Am 22.12.1932 kam der seit Mai des Jahres inhaftierte Carl von Ossietzky frei. Eine sog. Weihnachtsamnestie war durch das noch halbwegs funktionierende Parlament verabschiedet worden, die – auf Druck der SPD – den als »Landesverräter« verurteilten Leiter der Weltbühne aus der Haft befreien sollte. Im November 1931 war er wegen eines Artikels zur illegalen Reichswehrfinanzierung zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ossietzky hatte den Artikel zwar nicht geschrieben, aber die Verantwortung dafür übernommen. Der Autor hatte sich nach Paris ins Exil begeben. Die Begründung des Leipziger Gerichts war abstrus genug, aber typisch für das autoritäre Justizsystem, dem jede Form des Antimilitarismus oder gar eines militanten Pazifismus ein Dorn im Auge war. Für das Gericht spielte es keine Rolle, dass die aufgedeckte Finanzierung illegal war. Es spielte auch keine Rolle, dass die Informationen den einschlägigen Kreisen im Inland und Ausland bekannt waren. Da die Informationen nur »bestimmten Kreisen« zugänglich gewesen seien, hätten sie eben doch als geheim zu gelten. Einem Eskimo waren sie, wie ein kritischer Kommentator schrieb, eben nicht bekannt. Ossietzky wurde auf diese Weise als »Landesverräter« gebrandmarkt. Gleichzeitig wurde so ein Exempel statuiert, das abschreckend wirken sollte. Da ein Gnadengesuch – die einzige Form einer möglichen Revision – ebenso abgelehnt wurde wie eine Umwandlung in Festungshaft, musste Ossietzky im Mai seine Haft im Gefängnis Tegel antreten. Flüchten, sich in Sicherheit bringen, ins Exil gehen, wollte er nicht. Nicht aus Gründen der Loyalität, wie er am 10.5.1932 in der Weltbühne betonte, sondern »weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin«.
Ossietzky war damit dem Gefängnisalltag unterworfen, unterbrochen von einem weiteren Prozess, den er dank einer cleveren Prozessstrategie gewinnen konnte. Gefängnisalltag: Das hieß, auf einen Raum von 6 Quadratmetern beschränkt zu sein, schlechtes Essen, Kaffee- und Nikotinentzug, massiv eingeschränkte Kontakte: Seine Frau durfte ihn nur alle sechs Wochen besuchen. Ossietzky versuchte, sich durch eigene Arbeit, u. a. die Vorbereitungen zu einem Deutschlandbuch, zu beschäftigen. Erst als er nach 227 Tagen freikam, gibt er einen Einblick in die »abgesonderte« Gefängniswelt, die er erlebt hat, jene »Welt, die eingemauert zwischen uns ragt und von der wir weniger wissen als von Tibet oder der Osterinsel« (Weltbühne, 27.12.1932). Das Gefängnis in Tegel sei zwar kein »Haus der gewollten Härte und der traditionellen Quälereien«, aber dennoch ein »Haus des Jammers, in dem hinter jeder Eisentür ein andrer trauriger Globus kreist, durch schicksalsmäßige Verstrickung in dieser Bahn gehalten«. In der Welt des Gefängnisses gibt es somit keine Schuld, nur Opfer. Den »Rechtsprechern« sei die Welt der Zellenhaft natürlich unbekannt. In der Amnestiedebatte hatte übrigens ein deutschnationaler Abgeordneter davor gewarnt, das juristische System durch allzu viele Straferlässe aufzuweichen. Dadurch werde die »Berufsfreudigkeit« der Richter gelähmt.
Während der 227 Tage, die Ossietzky im Gefängnis verbringt, verstärkt sich die Faschisierung des Landes. Immer wieder werden die entsprechenden Weichen in dieser Richtung gestellt, Alternativen kläglich vergeben oder ignorant abgewiesen. Eine solche Weichenstellung war die Präsidentenwahl 1932, die noch vor Ossietzkys Haftantritt stattfand. Ossietzky hatte unmissverständlich für den KPD-Kandidaten Thälmann Stellung bezogen. Wie konnte man glauben, dass ausgerechnet Hindenburg Hitler stoppen sollte? So lautete die Argumentation der SPD, die keinen eigenen Kandidaten aufstellte. Eine Woche vor Haftantritt schreibt Ossietzky den aufrüttelnden Artikel »Ein runder Tisch wartet«, in dem er deutlich macht, dass nur eine geschlossen handelnde Volksfront die Vernichtung der organisierten Arbeiterklasse verhindern kann. Dabei weiß er natürlich um die fundamentalen Differenzen der beiden Parteien und die immer wiederholten, stets paraten Schuldzuweisungen. Doch gleichzeitig fragt er warnend: »Werdet ihr morgen überhaupt noch Gelegenheit zur Aussprache haben? Wird man euch das noch erlauben?« (Weltbühne, 3.5.1932).
Diese Einschätzung sollte sich nur als allzu wahr erweisen. Zu einer Einheitsfront kam es nur in einzelnen Fällen, etwa beim Streik der Berliner Verkehrsbetriebe im Sommer 1932. Hitler konnte bei Wahlergebnissen, die sich stets um 30 Prozent bewegten, warten, bis man ihn rief. Die Forderung nach »Einbindung der rechten Kräfte« wurde immer stärker. Bereits Heinrich Brüning hatte ohne Parlament regiert, um seine Austeritätsmaßnahmen auf Kosten der sozial Schwachen durchzusetzen. Auch der Nachfolger Franz von Papen, dessen parlamentarische Basis noch dürftiger war, wollte das Heft in der Hand behalten. Im Sommer wurden die Terrororganisationen SA und SS wieder zugelassen, durch deren Einsatz Hitler jene bürgerkriegsähnlichen Zustände schuf, deren nur er Herr werden könne. In Preußen wurde die sozialdemokratische Regierung abgesetzt. Als es bei den Novemberwahlen einen empfindlichen Dämpfer für Hitlers Faschisten gab, verfiel man darauf, den General Schleicher als neuen Kanzler zu installieren. Doch der Druck seitens der Industrie, Hitler endlich die Macht übergeben wurde, immer stärker. All dies änderte nichts an der Weigerung der SPD, endlich die Aktionseinheit mit der KPD zu realisieren.
Ossietzky verfolgte die Entwicklungen aus seiner Gefängniszelle. Unter dem Pseudonym Thomas Murner schrieb er weiterhin Artikel und nahm sich dabei auch Dinge vor, die von der republikanischen Linken vernachlässigt wurden, wie etwa Otto Strassers »deutschen Sozialismus«, die Ideologie des Tatkreises oder den Antisemitismus, den er als »dem Nationalismus blutsverwandt« charakterisierte. An zwei heute eher unbekannten Werken zeigte Ossietzky, wie der literarische Antisemitismus funktioniert, wie hanebüchen und lächerlich die Versuche sind, das Jüdische als angeblich volksfremd hinzustellen und nach dem jüdischen Tonfall bei Marx oder jüdischer Gestik bei Heine nachzuspüren. Für Ossietzky zeigt sich hier nur eine mühsam unterdrückte Bereitschaft zum Pogrom. Ironisch schlägt er den weniger intellektuell beschwerten Zeitgenossen und -genossinnen vor, »das Stück Pöbel in sich zu entbinden« und ihrer Wut gegenüber den jüdischen Mitbürgern aggressiven Ausdruck zu verleihen, sie zu beleidigen, zu erniedrigen, sie physisch und psychologisch zu drangsalieren. Vor Gerichten bräuchten sie dabei keine Angst zu haben, denn diese würden der »bedrängten Seelenlage sicher Verständnis entgegenbringen« (Weltbühne, 19.7.1932).
Gibt es Anzeichen dafür, dass Ossietzky nach der Rückkehr in sein Büro Hoffnung schöpfte? Natürlich waren die Ergebnisse der Novemberwahlen relativ ermutigend, doch eine Aktionseinheit von Kommunisten und Sozialdemokraten war nicht in Sicht. Letztere beharrten weiterhin auf den Grundlagen verfassungsmäßiger Legalität. Ossietzky deckte dagegen schon früh auf, dass – neben dem Druck der politisch mächtigen Industriellen – eine preußische Kamarilla um Hindenburg eine entscheidende Rolle spielte. Dennoch blieb Ossietzky auch nach dem 30.1.33 in Deutschland. Vier Wochen später, kurz nach dem Reichstagsbrand, wurde er mitten in der Nacht verhaftet. Für die Behörden war er immer noch der »Landesverräter«, den man in irgendwelchen Lagern verschwinden lassen konnte. Dass er eigentlich seit Weihnachten 1932 amnestiert war, spielte keine Rolle.