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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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We(i)hnachten 2024

Pünkt­lich zum Fest fiel die Spül­ma­schi­ne aus, und ich wur­de durch einen Virus lahm­ge­legt. Coro­na-Sym­pto­ma­tik, nega­ti­ver Test. Mei­ne Fami­lie war enga­giert beim Weih­nachts­ora­to­ri­um, unter Musi­kern lapi­dar WO genannt. Da konn­te ich nicht feh­len. Eine Auf­füh­rung für die Klei­nen soll­te es geben, eine für die Gro­ßen, schließ­lich ein gemein­sa­mes Blatt­spie­len und -sin­gen für alle. Einen dicken Schal um den Hals, eine war­me Müt­ze auf dem Kopf mach­te ich mich auf den Weg, in den Taschen Sal­bei, Euka­lyp­tus und Tem­pos. Die Noten nahm ich nicht mit. An Sin­gen war nicht zu denken.

Eine Mario­net­ten-Spie­le­rin beglei­te­te die erste Auf­füh­rung, zog die Auf­merk­sam­keit der Kin­der auf sich und über­setz­te das Gesche­hen in fass­li­che Wor­te und Sze­nen. Es war ganz dun­kel drau­ßen. Da waren Hir­ten auf der Wei­de, die hat­ten sich ein Lager­feu­er gemacht, und ganz in der Nähe wei­de­ten ihre Scha­fe, ganz vie­le schwar­ze Scha­fe. Der Chor begriff, die Sänger/​innen, fest­lich schwarz geklei­det, began­nen fröh­lich zu blö­ken. War­um die Scha­fe alle schwarz waren? War­um soll­ten sie weiß gewe­sen sein? Mari­as Schlaf­lied wur­de zu einem inni­gen Tanz der Alti­stin mit der Mario­net­te. Ja, dach­te ich, Musik ist Bewe­gung, Leben, nicht die­se star­re, aka­de­mi­sche, ver­kopf­te deut­sche Musik­tra­di­ti­on. Je mehr da gejaucht und froh­lockt wird, desto stei­fer sitzt alles auf den Bän­ken fest­ze­men­tiert. Und wehe, jemand flü­stert. Oder hustet.

Sonst war alles wie sonst. Erschöpft schlepp­te ich mich am Hei­li­gen Abend in die Kir­che, die voll besetzt war bis zum letz­ten Platz, nicht aus Glau­bens­ei­fer, son­dern aus Tra­di­ti­on, wie die mei­sten Kirch­gän­ger am Hei­li­gen Abend. Wie soll man das Fest sonst bege­hen in einem Land, das über Jahr­hun­der­te vom Chri­sten­tum geprägt wur­de. Zum Glück fand ich einen Platz gleich am Mit­tel­gang. So konn­te ich flüch­ten, falls ich durch Nie­sen oder einen Husten­fan­fall kri­ti­sche Blicke auf mich zie­hen würde.

Die enga­gier­te jun­ge Pfar­re­rin hat­te zwei Ideen, die sie zwar nicht recht ver­knüpft bekam, aber in wohl­tu­en­der Kür­ze über­zeu­gend vor­trug. Das war erfreu­lich anders als die Pre­dig­ten, die ich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren gehört hat­te, in denen jeweils über­haupt kei­ne Idee rhe­to­risch aus­ge­walzt wur­de. Sie sprach von »Weh­nach­ten«. Das hat­te einer ihrer Kon­fir­man­den geschrie­ben, als Kern­wort für eine Mind­map. Die ande­ren lach­ten. Da fehlt ja das »i«. Jawohl Weh! Wie wird mir weh, wenn ich dar­an den­ke. Da kehrt die­ser Tisch­ler in sei­ne Hei­mat­stadt zurück, sei­ne Frau ist hoch­schwan­ger, und sie fin­den kei­nen ande­ren Platz als im Stall bei den Tie­ren. Und dann kom­men die Wehen, die zu Weih­nach­ten dazu­ge­hö­ren, ohne die die­ses Fest nicht zu den­ken ist. So beschwört die jun­ge Frau von der Kan­zel zwar ety­mo­lo­gisch nicht ganz kor­rekt, aber wahr­haf­tig und ori­gi­nell die Hei­li­ge Nacht, die sich begab vor 2024 Jah­ren wie heu­te. Ich selbst hat­te vier­mal die Gele­gen­heit, an so einer Weh­nacht teil­zu­neh­men. Das ging schon für mich als kaum betei­lig­ten Beob­ach­ter über alle Kräf­te. In sol­chen Augen­blicken geht es immer um alles. Jede Geburt ist eine Weih­nacht, mit der die Welt neu beginnt.

Ein hab­gie­ri­ger Kai­ser, der wis­sen will, wie vie­le See­len er beherrscht, zwingt die Men­schen, sich in ihre Her­kunfts­or­te zu bege­ben, um sich dort in sei­ne Steu­er-Listen ein­tra­gen zu las­sen. Gna­den­los. Für den Zim­mer­mann Josef bedeu­tet das eine Fuß­rei­se von Naza­reth nach Beth­le­hem mit­ten im Win­ter. Schlap­pe 150 km, das kann man in einer Woche gut schaf­fen. Wenn man fit ist, ein paar gute Berg­schu­he hat und die Wege in den Ber­gen eini­ger­ma­ßen gang­bar sind. Wie die Alten, Kran­ken und Frau­en mit klei­nen Kin­dern klar­kom­men soll­ten, davon steht nichts im Neu­en Testa­ment. Nur, dass Josef sich auf den Weg mach­te, zusam­men mit Maria, die er zur Frau genom­men hat­te, obwohl sie schwan­ger war – aber nicht von ihm.

Schon dies nahm mich immer für Josef ein. Er hat die Schan­de uner­schrocken auf sich genom­men. Wie lan­ge hat die christ­li­che Kir­che unehe­li­che Kin­der und ihre Müt­ter dis­kri­mi­niert. Dabei war Jesus selbst eines. Josef setz­te sich dar­über hin­weg und hei­ra­te­te Maria. Die Sache mit der unbe­fleck­ten Emp­fäng­nis und dem Hei­li­gen Geist? Na ja. Von den Män­nern, die ich ken­ne, wäre jeder für so eine Erklä­rung aus­ge­lacht und ver­spot­tet wor­den. Wie Josefs trot­zi­ge Hoch­zeit bei sei­nen Nach­barn ankam, dar­über berich­tet die Bibel nichts. Ganz schlimm kann es nicht gewe­sen sein. Schließ­lich ist die Fami­lie nach dem Aus­flug nach Beth­le­hem zurück­ge­kehrt nach Naza­reth, wo Jesus auf­wuchs. Josef war offen­bar ein tüch­ti­ger Hand­wer­ker, beschei­den und klug und sei­ner Frau und sei­nem Sohn lie­be­voll zuge­tan. Sol­che fin­den über­all ihr Aus­kom­men. Auch unter Frem­den. Josef war schließ­lich nicht aus Naza­reth, son­dern ein Migrant.

Aber in Beth­le­hem, heißt es, beka­men die bei­den kei­ne anstän­di­ge Unter­kunft, obwohl deut­lich sicht­bar war, dass Mari­as Ent­bin­dung bevor­stand. Nie­mand woll­te sie auf­neh­men. Dabei stamm­te Josef aus die­sem Ort. Hat­te er kei­ne Ver­wand­ten dort, kei­ne Freun­de? In einer Her­ber­ge muss­ten sie Unter­schlupf suchen. Dass die voll belegt waren, kann man sich vor­stel­len. Für die Nacht, in der die Wehen ein­setz­ten, muss­ten sie mit einem Stall Vor­lieb neh­men. Für die­se Hart­her­zig­keit hät­te Beth­le­hem ver­dient, als nie­der­träch­tig­ster Ort der Welt für alle Zei­ten in Ver­ruf zu geraten.

In rein­li­chen Win­deln das lieb­li­che Kind. In einer wohl­ge­zim­mer­ten Krip­pe. Öchs­lein und Esel­chen muhen dazu und schar­ren zutrau­lich mit den Hufen. Das macht sich nied­lich als sau­ber in Lin­den­holz geschnitz­te Figu­ren­grup­pe unter einer frisch geschla­ge­nen duf­ten­den Tan­ne mit künst­li­chem Ster­nen-Schmuck in einer gut geheiz­ten Kir­che oder in der Hosen­ta­schen­ver­si­on zu Hau­se auf Fen­ster­brett oder Kamin­sims. Gene­ra­tio­nen haben an der sen­ti­men­ta­len Aus­schmückung des Bil­des mit­ge­wirkt. Die Hei­li­ge Familie.

Josef, Maria und ihr Bastard jeden­falls waren nicht will­kom­men in ihrer Fami­lie. Und wenn Chri­stus wirk­lich ein Mensch war, dann habe ich auch mei­ne Zwei­fel an der Rein­lich­keit der Win­deln, in die er gewickelt wur­de. Bei den Ver­hält­nis­sen. Es gab schließ­lich noch kei­ne Pam­pers. Wir als ech­te Ökos haben wenig­stens bei unse­rem ersten Kind noch aus­pro­biert, wie es geht mit Mull­win­deln, wie oft man wech­seln, spü­len, trock­nen muss. Sie hat­ten doch ver­mut­lich eine Wasch­ma­schi­ne und einen Trock­ner in die­sem Stall? Und gewiss auch eine Schüs­sel mit sau­be­rem war­mem Was­ser, um das Kind zu waschen. Und was Josef und Maria sonst noch so alles mit­ge­schleppt hat­ten in ihrem Rei­se­ge­päck. Oder hat­ten sie die nöti­gen Klei­nig­kei­ten von ihren Gast­ge­bern bekom­men? Wir haben zwar kei­nen Platz, aber sonst soll es euch an nichts feh­len. Es war Mari­as erste Geburt. Von einer Heb­am­me ist nicht die Rede. Hat Josef das alles allein mit ihr durch­ge­stan­den? – Die­se Geschich­te, die auf uner­träg­li­che Wei­se sen­ti­men­tal über­höht jedes Jahr in allen Kir­chen erzählt wird, ist eine Geschich­te von bit­ter­ster Not, Dis­kri­mi­nie­rung, Armut und Ent­rech­tung. Wei­ter run­ter geht es nicht. Kyrie eleis.

Ich habe den Bibel­ab­schnitt Lukas 2 noch ein­mal vor­ge­le­sen zu Hau­se, vor der Besche­rung. Die Kin­der woll­ten es so. An sei­nem Ende steht ein Satz, der in der Kir­che weg­ge­las­sen wur­de und der auch im WO nicht vor­kommt: »Und als acht Tage um waren und man das Kind beschnei­den muss­te, gab man ihm den Namen Jesus, wie ihn der Engel genannt hat­te, bevor das Kind im Mut­ter­leib emp­fan­gen war.« Dass die Beschnei­dung unter­schla­gen wird, erscheint mir wie eine absicht­li­che Fäl­schung. Ja, es geht sogar noch wei­ter nach dem jüdi­schen Ritu­al-Gesetz. Als männ­li­che Erst­ge­burt wird Jesus im Tem­pel zu Jeru­sa­lem dem Dienst Got­tes geweiht. Und von sei­nen Eltern heißt es, dass sie jedes Jahr das Pes­sach-Fest im Tem­pel zu Jeru­sa­lem fei­er­ten. Rei­se­lu­stig waren sie.

Lan­ge sit­ze ich vor mei­nem eige­nen klei­nen geschmück­ten Weih­nachts­baum und sin­nie­re über den Tag und sei­ne Erleb­nis­se, wäh­rend die Ker­zen ver­glim­men. Josef zwi­schen Gali­läa und Judäa. Der Krieg im Nahen Osten. Die Woh­nungs­not, unter der wir alle zuneh­mend lei­den. Wür­de es Josef und sei­ner Fami­lie heu­te anders erge­hen, etwa wenn er von Bel­go­rod nach Char­kiw rei­ste, um sich schät­zen oder mustern zu las­sen. Oder auch hier bei uns, in Ber­lin oder Pots­dam etwa. Sicher wür­de man sich in einer der Wärm­stu­ben um die bei­den küm­mern. Die mei­sten Kir­chen­be­su­cher sahen zufrie­den aus mit sich und der Welt. Sie hat­ten sich fest­lich ange­zo­gen. Sie haben ihre Woh­nun­gen, es ist alles in Ord­nung, die Vor­be­rei­tun­gen sind getrof­fen, der Baum ist geschmückt, die Geschen­ke sind ein­ge­packt, der Bra­ten steht in der Röh­re, der Weih­nachts­mann-Ser­vice ist gebucht, das Heiz­gas strömt aus den Röh­ren, egal woher und was es kostet, uns und den Pla­ne­ten. Ob sich wohl heu­te hier ein Platz fin­den wür­de für einen Halb­frem­den ohne Obdach mit einer schwan­ge­ren Frau, dreckig von einer lan­gen Rei­se und offen­bar vor der Nie­der­kunft ste­hend? Aber Leu­te wie Josef und Maria waren nicht unter den Gottesdienstbesuchern.

Woh­nungs­not ist eines der The­men, die wir in das Jahr 2025 mit­neh­men. Das liegt nicht allein dar­an, dass zu wenig gebaut wird, son­dern vor allem dar­an, dass alle mensch­li­chen Grund­be­dürf­nis­se in unse­rer Gesell­schaft kapi­ta­li­siert wer­den, beson­ders rück­sichts­los das Grund­be­dürf­nis nach Woh­nen. Die Ren­di­ten in die­ser Bran­che sind mär­chen­haft und machen die Rei­chen immer rei­cher, die Armen immer ärmer. Solan­ge die Mehr­heit halb­wegs zufrie­den ist, wird sich das nicht ändern. Stil­le Nacht, hei­li­ge Nacht. Nichts von Andacht. Weh­nach­ten. Die Hoff­nung, die mit jedem Kind gebo­ren wird. Die ein­zig­ar­ti­ge Chan­ce, die der Reform­rab­bi­ner Jesus in die Welt brach­te, was ist dar­aus gewor­den? Der Arm-Selig­keit, dem Tötungs­ver­bot, der Fein­des­lie­be? Die Mensch­heit, die kei­ne Umkehr fin­det, zurück zum Leben im Ein­klang mit der Natur, sich und den Plan­ten in besin­nungs­lo­sem Amok­flug in den Abgrund steu­ert. Ich sehe so vie­le zufrie­de­ne Gesich­ter. Bin ich es allein, der sich krank fühlt und weh in die­sem Lich­ter­glanz der Weh­nacht 2024? Nicht der Reich­tum, das Leben ist das höch­ste Gut. Nicht um Gewinn­ma­xi­mie­rung soll­te es in unse­rer Gesell­schaft gehen, son­dern um Gemein­schaft­lich­keit. Und plötz­lich sehe ich auch den Stern. Er hat nichts zu tun mit den wei­sen Köni­gen mit Sil­ber­locken, die Wor­te offe­rie­ren, die nach Gold, Weih­rauch und Myr­rhe duf­ten. Es ist die Mög­lich­keit zu poli­ti­schem Neu­be­ginn mit der Wahl im Febru­ar. Es sind die kla­ren Wor­te der Par­tei­pro­gram­me, die Ber­ge ver­set­zen und alle Krie­ge in 24 Stun­den been­den wer­den. An mei­nem Baum ver­löscht das letz­te Licht.