me bean­tra­gen. Acht-Stun­den-Tag? Der kam erst spä­ter. Über­nom­men hat­te das Pro­jekt ein Archi­tekt und Bau­mei­ster namens Max Bing. Unter den Lin­den 53, nord­sei­tig nahe Ecke Fried­rich­stra­ße, fir­mier­te er mit einer attrak­ti­ven Geschäfts­adres­se. Ein Zeit­ge­nos­se von Paul Wal­lot, der den Reichs­tag schuf.

Es fan­den sich vie­le namens­glei­che Spu­ren in Ber­lin, Ham­burg, Paris und Köln. Der Geburts­ein­trag eines Soh­nes Mar­tin, ein Akten­fund im Bun­des­ar­chiv zu des­sen Per­son sowie alte Ber­li­ner Adress­bü­cher führ­ten ins Säch­si­sche. Her­mann Edmund Max Bing kam am 15. Dezem­ber 1857 in Schand­au als Sohn des Klemp­ner­mei­sters Edmund Her­mann Bing zur Welt.* 1865 zog die Fami­lie nach Dres­den. 1874 ver­starb der Vater. Sohn Max muss ein sehr guter Schü­ler gewe­sen sein, begabt und prak­tisch ver­an­lagt. Eine Aus­bil­dung zum Bau­mei­ster, ver­mut­lich an der eta­blier­ten Staats­bau­schu­le, setz­te das 16. Lebens­jahr und eine Tätig­keit als Mau­rer oder Zim­me­rer vor­aus. Der Unter­richt im Win­ter­halb­jahr umfass­te fünf Seme­ster und beinhal­te­te u. a. das Ent­wer­fen von Bau­wer­ken, Mathe­ma­tik und Phy­sik, Pro­jek­ti­ons­leh­re, Feld­mes­sen sowie deut­sche Spra­che und Buch­hal­tung. Die Stu­dis müs­sen von einem ande­ren Stern gekom­men sein. Alles ohne IT und KI!

Das expan­die­ren­de kai­ser­li­che Ber­lin lock­te Bing wie vie­le ande­re an die Spree. 1888 hei­ra­tet er Anna Emi­lie Ger­trud Gün­ther. Sie woh­nen von 1894 bis 1900 in der Greifs­wal­der Stra­ße 202, stadt­ein­wärts kurz vor der Mari­en­bur­ger Stra­ße. Als vier­tes von sie­ben Kin­dern wird dort ihr Sohn Erich Mar­tin am 27. August 1894 gebo­ren. Drei der Geschwi­ster ver­star­ben kurz nach ihrer Geburt. Kei­ne leich­te Zeit.

Zu Bings fach­li­cher Pro­fes­si­on wäre anzu­mer­ken, dass in Dres­den wie ande­ren­orts der Neo­ba­rock oder typi­sche Misch­for­men des Histo­ris­mus stil­prä­gend waren, die bei sei­nen Bau­ten erkenn­bar sind. 1899 betei­ligt sich Bing mit Otto Scheer, einem Archi­tek­ten aus Schö­ne­berg, am Wett­be­werb für das Nye­gaard-Stift im damals preu­ßi­schen Alto­na bei Ham­burg. Der Ent­wurf erhielt zwar kei­nen Preis, wur­de aber zum Ankauf emp­foh­len. Im heu­ti­gen Neu­kölln, das ein­mal Rix­dorf hieß, wur­de das Haus Erk­stra­ße 1A in der Daten­bank des Lan­des­denk­mal­am­tes als Umbau erfasst. Bau­her­ren waren Zim­mer­mei­ster Wil­helm Gäbel und »Eigen­tü­mer Max Bing, Bau­mei­ster«. Die Fas­sa­de gestal­te­te das Städ­ti­sche Hoch­bau­amt. Ein Ent­wurf von Bing war als klein­tei­lig-histo­ri­stisch ver­wor­fen wor­den. Er stör­te wohl das Bild vom moder­nen neu­en Rat­haus mit dem schlan­ken Turm.

Ein pro­mi­nen­ter Bau­herr Bings war der Cho­co­la­tier und Kai­ser­li­che Hof­lie­fe­rant Theo­dor Hil­de­brand, der 1911 ihn und Hein­rich Först­chen aus Frie­den­au mit Neu­bau­ten in der Leip­zi­ger Stra­ße 100 und Kro­nen­stra­ße 17 beauf­trag­te, womit sie zu den Mit­ge­stal­tern der Ber­li­ner City-Archi­tek­tur zäh­len, die im 2. Welt­krieg ver­nich­tet oder schwer beschä­digt wur­de. Im Adress­buch waren seit 1913 der Archi­tekt und der Kom­mer­zi­en­rat mit ihren Geschäfts­adres­sen in der Pots­da­mer Stra­ße 22a erreich­bar. Soweit zur fach­li­chen Sei­te der Bing’schen Vita.

Bei der Wohn­an­schrift NW 52 Hel­go­län­der Ufer 7, die lan­ge Zeit für Max Bing und Sohn Mar­tin gemein­sam galt, sowie der Geschäfts­adres­se Pots­da­mer Stra­ße fiel 1921 eine Ver­än­de­rung auf. Bei­de ver­zeich­nen den Ein­trag Bing & Co., Bank­ge­schäft, Inh. Mar­tin Bing. Sein Vater war am 22. April 1920 in Dres­den ver­stor­ben. Im Bun­des­ar­chiv fand sich zum Sohn ein Fra­ge­bo­gen der NSDAP Gau Ber­lin vom 5. Novem­ber 1935. Der gelern­te Bank­kauf­mann war am 1. August 1931 in die NSDAP ein­ge­tre­ten und gab sei­ne Tätig­keit als »Behör­den­an­ge­stell­ter« an. Die Fra­ge »Wo tätig?« beant­wor­te­te er mit »Lan­des­fi­nanz­amt-Ber­lin Devisenstelle«.

Das war die zen­tra­le Behör­de im Finanz­amt Moa­bit-West, die die Nazi-Geset­ze und Ver­ord­nun­gen voll­zog und allen deut­schen, ras­si­stisch als Juden gebrand­mark­ten Staats­bür­gern jeg­li­che wirt­schaft­li­che und sozia­le Exi­stenz­grund­la­ge raub­te. Zu die­sem Per­so­nen­kreis gehör­ten Peter Edels Fami­lie und Ignatz Nacher, in des­sen Besitz 1911 die Enders-Braue­rei über­ge­gan­gen war und die bis 1921 als Berg-Braue­rei Nacher & Co. betrie­ben wurde.

Ber­lin ohne Wei­ßen­see? Undenk­bar! Die Rad­renn­bahn gar fei­er­te 1988 und 1990 einen ihrer größ­ten Tri­um­phe. Joe Cocker, Bruce Springsteen, Tina Tur­ner & Co. rock­ten hier, was Stim­me, Bands, Gitar­ren und Drums her­ga­ben und Hun­dert­tau­sen­de in Eksta­se trieb.

Anno 2023 zählt W. als Orts­teil, wie­der­um einer Reform geschul­det, zu Pan­kow, dem nach Neu­kölln an Ein­woh­nern zweit­plat­zier­ten Bezirk der Arm-aber-sexy-Bun­des­haupt­stadt. Der Span­dau­er Spruch »Bewahr uns Gott und Kai­sers Hand vor Groß-Ber­lin und Zweck­ver­band« half nie und niemandem.

Die Wei­ßen­seer fah­ren daher wider­stän­dig wie alle vor­mals Bran­den­bur­gi­schen »inne Stadt« und die Dor­ti­gen nach jwd. Ein modus viven­di eben.

 * Ancestry.com./Berlin, Deutsch­land, Hei­rats­re­gi­ster, 1874-1936. Der genea­lo­gi­sche Dienst­lei­ster Ance­stry hat die im Lan­des­ar­chiv vor­han­de­nen Ber­li­ner Regi­ster teil­wei­se digi­ta­li­siert (Gebur­ten bis 1906, Hei­ra­ten bis 1940 und Ster­be­fäl­le bis 1955) und in einer Daten­bank erfasst.

»Alles nach Wei­ßen­see zum Sternecker«, erschie­nen 1997 als Begleit­buch zu der gleich­na­mi­gen Aus­stel­lung im STADTGESCHICHTLICHEN MUSEUM WEISSENSEE. Über­ar­bei­te­ter Nach­druck: Wei­ßen­seer Hei­mat­freun­de e. V., 2017.