Pünktlich zum Fest fiel die Spülmaschine aus, und ich wurde durch einen Virus lahmgelegt. Corona-Symptomatik, negativer Test. Meine Familie war engagiert beim Weihnachtsoratorium, unter Musikern lapidar WO genannt. Da konnte ich nicht fehlen. Eine Aufführung für die Kleinen sollte es geben, eine für die Großen, schließlich ein gemeinsames Blattspielen und -singen für alle. Einen dicken Schal um den Hals, eine warme Mütze auf dem Kopf machte ich mich auf den Weg, in den Taschen Salbei, Eukalyptus und Tempos. Die Noten nahm ich nicht mit. An Singen war nicht zu denken.
Eine Marionetten-Spielerin begleitete die erste Aufführung, zog die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich und übersetzte das Geschehen in fassliche Worte und Szenen. Es war ganz dunkel draußen. Da waren Hirten auf der Weide, die hatten sich ein Lagerfeuer gemacht, und ganz in der Nähe weideten ihre Schafe, ganz viele schwarze Schafe. Der Chor begriff, die Sänger/innen, festlich schwarz gekleidet, begannen fröhlich zu blöken. Warum die Schafe alle schwarz waren? Warum sollten sie weiß gewesen sein? Marias Schlaflied wurde zu einem innigen Tanz der Altistin mit der Marionette. Ja, dachte ich, Musik ist Bewegung, Leben, nicht diese starre, akademische, verkopfte deutsche Musiktradition. Je mehr da gejaucht und frohlockt wird, desto steifer sitzt alles auf den Bänken festzementiert. Und wehe, jemand flüstert. Oder hustet.
Sonst war alles wie sonst. Erschöpft schleppte ich mich am Heiligen Abend in die Kirche, die voll besetzt war bis zum letzten Platz, nicht aus Glaubenseifer, sondern aus Tradition, wie die meisten Kirchgänger am Heiligen Abend. Wie soll man das Fest sonst begehen in einem Land, das über Jahrhunderte vom Christentum geprägt wurde. Zum Glück fand ich einen Platz gleich am Mittelgang. So konnte ich flüchten, falls ich durch Niesen oder einen Hustenfanfall kritische Blicke auf mich ziehen würde.
Die engagierte junge Pfarrerin hatte zwei Ideen, die sie zwar nicht recht verknüpft bekam, aber in wohltuender Kürze überzeugend vortrug. Das war erfreulich anders als die Predigten, die ich in den vergangenen Jahren gehört hatte, in denen jeweils überhaupt keine Idee rhetorisch ausgewalzt wurde. Sie sprach von »Wehnachten«. Das hatte einer ihrer Konfirmanden geschrieben, als Kernwort für eine Mindmap. Die anderen lachten. Da fehlt ja das »i«. Jawohl Weh! Wie wird mir weh, wenn ich daran denke. Da kehrt dieser Tischler in seine Heimatstadt zurück, seine Frau ist hochschwanger, und sie finden keinen anderen Platz als im Stall bei den Tieren. Und dann kommen die Wehen, die zu Weihnachten dazugehören, ohne die dieses Fest nicht zu denken ist. So beschwört die junge Frau von der Kanzel zwar etymologisch nicht ganz korrekt, aber wahrhaftig und originell die Heilige Nacht, die sich begab vor 2024 Jahren wie heute. Ich selbst hatte viermal die Gelegenheit, an so einer Wehnacht teilzunehmen. Das ging schon für mich als kaum beteiligten Beobachter über alle Kräfte. In solchen Augenblicken geht es immer um alles. Jede Geburt ist eine Weihnacht, mit der die Welt neu beginnt.
Ein habgieriger Kaiser, der wissen will, wie viele Seelen er beherrscht, zwingt die Menschen, sich in ihre Herkunftsorte zu begeben, um sich dort in seine Steuer-Listen eintragen zu lassen. Gnadenlos. Für den Zimmermann Josef bedeutet das eine Fußreise von Nazareth nach Bethlehem mitten im Winter. Schlappe 150 km, das kann man in einer Woche gut schaffen. Wenn man fit ist, ein paar gute Bergschuhe hat und die Wege in den Bergen einigermaßen gangbar sind. Wie die Alten, Kranken und Frauen mit kleinen Kindern klarkommen sollten, davon steht nichts im Neuen Testament. Nur, dass Josef sich auf den Weg machte, zusammen mit Maria, die er zur Frau genommen hatte, obwohl sie schwanger war – aber nicht von ihm.
Schon dies nahm mich immer für Josef ein. Er hat die Schande unerschrocken auf sich genommen. Wie lange hat die christliche Kirche uneheliche Kinder und ihre Mütter diskriminiert. Dabei war Jesus selbst eines. Josef setzte sich darüber hinweg und heiratete Maria. Die Sache mit der unbefleckten Empfängnis und dem Heiligen Geist? Na ja. Von den Männern, die ich kenne, wäre jeder für so eine Erklärung ausgelacht und verspottet worden. Wie Josefs trotzige Hochzeit bei seinen Nachbarn ankam, darüber berichtet die Bibel nichts. Ganz schlimm kann es nicht gewesen sein. Schließlich ist die Familie nach dem Ausflug nach Bethlehem zurückgekehrt nach Nazareth, wo Jesus aufwuchs. Josef war offenbar ein tüchtiger Handwerker, bescheiden und klug und seiner Frau und seinem Sohn liebevoll zugetan. Solche finden überall ihr Auskommen. Auch unter Fremden. Josef war schließlich nicht aus Nazareth, sondern ein Migrant.
Aber in Bethlehem, heißt es, bekamen die beiden keine anständige Unterkunft, obwohl deutlich sichtbar war, dass Marias Entbindung bevorstand. Niemand wollte sie aufnehmen. Dabei stammte Josef aus diesem Ort. Hatte er keine Verwandten dort, keine Freunde? In einer Herberge mussten sie Unterschlupf suchen. Dass die voll belegt waren, kann man sich vorstellen. Für die Nacht, in der die Wehen einsetzten, mussten sie mit einem Stall Vorlieb nehmen. Für diese Hartherzigkeit hätte Bethlehem verdient, als niederträchtigster Ort der Welt für alle Zeiten in Verruf zu geraten.
In reinlichen Windeln das liebliche Kind. In einer wohlgezimmerten Krippe. Öchslein und Eselchen muhen dazu und scharren zutraulich mit den Hufen. Das macht sich niedlich als sauber in Lindenholz geschnitzte Figurengruppe unter einer frisch geschlagenen duftenden Tanne mit künstlichem Sternen-Schmuck in einer gut geheizten Kirche oder in der Hosentaschenversion zu Hause auf Fensterbrett oder Kaminsims. Generationen haben an der sentimentalen Ausschmückung des Bildes mitgewirkt. Die Heilige Familie.
Josef, Maria und ihr Bastard jedenfalls waren nicht willkommen in ihrer Familie. Und wenn Christus wirklich ein Mensch war, dann habe ich auch meine Zweifel an der Reinlichkeit der Windeln, in die er gewickelt wurde. Bei den Verhältnissen. Es gab schließlich noch keine Pampers. Wir als echte Ökos haben wenigstens bei unserem ersten Kind noch ausprobiert, wie es geht mit Mullwindeln, wie oft man wechseln, spülen, trocknen muss. Sie hatten doch vermutlich eine Waschmaschine und einen Trockner in diesem Stall? Und gewiss auch eine Schüssel mit sauberem warmem Wasser, um das Kind zu waschen. Und was Josef und Maria sonst noch so alles mitgeschleppt hatten in ihrem Reisegepäck. Oder hatten sie die nötigen Kleinigkeiten von ihren Gastgebern bekommen? Wir haben zwar keinen Platz, aber sonst soll es euch an nichts fehlen. Es war Marias erste Geburt. Von einer Hebamme ist nicht die Rede. Hat Josef das alles allein mit ihr durchgestanden? – Diese Geschichte, die auf unerträgliche Weise sentimental überhöht jedes Jahr in allen Kirchen erzählt wird, ist eine Geschichte von bitterster Not, Diskriminierung, Armut und Entrechtung. Weiter runter geht es nicht. Kyrie eleis.
Ich habe den Bibelabschnitt Lukas 2 noch einmal vorgelesen zu Hause, vor der Bescherung. Die Kinder wollten es so. An seinem Ende steht ein Satz, der in der Kirche weggelassen wurde und der auch im WO nicht vorkommt: »Und als acht Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus, wie ihn der Engel genannt hatte, bevor das Kind im Mutterleib empfangen war.« Dass die Beschneidung unterschlagen wird, erscheint mir wie eine absichtliche Fälschung. Ja, es geht sogar noch weiter nach dem jüdischen Ritual-Gesetz. Als männliche Erstgeburt wird Jesus im Tempel zu Jerusalem dem Dienst Gottes geweiht. Und von seinen Eltern heißt es, dass sie jedes Jahr das Pessach-Fest im Tempel zu Jerusalem feierten. Reiselustig waren sie.
Lange sitze ich vor meinem eigenen kleinen geschmückten Weihnachtsbaum und sinniere über den Tag und seine Erlebnisse, während die Kerzen verglimmen. Josef zwischen Galiläa und Judäa. Der Krieg im Nahen Osten. Die Wohnungsnot, unter der wir alle zunehmend leiden. Würde es Josef und seiner Familie heute anders ergehen, etwa wenn er von Belgorod nach Charkiw reiste, um sich schätzen oder mustern zu lassen. Oder auch hier bei uns, in Berlin oder Potsdam etwa. Sicher würde man sich in einer der Wärmstuben um die beiden kümmern. Die meisten Kirchenbesucher sahen zufrieden aus mit sich und der Welt. Sie hatten sich festlich angezogen. Sie haben ihre Wohnungen, es ist alles in Ordnung, die Vorbereitungen sind getroffen, der Baum ist geschmückt, die Geschenke sind eingepackt, der Braten steht in der Röhre, der Weihnachtsmann-Service ist gebucht, das Heizgas strömt aus den Röhren, egal woher und was es kostet, uns und den Planeten. Ob sich wohl heute hier ein Platz finden würde für einen Halbfremden ohne Obdach mit einer schwangeren Frau, dreckig von einer langen Reise und offenbar vor der Niederkunft stehend? Aber Leute wie Josef und Maria waren nicht unter den Gottesdienstbesuchern.
Wohnungsnot ist eines der Themen, die wir in das Jahr 2025 mitnehmen. Das liegt nicht allein daran, dass zu wenig gebaut wird, sondern vor allem daran, dass alle menschlichen Grundbedürfnisse in unserer Gesellschaft kapitalisiert werden, besonders rücksichtslos das Grundbedürfnis nach Wohnen. Die Renditen in dieser Branche sind märchenhaft und machen die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer. Solange die Mehrheit halbwegs zufrieden ist, wird sich das nicht ändern. Stille Nacht, heilige Nacht. Nichts von Andacht. Wehnachten. Die Hoffnung, die mit jedem Kind geboren wird. Die einzigartige Chance, die der Reformrabbiner Jesus in die Welt brachte, was ist daraus geworden? Der Arm-Seligkeit, dem Tötungsverbot, der Feindesliebe? Die Menschheit, die keine Umkehr findet, zurück zum Leben im Einklang mit der Natur, sich und den Planten in besinnungslosem Amokflug in den Abgrund steuert. Ich sehe so viele zufriedene Gesichter. Bin ich es allein, der sich krank fühlt und weh in diesem Lichterglanz der Wehnacht 2024? Nicht der Reichtum, das Leben ist das höchste Gut. Nicht um Gewinnmaximierung sollte es in unserer Gesellschaft gehen, sondern um Gemeinschaftlichkeit. Und plötzlich sehe ich auch den Stern. Er hat nichts zu tun mit den weisen Königen mit Silberlocken, die Worte offerieren, die nach Gold, Weihrauch und Myrrhe duften. Es ist die Möglichkeit zu politischem Neubeginn mit der Wahl im Februar. Es sind die klaren Worte der Parteiprogramme, die Berge versetzen und alle Kriege in 24 Stunden beenden werden. An meinem Baum verlöscht das letzte Licht.