Demosthenes nahm Steine in den Mund und übte Reden gegen eine störende Sprachbehinderung. Er soll nach unendlich vielen Übungen einer der besten Redner des Altertums geworden sein. Reden war in der athenischen Versammlung außerordentlich wichtig, um die Meinungen der anwesenden Hörer und ggf. Richter beeinflussen zu können.
Heute nehmen zahllose Menschen die Worte Freiheit und Demokratie in den Mund und üben sich darin, den Erwartungen der EU und USA gerecht zu werden, jedenfalls soweit es die Aussagen angeht. Tatsächlich wollen sie lediglich reich werden, um an allen Konsumgütern und Vergnügungen teilhaben zu können, die sich in dieser Region über Jahrzehnte herausgebildet haben. Ach, wenn sie doch nur die Kehrseiten des Reichtums an dem einen Ende und die Ausbeutung und Unterentwicklung am anderen Ende wahrnehmen würden. Allein am Arbeitsfleiß und an der technologischen Überlegenheit der westlichen Industrie lag es jedenfalls nicht. Sonst würde man nicht wie das Kaninchen auf China gucken und über das sog. De-risking die Globalisierung des Handels zurückfahren. Das erinnert an die erfolgreichen Jahre der britischen Industrie und der damit verbundenen Ideologie des Freihandels, der nur so lange Geltung behalten sollte, als das britische Weltreich sich im Vorteil sah.
Wir wollen es ja selbst nicht im Bewusstsein zulassen, dass wir abhängig sind von billigen Energieimporten und niedrig-preisigen Rohstoffen, damit unser Selbstbild der Erfolgreichen nicht beschädigt werde. Wir wissen oder könnten es wissen, dass das Zeitalter des Kolonialismus nicht beendet ist. Ob die nach wie vor ausgebeuteten Gebiete Westafrika oder Neukaledonien oder Mittelamerika heißen, kann hier außen vor bleiben. Auf jeden Fall sind endlos viele Länder, die Produkte aus Europa kaufen, meilenweit vom Reichtum entfernt und müssen durch z. T. unfaire Verträge ihre Ressourcen billig abgeben, wie etwa in den Fischereiabkommen mit dem Senegal.
Und nun die Ukraine. Sie wollte sich mit der Elite und der Souveränität im Gepäck nach Westen, also zum Reichtum hin orientieren, und die Menschen ahnen vielleicht langsam, dass sie sich nur in eine neue Abhängigkeit, nicht zuletzt wegen der später zu bedienenden Kredite, begeben haben.
Wir kennen in Deutschland noch die Versprechungen blühender Landschaften nach einem Regimewechsel in den neuen Bundesländern, die sich allerdings nur rudimentär eingestellt haben. Große Industriebetriebe wurden von der Treuhandanstalt abgewickelt, weil ihnen der Zeithorizont zur Umstellung ihrer Absatzbeziehungen nicht gegeben wurde. Ausgebildete Industrieökonomen wurden nicht mehr benötigt und keine Kranführer mit Abitur. Die so ihrer alten Ausbildung beraubten Arbeitnehmer mussten teils sehr weite Strecken pendeln, um sich in der alten Bundesrepublik als Arbeitskräfte verdingen zu können. Legt man die Unterscheidung von Max Weber zugrunde, so hatten sie ein mehr an formaler Freiheit gewonnen, aber nicht ein Mehr an materieller Freiheit. Denn Arbeitnehmer können nicht Jahre auf ein lukratives Gehaltsangebot warten. Das tägliche Leben bedeutet unaufschiebbare Kosten, die bezahlt werden müssen.
Und nun die Ukraine. Städtische Regionen werden sicher einen Aufschwung zu verzeichnen haben, solange dort die Lohnforderungen unter denen im Westen bleiben, denn sonst würde sich der Transport von Gütern über lange Strecken kaum rechnen. IT-Spezialisten werden ein sicheres Auskommen haben. Aber bereits die ausgebildeten Ärzte und Pflegekräfte müssen in Richtung der Zentren in der EU abwandern, weil dort gute Einkommen warten und eine hohe Nachfrage herrscht. Wer bleibt als Spezialist also in der Ukraine und wartet eine Generation lang auf den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung?
Die Großstadt Charkiw beispielsweise wird verkümmern, weil ihr das Hinterland zahlungskräftiger Nachfrager fehlen wird. Die EU wird zwar ähnliche Instrumente entwickeln, wie sie aus der Zonenrandförderung in der alten Bundesrepublik bekannt sind, deren Wirkungen aber nie zu einem nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung in diesen Regionen geführt haben. Charkiw wird ganz im Osten der EU liegen mit Panzersperren und Stacheldraht sowie Todesstreifen und zu räumenden Minengürteln, die Unsummen an Geld verschlingen werden. Wie wird man also in Charkiw leben, weit weg von den Zentren wie Wien, München oder Brüssel?
Setzt sich nach dem heißen dann ein Kalter Krieg fest, kann sich weiter keine Metropolregion entwickeln, wie wir sie bei uns kennen etwa im Raum Aachen mit wirtschaftlichem Verkehr tief ins niederländische und belgische Gebiet hinein. Mit den zukünftig zu erwartenden Konflikten im Agrarbereich um die Zuteilung von Mitteln aus dem EU-Agrarhaushalt sowie den endlosen bürokratischen Anforderungen verschwinden kleine bäuerliche Betriebe, wie man es in Polen vor Jahrzehnten beobachten konnte. Der Druck zur Landflucht wird steigen und der Wettbewerb um wenige gut bezahlte Jobs zunehmen. Französische und deutsche Bauern werden sich ihre Fleischtöpfe nicht schleifen lassen, und wenn, dann werden diese Menschen mit radikalen Ideen antworten, wie es zurzeit schon beobachtet werden kann.
Der ukrainische Staat wird aufgrund der nach dem Krieg zu erwartenden hohen Verschuldung nur eine geringe Handlungsfähigkeit haben. Der IWF wird alte Kredite aus der Zeit noch vor dem Maidan eintreiben wollen, die USA wollen ihr Geld nach dem »Lend- and Lease«-Gesetz zurückfordern. Nur zur Erinnerung: Großbritannien hatte im Jahr 2000 die letzte Rate der Kriegskredite der USA aus dem zweiten Weltkrieg bezahlt. Wie bei allen unterentwickelten Ländern kommen dann sicher Schuldenschnitte in den Diskussionen vor. Aber die großen privaten Investoren werden auf keinen Cent verzichten und bei größerer Unsicherheit ihrer Investments nur die Ausbeutung verschärfen. Jetzt bereits bestehende Unternehmen z. B. im Süßwarenbereich werden aufgekauft und über Hedgefonds gründlich ausgesaugt. Das Eigentum an interessanten Industriebetrieben wird sich internationalisieren, d. h. Kapital wandert ein und sucht nach fetten Renditen.
Die wirtschaftlichen Aussichten der Ukraine als Mitglied einer EU sehen also keineswegs rosig aus, und den erwarteten und erhofften Zugang zum Reichtum wird es nicht geben. Ein bisschen Tourismus an der Schwarzmeerküste kann dem nicht abhelfen. Denn dieser Kuchen wird für den gesamten Westen keineswegs mehr wachsen, weil die wirtschaftliche Transformation im Zuge der Klimakrise sehr viel Geld kosten wird, welches für den Konsum nicht noch einmal ausgegeben werden kann. Der Reiseweltmeister Deutschland wird sich in Zukunft ebenfalls bescheidenere Ziele setzen. Die geopferten Menschen von heute werden sich mit Grausen von ihren einstigen Hoffnungen abwenden und die hehren Worte »Freiheit und Demokratie« nicht mehr gern im Munde führen. Etliche werden sich natürlich in ihrem erlernten und medial forcierten Nationalismus einrichten und den Russen die Schuld an ihrem Elend geben, wodurch die potentiellen wirtschaftlichen Beziehungen dorthin für lange Zeit verschüttet werden. Soweit Oligarchen ihre Vermögen retten können, eröffnet sich ihnen im Raum der EU ein weites Betätigungsfeld. Davon werden die Menschen vor Ort keinen Vorteil haben