Unser Leben gehört uns. Ob wir feige sind oder nicht, ob wir es hingeben wollen oder nicht –: das ist unsre Sache und nur unsre. Kein Staat, keine nationale Telegrafenagentur hat das Recht, über das Leben derer zu verfügen, die sich nicht freiwillig darbieten. (Ignaz Wrobel, Die Weltbühne, Nr. 13 vom 30.03.1926)
Das essentielle Problem hinsichtlich der Legitimation einer allgemeinen Wehrpflicht stellt der mit ihr verbundene massive Eingriff in die persönlichen Grundrechte junger Bürger – und gegebenenfalls auch Bürgerinnen – dar, der zuvörderst aus dem staatlichen Oktroi resultiert, im Extremfall andere töten zu müssen oder für andere getötet zu werden. Unter dieser Perspektive artikulierte der weiland amtierende Bundespräsident Roman Herzog, vormals selbst Verfassungsrichter, auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr in München 1995 seine Zweifel an der Haltbarkeit der damals noch geltenden Wehrpflicht, als er ausführte: »Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein ewig gültiges Prinzip, sondern sie ist abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können.« Mit dieser Feststellung befand er sich in völliger Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, das in einem Grundsatzurteil vom 13. April 1978 entschieden hatte: Die allgemeine Wehrpflicht »findet ihre Rechtfertigung darin, dass der Staat, der Menschenwürde, Leben, Freiheit und Eigentum als Grundrechte anerkennt und schützt, dieser verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung gegenüber seinen Bürgern nur mit Hilfe eben dieser Bürger und ihres Eintretens für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland nachkommen kann«. Entscheidend ist in diesem Kontext die Prämisse für die Rechtfertigung der allgemeinen Wehrpflicht, nämlich, dass diese conditio sine qua non für die Gewährleistung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland ist. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Legitimation für die allgemeine Wehrpflicht dann hinfällig ist, wenn der Staat seiner Schutzverpflichtung auf andere Weise, nämlich beispielsweise mit einer Freiwilligenarmee, nachkommen kann. Genau dies ist derzeit, ungeachtet des in der Ukraine tobenden Krieges, der Fall, denn die militärischen Erfolge der seit zwei Jahren angreifenden russischen Truppen gegen die ukrainischen Verteidiger sind gelinde gesagt doch sehr überschaubar – und um wieviel mehr wäre dies der Fall, würde die Russische Föderation sich in einer Art suizidalem Wahnsinnsakt auf einen Waffengang mit dem stärksten Militärbündnis der Welt, der Nato, einlassen. Letztere hat im Jahr 2024 circa 3,39 Millionen aktive Soldatinnen und Soldaten unter Waffen, während deren Zahl in Russland zum gleichen Zeitpunkt rund 1,32 Millionen beträgt, woraus eine etwa dreifache Überlegenheit der Nato entspringt. Im selben Jahr gibt das Atlantische Bündnis mit 1.160 Milliarden US-Dollar für Militär und Rüstung im Vergleich zu Russland mit geschätzten 109 Milliarden US-Dollar gar das Zehnfache aus. Allein Frankreich (53,6 Milliarden US-Dollar) und Deutschland (55,8 Milliarden US-Dollar) haben 2022 insgesamt so viel ausgegeben, wie Russland jetzt plant. Festzuhalten bleibt demnach, dass eine derart prekäre Bedrohungslage hinsichtlich der äußeren Sicherheit der fester als je zuvor in das Atlantische Bündnis integrierten Bundesrepublik Deutschland, die eine Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht hierzulande erfordern und überhaupt erst legitimieren würde, schlichtweg nicht existiert. Nur am Rande sei erwähnt, dass sich auch die überwältigende Mehrheit der über dreißig Bündnispartner auf professionelle Freiwilligenstreitkräfte abstützen.
Neben diesen legitimatorischen Problemen gibt es indes auch gravierende Hindernisse praktischer Art, die gegen ein Aufleben der Wehrpflicht sprechen. Seit der Aussetzung letzterer wurde nämlich das gesamte Wehrerfassungs-, Wehrüberwachungs- und Wehrersatzsystem zu großen Teilen aufgelöst. Bei einer durchschnittlichen Jahrgangsstärke von etwa 800.000 jungen Frauen und Männern – denn auch die Bürgerinnen sollen ja zukünftig ihren Verteidigungsbeitrag leisten – in den kommenden Jahren fehlt bereits die allein für die Musterung flächendeckend erforderliche Infrastruktur von Kreiswehrersatzämtern. Zudem müssten dem hierzulande ohnehin schon überbeanspruchten Gesundheitssystem Hunderte von Ärzten und Ärztinnen entzogen werden, um die unabdingbar erforderlichen Tauglichkeitsuntersuchungen bei den Wehrpflichtigen durchzuführen.
Neben solchen gravierenden administrativ-organisatorischen und infrastrukturellen Problemen wirft das gemäß höchstrichterlicher Rechtsprechung zwingend zu beachtende Erfordernis der Wehrgerechtigkeit ein absehbar nicht zu bewältigendes Dilemma auf. Legt man nämlich die Erfahrungswerte aus der Epoche zugrunde, als das Wehrpflichtsystem hierzulande noch existierte, so wurden zu damaligen Zeiten circa 87 Prozent der jungen Männer eines jeweiligen Geburtsjahrganges als tauglich gemustert. Von diesen wiederum verweigerten maximal 38 Prozent aus Gewissensgründen die Ableistung des Wehrdienstes an der Waffe und entschieden sich stattdessen für einen zivilen Ersatzdienst. Übertragt man jetzt diese Quoten auf die zuvor genannte Jahrgangsstärke von 800.000 jungen Frauen und Männern, so resultiert daraus eine Zahl von knapp 700.000 Wehrdiensttauglichen pro Jahr. Von diesen würden sich dann eventuell rund 265.000 junge Menschen für den Zivildienst entscheiden, während die Bundeswehr bis zu 435.000 diensttaugliche Wehrpflichtige pro Jahr aufnehmen, in militärischen Liegenschaften unterbringen und an der Waffe ausbilden müsste. Dass dies ein vollkommen illusorisches Unterfangen darstellt, da die Streitkräfte weder über die hierfür erforderlichen Unterkunftskapazitäten in den Kasernen noch bei ohnehin schon bestehendem Personalmangel über die benötigte Anzahl an Ausbildern verfügen, ist evident und bedarf keiner weiteren Erörterung. Da die vorgenannten Tatsachen auch den Wehrpflichtapologeten hierzulande bekannt sind, wird – vornehmlich im massenmedialen »Sommerloch« – die keineswegs neue, sondern altbekannte Sau in Gestalt der Forderung nach einer als »soziales Pflichtjahr« verbrämten allgemeinen Dienstpflicht durchs Dorf getrieben. Dann nämlich könnte sich die Bundeswehr angeblich lediglich die benötigte Anzahl an Rekruten für den militärischen Zwangsdienst aussuchen, während der für den vaterländischen Militärdienst nicht benötigte Plebs gefälligst irgendeinen zivilen Zwangsdienst ableisten soll – »Auswahlwehrdienst« lautet der Terminus technicus für diese autoritär angehauchte Schnapsidee. Jawohl, Schnapsidee, denn wenn man von der äußerst optimistisch kalkulierten Annahme ausgeht, dass die Streitkräfte maximal 200.000 junge Wehrpflichtige pro Jahr aufnehmen könnten, dann blieben pro Jahr etwa 500.000 junge Erwachsene, die auf »Dienstpflichtplätzen« im sozialen Sektor unterzubringen wären. Das erscheint bereits unter Organisationsaspekten kaum als realistisch, vollends utopisch indes wären die Kosten. Legt man einen Budgetansatz von mindestens 15.000 Euro pro Person und Jahr zugrunde, die für die Militär- und Zivildienstleistenden aufzubringen wären, so würde ein soziales Pflichtjahr für jedermann und -frau ungefähr 10,5 Milliarden Euro kosten – wohlgemerkt zusätzlich zu den ohnehin schon exorbitanten Haushaltsansätzen für Militär und Aufrüstung. Abgesehen von derartigen budgetären »Peanuts« verbieten Grundgesetz und Völkerrecht dem Gesetzgeber kategorisch, den BürgerInnen eine allgemeine Dienstpflicht aufzuerlegen; dieser Befund wird durch eine bereits im Jahre 2003 angefertigte »Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zur Zulässigkeit der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht« bestätigt und deckt sich im Übrigen auch mit der unter Staats- und Verfassungsrechtlern herrschenden Auffassung.
Summa summarum: Eine Renaissance des Zwangswehrdienstes verschlänge Milliardensummen, erforderte Abertausende zusätzliche Soldaten für die Ausbildung sowie die Errichtung gewaltiger Infrastrukturen und ließe sich mit dem zwingend gebotenen Erfordernis der Wehrgerechtigkeit unter keinen Umständen vereinbaren. Wer also die derzeitig als so ungeheuer dringend postulierte Einsatzbereitschaft oder gar »Kriegstüchtigkeit« der Bundeswehr für die nächsten zehn Jahre nachhaltig und massiv schwächen will, der sollte sich umgehend an die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht machen. Der aktuell so schrill propagierte »Feind im Osten« dürfte ob eines derartigen Schildbürgerstreiches jedenfalls klammheimlich frohlocken.
Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr a. D. und Vorsitzender des Förderkreises »Darmstädter Signal«, der den gleichnamigen Arbeitskreis kritischer StaatsbürgerInnen in Uniform unterstützt.