Der deutsche Kaiser Wilhelm II. verkündete am 1. August 1914 vom Balkon des Berliner Schlosses, das gerade wieder aufgebaut worden ist, den Krieg. Der nun »ausgebrochene« Krieg, so betonte er, sei ein Verteidigungskrieg, denn er sei »das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reiches«. Alle sollten nun in Reih und Glied hinter ihm stehen, laut verkündete er der aufgeputschten Menge: »In dem bevorstehenden Kampfe kenne Ich in Meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche.« Die versammelte Menge antwortete ihm mit dem Lied »Nun danket alle Gott« – vielleicht wurde aber auch die preußische Volkshymne »Heil dir im Siegerkranz« angestimmt. Darüber sind sich die Quellen genauso wenig einig, wie über die Gründe des losgetretenen Krieges, denn »ausgebrochen« ist er sicher nicht einfach von selbst.
Nahezu alle sozialistischen Parteien in den kriegführenden Ländern bekannten sich nun zur »Verteidigung des Vaterlandes« und damit des bürgerlich-kapitalistischen Staates, dessen Sturz sie bis dahin angestrebt hatten. Sie stimmten damit ein in die Euphorie der Massen, die – so wird es heute oft erklärt – den Krieg als reinigendes Gewitter nach Jahren einer gewissen Übersättigung und Dekadenz begrüßten. In der freudigen Erwartung – und so hatte es ihnen auch Kaiser Wilhelm II versprochen –, spätestens Weihnachten 1914 siegreich wieder zu Hause zu sein, zogen die Soldatin ins Feld. Viele Frauen schickten nicht nur ihre Liebsten in den Krieg, sondern waren auch selbst an der »Heimatfront« aktiv. So unterstützten sie das Morden der Männer.
Die Hoffnung auf einen schnellen Sieg wurde nicht erfüllt. Auch aus der Familien-Weihnachtsfeier wurde nichts. Die Soldaten auf der deutschen Seite der über 600 km langen Kampffront, die sich von der Nordsee bis an die Alpen erstreckte, bekamen einen Weihnachtsgruß vom Kaiser; soweit sie noch lebten. Rund 750.000 Männerleben hatte der Krieg bis dahin bereits gekostet. Ungezählte Verwundete lagen in den Lazaretten.
In die Quartiere, Unterstände und Schützengräben bekamen die Überlebenden Tannenbäumchen, die bereits mit Kerzen geschmückt waren, gestellt. Sie waren ausgehungert, kraftlos, froren, weil sie keine warme Winterkleidung hatten und hungerten, weil die Essensrationen ausblieben. Sie träumten oder erzählten sich gegenseitig von der heil(ig)en Familie, von Weihnachtsglocken und dem knusprigen Gänsebraten mit dunkler Soße, von Rotkohl und dampfenden Klößen und Birnenkompott zum Nachtisch. Weihnachtsstimmung wollte nicht aufkommen. Oder doch?
Zahlreiche aus Tagebucheintragungen, Zeitzeugenberichten und Feldpostbriefen zusammengetragene Berichte erzählen vom »Weihnachtsfrieden 1914«, einem kleinen Frieden im großen Krieg, Weihnachtsfeiern, die niemand angeordnet hatte, initiiert von den einfachen Soldaten in den Schützengräben. Wie für jeden Kriegsmythos gibt es auch für diesen verschiedene Erzählungen, die oft wie Weihnachtsmärchen klingen. Ähnlich sind sie sich darin, dass die Soldaten auf beiden Seiten der Front von den Kämpfen des ersten Kriegshalbjahres und vom einbrechenden Winter erschöpft waren. Offensichtlich ermächtigten sie sich selbst und stellten das Kämpfen ein. Während der Feuerpausen sangen sie christliche Weihnachtslieder, entzündeten die gelieferten Weihnachtsbäume und nahmen Kontakt zu den gegenüberliegenden Soldaten auf. An manchen Orten stiegen sie aus den Schützengräben ins Niemandsland. Dort reichten sie ihren Feinden die Hände, sangen gemeinsam, tauschten Zigaretten und kleine Geschenke, manche auch Adressen aus. Vielleicht wollten sie sich besuchen, wenn der schreckliche Krieg zu Ende war. Auch die Leichen der gefallenen Kameraden wurden jetzt bestattet. In einer sportlichen Variante sollen die Kriegsgegner Fußball gespielt haben. Das »Länderspiel« sollen die deutschen Soldaten mit einem 3:1-Sieg gewonnen haben.
Die Generäle schickten die Soldaten mit Strafandrohungen nach dem kurzen Intermezzo in die Gräben zurück, wo diese auch blieben und an allen Fronten weiter töteten, weil die Kriegsbegeisterung bei den meisten ungebrochen war und sie überzeugt waren, dass sie den Feind siegreich schlagen würden. So befolgten sie die Fraternisierungsverbote, die zwischen Soldaten der feindlich gesinnten Kriegsparteien ausgesprochen wurden. Danach wurde das Ereignis erst einmal totgeschwiegen; auch von den Medien. Erst viel später kamen die Berichte vom »Weihnachtsfrieden«, der leider keinen Frieden brachte.
Auf den weiteren Verlauf des Ersten Weltkriegs hatte das offenbar historisch verbürgte Ereignis keinen Einfluss genommen. Die Soldaten stellten keine Forderungen nach weiterer Verbrüderung oder gar nach einem Ende des sinnlosen Krieges. Das Morden ging weiter, auch über die Weihnachtstage von 1915, 1916, 1917 und teilweise über das Fest von 1918 hinaus. Es war der erste moderne Krieg, ein totaler Krieg. Artilleriegeschütze und Sprenggranaten waren effektiver als in den Kriegen vorher, so konnten »feindliche« Soldaten auf große Entfernungen getroffen werden. Noch verheerender wirkten das erstmals eingesetzte Giftgas sowie Fliegerangriffe und U-Boot-Krieg.
Die Frauen und Mütter schickten zu Weihnachten weiter Liebesgaben-Pakete an die Front, um die Soldaten zum Durchhalten zu ermuntern. Sie enthielten Zigaretten, Seife und Schokolade und handgestrickte Wollsachen. Der preußische Schulminister richtete einen Erlass an die Schulen, nach dem in den Handarbeitsstunden ausschließlich Liebesgaben für Soldaten an der Front zu fertigen sind. Dazu zählten insbesondere Wollstrümpfe, gestrickte Leibbinden und gestrickte Unterziehjacken. Anfangs übernahmen Sammelstellen des Roten Kreuzes und die Vaterländischen Frauenvereine die Weiterleitung der Gaben an die Soldaten. Später packten die Schulen die Pakete selbst und verschickten sie.
Schon ganz junge Buben und Mädchen sollten in Familie und Schule darüber aufgeklärt werden, dass ihr Vater im Krieg war und deshalb nicht zu Hause sein konnte, weil er das »Vaterland« und die Familie gegen die ausländischen Aggressoren verteidigen musste und daher Lob verdiente. Dazu dienten Bücher, Lieder, Kriegsspielzeug, Zinnsoldaten und andere Spiele. Hauptziel der Bücher und des Spielzeugs war es, den Kindern einen »gerechten Krieg« zu vermitteln und sie für den Krieg zu begeistern. Durch die verschiedensten Propagandamethoden sollte den Kindern beigebracht werden, was von ihnen im späteren Leben erwartet wird: Als brave, tapfere Soldaten in des Kaisers Heer zu dienen und pflichtbewusst für das Vaterland in den Krieg zu ziehen oder als brave dienende Mädchen die Helden zu bewundern und Familie und »Heimatfront« am Laufen zu halten, ohne auch nur ein einziges Mal das Töten zu hinterfragen.
Nach Ende des Ersten Weltkrieges waren zwei Millionen Menschen tot und 4,2 Millionen (zum Teil stark) verwundet. Rund 2,7 Millionen Männer aller Altersstufen überlebten den Krieg mit einer physischen oder psychischen Behinderung. Auch die Anzahl der Toten in der Zivilbevölkerung war beachtlich. In Deutschland lebten nun 2,7 Millionen mehr Frauen als Männer. Große Teile der Bevölkerung litten an Unterernährung, viele starben daran. In (fast) allen deutschen Städten und Gemeinden erinnerten bald Denkmäler und Tafeln mit langen Namensreihen an die im Krieg zu Tode gekommenen »Kameraden«. »Kriegerwitwen« wurden als »trauernde Frauen« verehrt. Viele Kinder hatten den Vater nie gesehen. Aus den Kindern des Ersten Weltkrieges wurden nur zwei Jahrzehnte später die Soldaten und Kriegsmütter des Zweiten Weltkrieges.
Gisela Notz lebt und arbeitet in Berlin. Zu Weihnachten erscheint jedes Jahr ihr Wandkalender Wegbereiterinnen, mit 12 zu Unrecht vergessenen Frauen aus der Geschichte. 2022 erscheint er im 20. Jahr, www.gisela-notz.de.