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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Was zusammenhält

Was ist Kul­tur? Die von Her­der und Hegel bis Der­ri­da und Eri­bon oft gestell­te, eben­so oft ver­kom­pli­zier­te Fra­ge beant­wor­tet sich ein­fach: Kul­tur ist, was Som­mer­pau­se macht – minus Poli­tik. Der orts­ge­bun­den Schrei­ben­de weiß das und ver­reist. In 2024 zum drit­ten Mal in Fol­ge und über­haupt mit Abstand am häu­fig­sten als »lebens­wer­te­ste Stadt der Welt« vom bri­ti­schen Eco­no­mist aus­ge­zeich­ne­te Wien geht es. Ich will wis­sen: Wer oder was macht Wien so lebenswert?

Am Abend mei­nes Ankunfts­tags besu­che ich die nächst­ge­le­ge­ne Grün­flä­che: den Rat­haus­park. Opern­ge­sang erfüllt ihn. Wie das? fra­ge ich einen Mann, neben dem auf der Park­bank zwei Ruck­säcke ste­hen – ein Durch­rei­sen­der. Ich fra­ge erst, als er sei­nen von der Hoch­kul­tur­kon­kur­renz unge­rühr­ten Mund­har­mo­ni­ka­vor­trag erst­mals unter­bricht. Open-Air-Kino sei das, nicht live. Das muss ich mir anschau­en. Hin­ter der näch­sten Baum­grup­pe sehe ich die Lein­wand, davor hun­der­te Kin­der, Eltern, Hun­de. Ein­träch­tig und kosten­los genießt man, was sich am Ori­gi­nal­schau­platz kei­ner lei­sten könn­te. Die Stadt bezahlt, Abend für Abend. Was ich erst am näch­sten Mor­gen erfah­ren wer­de: Gleich­zei­tig läuft am Karls­platz, fünf­zehn Fuß­mi­nu­ten ent­fernt, das näch­ste Umsonst-und-Drau­ßen-Spek­ta­kel: Wiens Pop­fest. Vier Sei­ten im Stadt­ma­ga­zin Fal­ter umfasst das Line-Up, vier Tage und Näch­te Hal­li­gal­li, bezahlt haupt­säch­lich von der Stadt. Wäre ich einen Tag frü­her ange­reist, hät­te ich Nino aus Wien gehört – ein Traum. Die Wirk­lich­keit: Am näch­sten Tag gehe ich wie­der in den Rat­haus­park mit dem Plan, her­nach das Pop­fest heim­zu­su­chen. Es kommt anders. Von der Lein­wand und der sta­di­on­taug­li­chen PA dröhnt ein vol­les Cold­play-Live­kon­zert, und danach geht die Par­ty an den umlie­gen­den Bier- und Würstl­stän­den erst so rich­tig los. Wunsch­los schwän­ze ich das Popfest.

Was man zwi­schen­durch mal muss, geht in Wien unfass­bar ein­fach. Über­all gibt es öffent­li­che WCs. Und die ver­stecken sich nicht (wie in den Ein­kaufs­zen­tren von Frank­furt, das sonst gar kei­ne hat), son­dern stel­len an den Stra­ßen­ecken Schil­der auf, die zu ihnen hin­füh­ren. Wie­der­auf­fül­len kann man sich an den unzäh­li­gen Brun­nen und Trink­säu­len. Die tro­pi­schen August­näch­te und -tage lang ver­sprü­hen Masten auf Knopf­druck fri­sches Aero­sol. Das Ruhe­be­dürf­nis stil­len flä­chen­deckend Bän­ke und Ein­zel­stuhl­paa­re. Extra­breit sind die und nicht volks­päd­ago­gisch abge­schrägt wie in Frank­furt: damit man kei­ne Bier­fla­sche drauf­stel­len kann. Ein­träch­tig steht die Gastro­no­mie­be­stuh­lung neben der öffent­li­chen an der Gas­se – soll doch jede/​r selbst ent­schei­den, wo er oder sie sitzt. Man ist hier so gut zu mir! Und »man« heißt ein ums ande­re Mal: die Gemein­de Wien.

Her­um­ge­spro­chen dürf­te sich haben, was die für das Wohn­be­dürf­nis tut, schon seit über hun­dert Jah­ren. Klafft in der atem­be­rau­ben­den k. u. k. Zucker­bäcker­be­bau­ung eine Lücke, die von einem unan­sehn­li­chen Behelfs­bau gefüllt wird, dann schämt man sich für den nicht, son­dern schreibt in fet­ten roten Let­tern drauf: »Wohn­haus­an­la­ge der Gemein­de Wien, erbaut in den Jah­ren xy«. Wie ein Man­tra grüßt der Spruch den Stra­ßen­bahn Fah­ren­den viel­hun­dert Mal. Die gro­ße Zeit des öffent­li­chen Woh­nungs­baus kam nach dem Ersten Welt­krieg, als fort­schritt­li­che Archi­tek­ten und Ver­wal­tun­gen den Bedarf arbei­ten­der Men­schen zum Maß­stab mach­ten, gan­ze Stadt­vier­tel ein moder­nes Aus­se­hen annah­men und dabei mit Kin­der­gär­ten, Gemein­schafts­häu­sern, Grün­flä­chen und Kunst am Bau viel­fäl­ti­gen Bedürf­nis­sen nach­ka­men. Frank­furt war damals Wiens Schwe­ster­stadt in der Archi­tek­tur­re­vo­lu­ti­on. Die ober­bür­ger­li­chen Mei­ster­spe­ku­lan­ten der letz­ten Jahr­zehn­te, gern SPD, tra­ten das in die Ton­ne namens Vergessenheit.

Ich fah­re mit der U4 zur End­hal­te Hei­li­gen­stadt, ste­he vor dem Karl-Marx-Hof, der berühm­te­sten Wohn­an­la­ge des »roten Wien«. Mein Stadt­füh­rer zeigt mir das Bild einer reli­e­fier­ten Kera­mik­fi­gur und nennt sie »der Sämann«. Ich fra­ge mich zu der Figur durch und stut­ze: Die Figur sät nichts, sieht auch nicht aus, als besä­ße sie das Nöti­ge. Die Hän­de grei­fen dahin, wo Hosen­ta­schen wären, hät­te die Figur genug an, wor­an Taschen zu befe­sti­gen wären. Bet­tel­arm ist der Mann. Sei­ne Hän­de machen die Geste der Armut: Sie dre­hen lee­re Hosen­ta­schen um. Nein, der rich­ti­ge Sämann steht drei­ßig Meter wei­ter vor dem Haus und wur­de 1920 von Otto Hof­ner geschaf­fen. Ein hüb­scher, durch­trai­nier­ter Bur­sche, erin­nert von fern an Michel­an­ge­los David, womit das Tuch, aus dem er sät, auch ein Beu­tel sein könn­te, in dem Stei­ne war­ten wür­den dar­auf, auf gepan­zer­te Geg­ner geschleu­dert zu wer­den. Der kecke, frei­ste­hen­de Sämann ern­tet zehn Jah­re spä­ter vom vor­er­wähn­ten Kera­mik­nach­barn an der Haus­fas­sa­de Wider­spruch. Josef Franz Rie­dels Figur von 1930 heißt zwar »Befrei­ung«, was inso­fern stimmt, als die Eisen­rin­ge um den Hals und um die Hand­ge­len­ke nicht mehr durch eine Eisen­ket­te ver­bun­den sind. Das wars dann aber auch mit der Frei­heit. Bet­tel­arm ist der Mensch und die Stig­ma­ta sei­ner Skla­ve­rei trägt er wei­ter mit sich herum.

Weni­ge Jah­re spä­ter, im Febru­ar 1934 erlangt der Karl-Marx-Hof trau­ri­ge Berühmt­heit, als hier die blu­tig­sten Aus­ein­an­der­set­zun­gen statt­fin­den zwi­schen bewaff­ne­ten Arbei­tern und den Trup­pen der Doll­fuß-Dik­ta­tur. Bun­des­heer und Heim­wehr müs­sen die Wohn­an­la­ge mit Kano­nen beschie­ßen, erst dann geben Kom­mu­ni­sten und Repu­bli­ka­ni­scher Schutz­bund auf. Unlängst, im Juni 2024 wur­de am Karl-Marx-Hof wie­der geschos­sen. Sie­ben Schüs­se sol­len es gewe­sen sein, auf­ge­klärt ist die Sache bis­her nicht. In eini­gen Wie­ner Parks kam es in letz­ter Zeit zu Mes­ser­ste­che­rei­en zwi­schen eth­nisch diver­sen Grup­pen von Jugend­li­chen. Dahin­ter wuchern Äng­ste vor Ent­rech­tung, falls Öster­reich mit den Natio­nal­rats­wah­len im Sep­tem­ber nach rechts umkip­pen soll­te. Die Regie­run­gen des Bun­des und der Län­der haben gemein­sam die Ver­sor­gungs­stan­dards für Flücht­lin­ge gesenkt. Wien macht da nicht mit, zahlt wei­ter wie bis­her. Ob all die Wohl­ta­ten für den Stadt­säckel denn bezahl­bar sei­en, fra­ge ich beim Wein den stu­dier­ten und berufs­er­fah­re­nen Betriebs­wirt, des­sen Gast ich bin. Wenn es den Zusam­men­halt der Men­schen för­de­re, sei das Geld bestens ange­legt, meint der.

Ich erle­be ihn hier stän­dig, die­sen Zusam­men­halt. An der Super­markt­kas­se begrüßt die Kun­din vor mir die Kas­sie­re­rin mit »Jun­ge Frau, ich krieg es bil­li­ger«. Sie klebt zwei klei­ne Mar­ken auf Waren aus ihrem Ein­kauf. »25 % Rabatt« steht drauf. Dann dreht sie sich zu mir um. »Und der jun­ge Herr auch«, sagt sie und ver­sieht drei mei­ner fünf Arti­kel mit ihren Märk­chen – ziel­si­cher die teuersten.