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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wehrpflichtblähungen

Unser Leben gehört uns. Ob wir fei­ge sind oder nicht, ob wir es hin­ge­ben wol­len oder nicht –: das ist uns­re Sache und nur uns­re. Kein Staat, kei­ne natio­na­le Tele­gra­fen­agen­tur hat das Recht, über das Leben derer zu ver­fü­gen, die sich nicht frei­wil­lig dar­bie­ten. (Ignaz Wro­bel, Die Weltbühne, Nr. 13 vom 30.03.1926)

Das essen­ti­el­le Pro­blem hin­sicht­lich der Legi­ti­ma­ti­on einer all­ge­mei­nen Wehr­pflicht stellt der mit ihr ver­bun­de­ne mas­si­ve Ein­griff in die per­sön­li­chen Grund­rech­te jun­ger Bür­ger – und gege­be­nen­falls auch Bür­ge­rin­nen – dar, der zuvör­derst aus dem staat­li­chen Oktroi resul­tiert, im Extrem­fall ande­re töten zu müs­sen oder für ande­re getö­tet zu wer­den. Unter die­ser Per­spek­ti­ve arti­ku­lier­te der wei­land amtie­ren­de Bun­des­prä­si­dent Roman Her­zog, vor­mals selbst Ver­fas­sungs­rich­ter, auf der Kom­man­deur­ta­gung der Bun­des­wehr in Mün­chen 1995 sei­ne Zwei­fel an der Halt­bar­keit der damals noch gel­ten­den Wehr­pflicht, als er aus­führ­te: »Die Wehr­pflicht ist ein so tie­fer Ein­schnitt in die indi­vi­du­el­le Frei­heit des jun­gen Bür­gers, dass ihn der demo­kra­ti­sche Rechts­staat nur for­dern darf, wenn es die äuße­re Sicher­heit des Staa­tes wirk­lich gebie­tet. Sie ist also kein ewig gül­ti­ges Prin­zip, son­dern sie ist abhän­gig von der kon­kre­ten Sicher­heits­la­ge. Ihre Bei­be­hal­tung, Aus­set­zung oder Abschaf­fung und eben­so die Dau­er des Grund­wehr­dien­stes müs­sen sicher­heits­po­li­tisch begrün­det wer­den kön­nen.« Mit die­ser Fest­stel­lung befand er sich in völ­li­ger Über­ein­stim­mung mit der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes, das in einem Grund­satz­ur­teil vom 13. April 1978 ent­schie­den hat­te: Die all­ge­mei­ne Wehr­pflicht »fin­det ihre Recht­fer­ti­gung dar­in, dass der Staat, der Men­schen­wür­de, Leben, Frei­heit und Eigen­tum als Grund­rech­te aner­kennt und schützt, die­ser ver­fas­sungs­recht­li­chen Schutz­ver­pflich­tung gegen­über sei­nen Bür­gern nur mit Hil­fe eben die­ser Bür­ger und ihres Ein­tre­tens für den Bestand der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nach­kom­men kann«. Ent­schei­dend ist in die­sem Kon­text die Prä­mis­se für die Recht­fer­ti­gung der all­ge­mei­nen Wehr­pflicht, näm­lich, dass die­se con­di­tio sine qua non für die Gewähr­lei­stung des Bestan­des der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist. Im Umkehr­schluss folgt dar­aus, dass die Legi­ti­ma­ti­on für die all­ge­mei­ne Wehr­pflicht dann hin­fäl­lig ist, wenn der Staat sei­ner Schutz­ver­pflich­tung auf ande­re Wei­se, näm­lich bei­spiels­wei­se mit einer Frei­wil­li­gen­ar­mee, nach­kom­men kann. Genau dies ist der­zeit, unge­ach­tet des in der Ukrai­ne toben­den Krie­ges, der Fall, denn die mili­tä­ri­schen Erfol­ge der seit zwei Jah­ren angrei­fen­den rus­si­schen Trup­pen gegen die ukrai­ni­schen Ver­tei­di­ger sind gelin­de gesagt doch sehr über­schau­bar – und um wie­viel mehr wäre dies der Fall, wür­de die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on sich in einer Art sui­zi­da­lem Wahn­sinns­akt auf einen Waf­fen­gang mit dem stärk­sten Mili­tär­bünd­nis der Welt, der Nato, ein­las­sen. Letz­te­re hat im Jahr 2024 cir­ca 3,39 Mil­lio­nen akti­ve Sol­da­tin­nen und Sol­da­ten unter Waf­fen, wäh­rend deren Zahl in Russ­land zum glei­chen Zeit­punkt rund 1,32 Mil­lio­nen beträgt, wor­aus eine etwa drei­fa­che Über­le­gen­heit der Nato ent­springt. Im sel­ben Jahr gibt das Atlan­ti­sche Bünd­nis mit 1.160 Mil­li­ar­den US-Dol­lar für Mili­tär und Rüstung im Ver­gleich zu Russ­land mit geschätz­ten 109 Mil­li­ar­den US-Dol­lar gar das Zehn­fa­che aus. Allein Frank­reich (53,6 Mil­li­ar­den US-Dol­lar) und Deutsch­land (55,8 Mil­li­ar­den US-Dol­lar) haben 2022 ins­ge­samt so viel aus­ge­ge­ben, wie Russ­land jetzt plant. Fest­zu­hal­ten bleibt dem­nach, dass eine der­art pre­kä­re Bedro­hungs­la­ge hin­sicht­lich der äuße­ren Sicher­heit der fester als je zuvor in das Atlan­ti­sche Bünd­nis inte­grier­ten Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, die eine Wie­der­ein­füh­rung der all­ge­mei­nen Wehr­pflicht hier­zu­lan­de erfor­dern und über­haupt erst legi­ti­mie­ren wür­de, schlicht­weg nicht exi­stiert. Nur am Ran­de sei erwähnt, dass sich auch die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der über drei­ßig Bünd­nis­part­ner auf pro­fes­sio­nel­le Frei­wil­li­gen­streit­kräf­te abstützen.

Neben die­sen legi­ti­ma­to­ri­schen Pro­ble­men gibt es indes auch gra­vie­ren­de Hin­der­nis­se prak­ti­scher Art, die gegen ein Auf­le­ben der Wehr­pflicht spre­chen. Seit der Aus­set­zung letz­te­rer wur­de näm­lich das gesam­te Wehr­erfas­sungs-, Wehr­über­wa­chungs- und Wehr­ersatz­sy­stem zu gro­ßen Tei­len auf­ge­löst. Bei einer durch­schnitt­li­chen Jahr­gangs­stär­ke von etwa 800.000 jun­gen Frau­en und Män­nern – denn auch die Bür­ge­rin­nen sol­len ja zukünf­tig ihren Ver­tei­di­gungs­bei­trag lei­sten – in den kom­men­den Jah­ren fehlt bereits die allein für die Muste­rung flä­chen­deckend erfor­der­li­che Infra­struk­tur von Kreis­wehr­ersatz­äm­tern. Zudem müss­ten dem hier­zu­lan­de ohne­hin schon über­be­an­spruch­ten Gesund­heits­sy­stem Hun­der­te von Ärz­ten und Ärz­tin­nen ent­zo­gen wer­den, um die unab­ding­bar erfor­der­li­chen Taug­lich­keits­un­ter­su­chun­gen bei den Wehr­pflich­ti­gen durchzuführen.

Neben sol­chen gra­vie­ren­den admi­ni­stra­tiv-orga­ni­sa­to­ri­schen und infra­struk­tu­rel­len Pro­ble­men wirft das gemäß höchst­rich­ter­li­cher Recht­spre­chung zwin­gend zu beach­ten­de Erfor­der­nis der Wehr­ge­rech­tig­keit ein abseh­bar nicht zu bewäl­ti­gen­des Dilem­ma auf. Legt man näm­lich die Erfah­rungs­wer­te aus der Epo­che zugrun­de, als das Wehr­pflicht­sy­stem hier­zu­lan­de noch exi­stier­te, so wur­den zu dama­li­gen Zei­ten cir­ca 87 Pro­zent der jun­gen Män­ner eines jewei­li­gen Geburts­jahr­gan­ges als taug­lich gemu­stert. Von die­sen wie­der­um ver­wei­ger­ten maxi­mal 38 Pro­zent aus Gewis­sens­grün­den die Ablei­stung des Wehr­dien­stes an der Waf­fe und ent­schie­den sich statt­des­sen für einen zivi­len Ersatz­dienst. Über­tragt man jetzt die­se Quo­ten auf die zuvor genann­te Jahr­gangs­stär­ke von 800.000 jun­gen Frau­en und Män­nern, so resul­tiert dar­aus eine Zahl von knapp 700.000 Wehr­dienst­taug­li­chen pro Jahr. Von die­sen wür­den sich dann even­tu­ell rund 265.000 jun­ge Men­schen für den Zivil­dienst ent­schei­den, wäh­rend die Bun­des­wehr bis zu 435.000 dienst­taug­li­che Wehr­pflich­ti­ge pro Jahr auf­neh­men, in mili­tä­ri­schen Lie­gen­schaf­ten unter­brin­gen und an der Waf­fe aus­bil­den müss­te. Dass dies ein voll­kom­men illu­so­ri­sches Unter­fan­gen dar­stellt, da die Streit­kräf­te weder über die hier­für erfor­der­li­chen Unter­kunfts­ka­pa­zi­tä­ten in den Kaser­nen noch bei ohne­hin schon bestehen­dem Per­so­nal­man­gel über die benö­tig­te Anzahl an Aus­bil­dern ver­fü­gen, ist evi­dent und bedarf kei­ner wei­te­ren Erör­te­rung. Da die vor­ge­nann­ten Tat­sa­chen auch den Wehr­pflichta­po­lo­ge­ten hier­zu­lan­de bekannt sind, wird – vor­nehm­lich im mas­sen­me­dia­len »Som­mer­loch« – die kei­nes­wegs neue, son­dern alt­be­kann­te Sau in Gestalt der For­de­rung nach einer als »sozia­les Pflicht­jahr« ver­bräm­ten all­ge­mei­nen Dienst­pflicht durchs Dorf getrie­ben. Dann näm­lich könn­te sich die Bun­des­wehr angeb­lich ledig­lich die benö­tig­te Anzahl an Rekru­ten für den mili­tä­ri­schen Zwangs­dienst aus­su­chen, wäh­rend der für den vater­län­di­schen Mili­tär­dienst nicht benö­tig­te Plebs gefäl­ligst irgend­ei­nen zivi­len Zwangs­dienst ablei­sten soll – »Aus­wahl­wehr­dienst« lau­tet der Ter­mi­nus tech­ni­cus für die­se auto­ri­tär ange­hauch­te Schnaps­idee. Jawohl, Schnaps­idee, denn wenn man von der äußerst opti­mi­stisch kal­ku­lier­ten Annah­me aus­geht, dass die Streit­kräf­te maxi­mal 200.000 jun­ge Wehr­pflich­ti­ge pro Jahr auf­neh­men könn­ten, dann blie­ben pro Jahr etwa 500.000 jun­ge Erwach­se­ne, die auf »Dienst­pflicht­plät­zen« im sozia­len Sek­tor unter­zu­brin­gen wären. Das erscheint bereits unter Orga­ni­sa­ti­ons­aspek­ten kaum als rea­li­stisch, voll­ends uto­pisch indes wären die Kosten. Legt man einen Bud­get­an­satz von min­de­stens 15.000 Euro pro Per­son und Jahr zugrun­de, die für die Mili­tär- und Zivil­dienst­lei­sten­den auf­zu­brin­gen wären, so wür­de ein sozia­les Pflicht­jahr für jeder­mann und -frau unge­fähr 10,5 Mil­li­ar­den Euro kosten – wohl­ge­merkt zusätz­lich zu den ohne­hin schon exor­bi­tan­ten Haus­halts­an­sät­zen für Mili­tär und Auf­rü­stung. Abge­se­hen von der­ar­ti­gen bud­ge­tä­ren »Pea­nuts« ver­bie­ten Grund­ge­setz und Völ­ker­recht dem Gesetz­ge­ber kate­go­risch, den Bür­ge­rIn­nen eine all­ge­mei­ne Dienst­pflicht auf­zu­er­le­gen; die­ser Befund wird durch eine bereits im Jah­re 2003 ange­fer­tig­te »Aus­ar­bei­tung des wis­sen­schaft­li­chen Dien­stes des Deut­schen Bun­des­ta­ges zur Zuläs­sig­keit der Ein­füh­rung einer all­ge­mei­nen Dienst­pflicht« bestä­tigt und deckt sich im Übri­gen auch mit der unter Staats- und Ver­fas­sungs­recht­lern herr­schen­den Auffassung.

Sum­ma sum­ma­rum: Eine Renais­sance des Zwangs­wehr­dien­stes ver­schlän­ge Mil­li­ar­den­sum­men, erfor­der­te Aber­tau­sen­de zusätz­li­che Sol­da­ten für die Aus­bil­dung sowie die Errich­tung gewal­ti­ger Infra­struk­tu­ren und lie­ße sich mit dem zwin­gend gebo­te­nen Erfor­der­nis der Wehr­ge­rech­tig­keit unter kei­nen Umstän­den ver­ein­ba­ren. Wer also die der­zei­tig als so unge­heu­er drin­gend postu­lier­te Ein­satz­be­reit­schaft oder gar »Kriegs­tüch­tig­keit« der Bun­des­wehr für die näch­sten zehn Jah­re nach­hal­tig und mas­siv schwä­chen will, der soll­te sich umge­hend an die Wie­der­ein­füh­rung der all­ge­mei­nen Wehr­pflicht machen. Der aktu­ell so schrill pro­pa­gier­te »Feind im Osten« dürf­te ob eines der­ar­ti­gen Schild­bür­ger­strei­ches jeden­falls klamm­heim­lich frohlocken.

 Jür­gen Rose ist Oberst­leut­nant der Bun­des­wehr a. D. und Vor­sit­zen­der des För­der­krei­ses »Darm­städ­ter Signal«, der den gleich­na­mi­gen Arbeits­kreis kri­ti­scher Staats­bür­ge­rIn­nen in Uni­form unterstützt.