Es ist spannend zu hören, was ein Wissenschaftstheoretiker zu einer emotionsbeladenen Frage wie Krieg und Pazifismus zu sagen hat. Olaf Müller, Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie an der Humboldt-Universität Berlin, plädiert für einen pragmatischen Zugang zum Thema und stützt sich dabei besonders auf die Arbeiten von Hilary Putnam (1926-2016). Was ist Pragmatismus? Eine Haltung, die Handlungsanweisungen weniger aus Prinzipien ableitet als aus den konkreten Gegebenheiten einer Situation. Interessant ist dabei der Ansatz, die absolut setzende Opposition von Gut und Böse zu vermeiden, sondern eher in vergleichenden Kategorien wie »besser« oder »schlechter« zu denken. Damit wird auch die in der Politik inzwischen so beliebte Gegenüberstellung von »gesinnungsethisch« und »verantwortungsethisch« relativiert. Müller bemüht sich um eine verantwortungsethische Begründung des Pazifismus.
Im Zentrum steht bei ihm die Frage: »Was wäre, wenn?« Denn im Krieg geht es immer wieder um die Frage: »Was wäre, wenn die Beteiligten anders (z. B. weniger kriegerisch) handeln würden, als sie es tun?« Müller weist nach, dass diese Frage nicht immer eine Chimäre bleiben muss, und argumentiert, dass ein pazifistisches Herangehen an einen Konflikt weniger Tote und Verletzte zur Folge hätte als das kriegerische. Als Beispiel, das er gründlicher erforscht hat, dient ihm der Kosovo-Krieg.
Eine weitere wichtige Frage ist die nach dem Menschenbild. Befürworter gewaltfreier Lösungen vertrauen eher in optimistischer Weise auf die Güte der Menschen, wer in dieser Hinsicht pessimistisch ist, optiert für Waffen. Müller gelingt es, dem Optimismus einen argumentativen Vorteil zu verschaffen.
Pragmatismus bedeutet für Müller aber auch, dass er Militär nicht grundsätzlich ablehnt. Das wird bei manchen Pazifisten Kopfschütteln hervorrufen. Aber entscheidend dazu sind die Überlegungen, die er ganz am Schluss seines Buches anstellt zum Thema »Waffenlieferung an die Ukraine« (die er ablehnt) und in denen er darauf hinweist, dass in einem Kriegsfall niemand ohne Schuld bleiben kann.
Müller plädiert für einen bewussten Umgang mit dem Thema Angst. Seine persönliche Angst vor dem Einsatz von Atomwaffen im Ukrainekrieg vergleicht er mit der Sorge eines Ingenieurs in einem Atomkraftwerk. Ein verantwortungsvoller Ingenieur wird angesichts der Größe der Gefahr auch die kleinste Sorge um das Funktionieren der gewaltigen Anlage ernst nehmen. Nicht anders kann es in einem Kriegsfall sein, in dem, wie Müller schreibt, ganz viele unberechenbare Akteure in die Kalkulation einfließen.
Es gäbe aber auch Einwände zu formulieren. Etwa gegen die pragmatische Unterscheidung zwischen mehr oder weniger kriegerischen Handlungen. Ein aggressiver oder kriegerischer Gedanke wird sich, wenn er gepflegt wird und wachsen darf, in aggressive Worte verwandeln, diese in aggressive Taten. Vorbereitende Handlungen, wie etwa das Training auswärtiger Soldaten an einer Waffe, sind daher ebenso kriegerisch wie die Anwendung der Waffe selbst.
Ein weiterer Einwand könnte aus der Beobachtung kommen, dass Politik niemals ohne Korruption einhergeht. Dem Zynismus, mit dem die Herrschenden ihre Kriege planen, entspricht die willige Selbstentmündigung der Beherrschten. Damit relativiert sich Müllers Forderung, nun endlich den gewaltfreien Widerstand einzuüben. Konzepte dafür gibt es spätestens seit Bertha von Suttner. Aber ihre Wirkung scheiterte bisher noch an den Macht- und Manipulationsverhältnissen.
Olaf Müller: Pazifismus. Eine Verteidigung, Reclam, 2022, 116 S., 6 €.