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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Was zur Wahl steht – und was nicht

Wahl­pla­ka­te und -ver­spre­chen, Schlag­zei­len und Kom­men­ta­re in Medi­en, Berich­te der Tages­schau und Debat­ten in Talk­shows: Was uns der­zeit an Stim­mungs­ma­che statt Poli­tik auf­ge­drängt wird, ist uner­träg­lich. Ver­letzt Gefüh­le und Intel­lekt. Eine Pro­pa­gan­da­ma­schi­ne­rie bear­bei­tet und mani­pu­liert uns, damit wir, das Wahl­volk, kei­ne kri­ti­schen Fra­gen stel­len. Oder dar­an den­ken, eige­ne For­de­run­gen durch­zu­set­zen. Glaubt irgend­je­mand an bes­se­re Lebens­be­din­gun­gen nach den Wahlen?

Begin­nen wir mit der Fest­stel­lung: Die Par­tei­en, die seit Jahr­zehn­ten die Regie­run­gen gebil­det haben – nen­nen wir sie Alt­par­tei­en –, bie­ten im Wahl­kampf für Pro­ble­me, die sie selbst zu ver­ant­wor­ten haben, Schein­lö­sun­gen, die die Pro­ble­me noch ver­grö­ßern wür­den. Die The­men aber, die der Mehr­heits­be­völ­ke­rung auf den Nägeln bren­nen, wer­den tun­lichst ver­schwie­gen. Das Land steckt wirt­schaft­lich und men­tal tief in der Kri­se, die Bevöl­ke­rung hat das Ver­trau­en in Regie­rung, Par­tei­en und das Funk­tio­nie­ren der Demo­kra­tie ver­lo­ren. Die Zuver­sicht in eine bes­se­re Zukunft ist geschwun­den. Jun­ge Leu­te haben das Gefühl, die Poli­tik arbei­te gegen sie oder neh­me sie gar nicht erst wahr. Die Stim­mung ist deso­lat; umso mehr herrscht ein Über­bie­tungs­wett­be­werb immer gefähr­li­che­rer Versprechungen.

Nach Mar­cel Fratz­scher, Chef des Wirt­schafts­for­schungs­in­sti­tuts DIW, kosten die Wahl­ver­spre­chen der FDP 138 Mil­li­ar­den Euro – meist Steu­er­erleich­te­run­gen für Top­ver­die­ner. Die Uni­on ist mit 90 Mil­li­ar­den dabei, Grü­ne mit 48 Mil­li­ar­den; Schluss­licht SPD immer noch mit 30 Mil­li­ar­den. Steu­er­mit­tel, die für Schu­len, Brücken, Schie­nen feh­len. Statt­des­sen sol­len wir uns auf mehr als zwei Pro­zent der Wirt­schafts­lei­stung für den Krieg der Bun­des­wehr freu­en – nein, Mini­ster Habeck bie­tet mehr, erhöht auf 3,5 Pro­zent, eine knap­pe Ver­dop­pe­lung der der­zei­ti­gen Aus­ga­ben. Darf es etwas mehr sein, fünf Pro­zent? Strack-Zim­mer­mann hält die Trump-For­de­rung für grenz­wer­tig-seri­ös. Zah­len sol­len dann die Rent­ner und Rent­ne­rin­nen, meint nicht nur der Prä­si­dent des Kie­ler Insti­tuts für Welt­wirt­schaft. Ren­ten­kür­zung für Hoch­rü­stung! Bis­her droht ja nur 16 Mil­lio­nen Men­schen Armut im Alter.

Hoff­nung auf die Wahl? Die Alt­par­tei­en haben jeden Kon­takt zur Lebens­welt der Nor­mal­bür­ger ver­lo­ren. Die­se wol­len sozia­le Sicher­heit. Aber sie bekom­men kei­ne Ant­wort dar­auf, wie die wach­sen­de Alters­ar­mut beho­ben wer­den soll, damit alle in Wür­de und Sicher­heit die letz­ten Lebens­jah­re genie­ßen kön­nen. Und die unaus­ge­spro­che­nen Fra­gen der Kin­der und Jugend­li­chen nach einer Zukunft ohne Angst vor Krieg und Armut? Angst, Bedrückung, Depres­si­on neh­men bei ihnen zu – na und? Ihr Lei­den ist egal. Die Poli­ti­ker der Alt­par­tei­en haben auch bewie­sen, dass ihnen bezahl­ba­re Woh­nun­gen, gut aus­ge­stat­te­te Kran­ken­häu­ser und Schu­len, pünkt­li­che Bah­nen und siche­re Brücken sowas von egal sind und blei­ben: Wo hören wir Lösungs­vor­schlä­ge dafür? Stel­len sie etwa zur Dis­kus­si­on, ob das Gesund­heits­we­sen oder der Woh­nungs­markt dem Pro­fit­stre­ben von Inve­sto­ren aus­ge­lie­fert blei­ben soll? War­um zwin­gen die Medi­en sie nicht zu Ant­wor­ten? Stellt doch mal die Seg­nun­gen des neo­li­be­ral radi­ka­li­sier­ten Kapi­ta­lis­mus in Fra­ge, also Dere­gu­la­ti­on, Pri­va­ti­sie­rung und Niedriglohn.

Hal­lo Poli­ti­ker: Wie­viel Ungleich­heit hal­tet ihr für ver­ein­bar mit dem sozia­len Rechts­staat? Ist es etwa gerecht, wenn die Rei­chen kei­ne Ver­mö­gen­steu­er bezah­len, aber die schlimm­sten Kli­ma­ver­bre­chen ver­ur­sa­chen? Ihr faselt in Fest­an­spra­chen und Wahl­kämp­fen von sozia­lem Zusam­men­halt und sorgt gleich­zei­tig dafür, dass Aus­beu­tung und Armut geför­dert wer­den, die Kluft immer tie­fer wird, dass Angst und das Gefühl von Ohn­macht herr­schen. Rech­te und Faschi­sten erstar­ken. Denkt ihr dar­über nach, war­um sie über­all gewählt wer­den, in der EU, in den USA, in Isra­el? Ihr schafft doch die Bedin­gun­gen dafür, dass sie erstarken!

Flücht­lin­ge die­nen als Sün­den­böcke. Mit dem Kampf gegen die Elen­den – es sei denn, sie sind gut aus­ge­bil­det und kön­nen als bil­li­ge Arbeits­kräf­te die­nen – lässt sich treff­lich Wahl­kampf machen. Natür­lich brin­gen sie auch Pro­ble­me, beson­ders für die ärme­ren Tei­le der Bevöl­ke­rung. Aber hal­lo Par­tei­en, hal­lo Medi­en: Schon mal einen Gedan­ken auf die Ursa­chen der Flucht, also vor allem auf Krie­ge und Kli­ma­ka­ta­stro­phen, auf Aus­beu­tung und impe­ria­le Han­dels­be­zie­hun­gen ver­schwen­det? Der Zusam­men­hang ist so offen­sicht­lich; war­um steht er nicht im Mit­tel­punkt der kri­ti­schen Berichterstattung?

Groß­kon­zer­ne und Schat­ten­ban­ken bestim­men über das Leben von Mil­lio­nen, neh­men mas­siv Ein­fluss auf die Poli­tik. Kein The­ma für den Wahl­kampf. Die Men­schen wer­den nicht gefragt, ob sie den raub­tier­haf­ten Finanz­ka­pi­ta­lis­mus herr­schen las­sen wol­len, der die Wirt­schaft rui­niert, Men­schen nach ihrer Ver­wert­bar­keit taxiert und ihre Rech­te miss­ach­tet. So ver­wal­tet etwa die Invest­ment­ge­sell­schaft Black­Rock elf Bil­lio­nen US-Dol­lar. Sie unter­hält enge Ver­bin­dun­gen zu Regie­run­gen, Rating-Agen­tu­ren, Kon­zern­vor­stän­den und inter­na­tio­na­len Finanz­in­sti­tu­ten. Ihren Auf­stieg ver­dankt sie der Pri­va­ti­sie­rung der Alters­vor­sor­ge und des Woh­nungs­mark­tes. Selbst kapi­tal­freund­li­che Medi­en bekla­gen die inti­me Ver­flech­tung zwi­schen Poli­tik und die­ser unkon­trol­lier­ba­ren Schat­ten­bank. Was hat das mit Demo­kra­tie zu tun, fra­gen wir den ehe­ma­li­gen Deutsch­land-Chef Fried­rich Merz. Die gro­ßen Medi­en kri­ti­sie­ren auch nicht die wach­sen­de Macht des mili­tä­risch-indu­stri­el­len Kom­ple­xes mit dem stärk­sten Inter­es­se dar­an, dass Krie­ge ent­ste­hen, fort­dau­ern und nicht durch Ver­hand­lun­gen gelöst wer­den. Aber die, die dar­an Kri­tik üben, ste­hen unter Beob­ach­tung des Verfassungsschutzes.

Frie­dens­ver­hand­lun­gen sind Teu­fels­zeug, ste­hen beim Wahl­kampf nicht zur Debat­te. Hun­dert­tau­sen­de ster­ben – na und? Sta­tio­nie­rung von US-Mit­tel­strecken­ra­ke­ten in Deutsch­land? Kein The­ma der Alt­par­tei­en. Isra­els Besat­zungs- und Ver­trei­bungs­po­li­tik ver­sus Völ­ker­recht, die Auf­tei­lung Syri­ens zwi­schen USA, Isra­el und der Tür­kei ver­sus UN-Char­ta? Geht uns nichts an. Die Domi­nanz einer Welt­macht, die die Vor­herr­schaft behal­ten will und dafür Staa­ten über­fällt, 850 Mili­tär­stütz­punk­te in aller Welt unter­hält, Regime-Chan­ge anzet­telt und mili­tä­risch för­dert, töd­li­che Sank­tio­nen gegen jeden Wider­sa­cher ver­hängt: So ein Staat ist unser Vor­mund. Ob wir das so wol­len, wird von Medi­en nicht the­ma­ti­siert. Unse­re Sol­da­ten, Pan­zer und Kriegs­schif­fe sind in aller Welt zugan­ge. Man züch­tet Angst vor dem Rus­sen, der uns über­fal­len will. Aber wagt jemand, die Krie­ge des Westens, sei­ne Miss­ach­tung inter­na­tio­na­ler Ver­trä­ge und die selbst­ver­ständ­li­che Ein­mi­schung in die Poli­tik aller Staa­ten zu hin­ter­fra­gen, wird er oder sie gecan­celt. Zur Erin­ne­rung: Die US-Neo­kons haben ihren Plan – sie­ben Län­der in fünf Jah­ren zu über­fal­len – fast schon über­erfüllt, gehen jetzt zu Regime-Chan­ge und Stell­ver­tre­ter­krie­gen über. Fra­ge an Poli­ti­ker: Wie sieht die Welt uns, den Westen, als Frie­dens­be­wah­rer oder als impe­ria­le Macht, an deren Schein­mo­ral die Welt gene­sen soll?

Kriegs- und Kli­ma­to­te sind euch egal, aber ihr ent­wickelt eine unge­heu­re Sen­si­bi­li­tät beim Gen­dern. Femi­ni­sti­sche Außen­po­li­tik bedeu­tet offen­sicht­lich nicht klu­ge Diplo­ma­tie für gemein­sa­me Sicher­heit, son­dern deut­sche Kriegs­schif­fe vor Chi­na, Unter­stüt­zung von Völ­ker­mord, Waf­fen­lie­fe­rung für den Mord an tau­sen­den palä­sti­nen­si­schen Kin­dern. Die Alt­par­tei­en wol­len uns mit aller Macht kriegs­tüch­tig machen, uns und auch schon Kin­dern eine Kriegs­men­ta­li­tät auf­zwin­gen. Die Bun­des­wehr pro­du­ziert Hun­der­te von kriegs­er­tüch­ti­gen­den Vide­os. Aber all das ist kein The­ma für Wah­len, für kri­ti­sche Berich­te in den Medi­en. Lie­ber reden sie von Abzocke der Bür­ger­geld­emp­fän­ger, von Aus­wei­sung von Flücht­lin­gen. Schämt ihr euch nicht, Steu­er­erleich­te­rung für Rei­che zu for­dern, aber Lohn­fort­zah­lung im Krank­heits­fall, Arbeits­pflicht für Bür­ger­geld­emp­fän­ger oder Strei­chung von Fei­er­ta­gen als The­ma zu lancieren?

Die The­men im Wahl­kampf wer­den mit Hil­fe wil­li­ger Leit­me­di­en von den Alt­par­tei­en gesetzt; wir, das Volk, sol­len uns dar­um strei­ten wie Hun­de um einen hin­ge­wor­fe­nen Kno­chen. Was unser Leben bewegt und bestimmt, kommt nicht auf die Tages­ord­nung: Armut und sozia­le Kluft, Kriegs­po­li­tik und Mili­ta­ris­mus zu Lasten der Daseins­vor­sor­ge, Vasal­len­sta­tus Deutsch­lands. Dik­ta­tur der Kon­zer­ne, Mei­nungs­ma­ni­pu­la­ti­on der Groß­me­di­en, Can­cel-Cul­tu­re und inner­staat­li­che Feind­er­klä­rung gegen abwei­chen­de Stand­punk­te – über all das sol­len wir nicht reden oder gar abstim­men. Wir haben genug von eurem Gere­de über Ver­ant­wor­tung in der Welt und über Zusam­men­halt. Eure Ver­spre­chun­gen sind heuch­le­risch: Ihr hat­tet über Jahr­zehn­te die Chan­ce, eine bes­se­re Welt zu schaf­fen, für alle. Jetzt sol­len wir glau­ben, dass alles gut wird, wenn ihr wie­der regiert? Das ist syste­ma­ti­sche Des­in­for­ma­ti­on! Ihr dele­gi­ti­miert den Staat und die Demo­kra­tie! Wir glau­ben euch nicht mehr! Wir wol­len nicht impe­ria­les Protz­ge­ha­be und Mili­ta­ris­mus, son­dern Per­spek­ti­ven für ein fried­li­ches Zusammenleben!