Hartwig Hohnsbein Was sich zu jener Zeit begab …
Joseph, der Sohn des Eli-Jakob, des hochangesehenen Holzhandwerkers in Nazareth, verstand die Welt nicht mehr. Gerade erst, vor zwei Tagen, hatte er sein erstes Werkstück öffentlich vorgeführt. Er hatte es sich ganz allein ausgedacht und ohne Hilfe seines Vaters, bei dem er in der Lehre war. hergestellt: Eine Krippe, die mit nur wenigen Handgriffen für ein neugeborenes Kind zu einer angenehmen Wiege umgewandelt werden konnte. Die Leute, denen er sein Werk erklärte, waren begeistert. Große Erfindung! Darauf hätte man schon früher kommen können. Selbst die sonst immer so mürrischen Pharisäer sparten nicht mit ihrem Lob. »Ein wunderbares Werk – als hätte es Jahwe, unser Herr, selbst geschaffen.« So schallte es über den Platz vor der Synagoge.
Und dann dieses, einen Tag später: Maria, die Tochter des Joachim und der Anna, kam zu ihm. Sie war mit ihm verlobt, lebte aber, wie es die heilige Vorschrift vorsah, noch im Haus ihrer Eltern. Die Brautgabe war natürlich schon für sie entrichtet, und in sechs Monaten sollte die prachtvolle Hochzeit sein. Darauf freute er sich schon, wenn dann endlich die Zeit der Jungfernschaft zu Ende war – und nun also dies: »Ich bin, glaube ich, schwanger«, hatte sie ihm schüchtern eingestanden, »und ich weiß gar nicht, wodurch«. Maria, seine Maria, war gerade einmal fünfzehn Jahre alt; sie war noch sehr verspielt und dachte wohl, das lässt sich alles regeln. Joseph allerdings begriff sogleich die unheilvolle Situation. Er hatte sich zwar noch nie so sehr für die heiligen Vorschriften der Tora interessiert – doch so viel wusste er schon: Wenn etwas mit der Jungfrauenschaft vor der Hochzeit nicht stimmt, dann gibt es Probleme, die tödlich sein können. Ein Freund von ihm, mit dem er oft zusammen war, hatte ihm gleich nach der Verlobung dieses heilige Gebot genannt: »Ist es aber die Wahrheit, dass das Mädchen – bei der Hochzeit – nicht mehr Jungfrau war, so soll man sie heraus vor die Tür des Hauses ihres Vaters führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen, weil sie eine Schande in Israel begangen hat« (5. Moses 22. 20).
Die ganze Nacht über dachte und rechnete Joseph hin und her. Bei den wenigen Treffen mit Maria seit der Verlobung war es doch immer zwischen ihnen so zugegangen, wie es die heiligen Vorschriften verlangten. »Ich werde mich heimlich von ihr trennen, ich bin doch ein rechtschaffener Mann – da muss es einen anderen geben – etwa Gabriel, den reichen Zolleinnehmer, der gibt immer so an und ist doch hinterhältig.« Trennen – »so soll es sein, sonst kommt Schande auch über mich«. Doch einmal, so erinnerte er sich plötzlich, da kuschelte sich die kleine Maria so sehr an ihn heran, da musste er einfach mitkuscheln. Das war schön! Werden so die Kinder »gezeugt«, wie es so oft in den heiligen Texten heißt. Er hatte noch nie so genau darüber nachgedacht.
»Nein«, sagt er nun bei sich, »ich werde sie dennoch als Frau zu mir nehmen; vielleicht lässt der Herr ein Wunder geschehen, wie wir beiden aus dieser verflixten Situation herauskommen.«
Und es geschah ein Wunder. Am nächsten Morgen schon kam eine Nachricht von einem Priester, der in Jericho lebte, dem Priester Zacharias. Seine Frau Elisabeth, eine Verwandte der Maria, so teilte er mit, erwarte ein Kind, und sie wünschte, weil sie beide schon »hochbetagt« seien, dringend eine Hilfe nach den »Tagen der Unreinheit«, die auf die Geburt folgen. Er selbst müsse dann wieder den Tempeldienst in Jerusalem verrichten. Maria, die junge Verwandte, möchte doch, bitte, zu ihnen kommen, für drei/vier Monate, und dabei selbst lernen, Neugeborene zu betreuen. »Ein Wunder«, rief Joseph, »Maria geht nach Jericho, bevor etwas an ihr auffällt«. »Maria muss der Elisabeth dringend beistehen«, so sagte es Joseph seinem Vater, und der verstand sofort. Ob er etwas ahnte? Und so machte sich Maria auf die Reise von Nazareth nach Jericho. Und niemand, außer Joseph, wusste, dass sie selbst schwanger war.
Drei Monate, so war vereinbart worden, sollte Maria bei ihrer Cousine bleiben. Doch was dann, wenn sie selbst ihr Kind zur Welt bringt – vor der Hochzeit?
Zacharias hatte bald herausgefunden, in welcher Schwierigkeit Joseph und Maria waren. Obgleich ein gesetzestreuer und gottwohlgefälliger Priester, nahm er sich doch seiner Verwandten fürsorglich an. Er fand heraus, dass Joseph von seiner Herkunft her ein größeres Grundstück in Bethlehem hatte, das allerdings erb-rechtlich umstritten war und noch nicht geschätzt und in Listen eingetragen. Vornehme andere Verwandte, die sich gern als »Magier« oder sogar als »Könige« ausgaben, wollten ebenfalls Anteil an diesem Besitz haben. »Das muss geregelt werden«, ließ Zacharias durch Boten dem Joseph ausrichten, der ja noch in Nazareth war. »Hole deine Maria hier ab und reist dann weiter nach Bethlehem. Ich selbst werde euch dahin begleiten. Und vergiss nicht: Eine solche besitzrechtliche Verhandlung kann Monate, ja, Jahre dauern. Und bevor ihr nach Bethlehem zieht, werden wir hier eure Hochzeit begehen – in aller Stille.« Und so geschah es.
In Bethlehem fanden die beiden Unterkunft in einem Stall, den Joseph dann, dank seines gelernten Holzhandwerks, so herzurichten verstand, dass alles darin, insbesondere die alte Krippe, so wohnlich wurde, dass die Bewohner des Ortes, zumeist Hirten, und sogar die drei Verwandten, die sich wie Könige benahmen, lobende Worte fanden und dann sogar etwas schenkten.
Als das Paar, der Vater und Ehemann Joseph und seine Ehefrau und Mutter des Kindes, das »Jesus« genannt wurde, nach fast drei Jahren schließlich wieder nach Nazareth kamen, wurde sie hier mit ihrem Kind verheißungsvoll aufgenommen. Keiner hatte mehr Fragen zur früheren Jungfernschaft der Mutter.
Nur einen Makel gab es doch: Die Festschreibung des Besitzes in Bethlehem auf die Verwandtschaft in Nazareth gelang nicht; sonst wäre ihr Kind Jesus, der Erstgeborene des Joseph und der Maria, später ein Großgrundbesitzer mit Tagelöhnern geworden und nicht, wie seine Anhänger später behaupteten und heute noch singen, der Erretter der Welt, der, wie die Großen der Weltgeschichte, Kaiser Augustus vor allen, von einer Jungfrau, »das ist wahr«, geboren wurde!
Nachwort:
Die Weihnachtslegenden (also die bekannten Weihnachtsgeschichten: »Es begab sich aber zu der Zeit …«), die seit mindestens 1700 Jahren in der »Weihnachtszeit« weltweit verbreitet werden, und zwar in der Regel so, als wären sie historisch ganz authentisch, finden sich im Neuen Testament nur in den Evangelien Matthäus (1 + 2 Kap.) und Lukas (1 + 2 Kap.) und dazu der »Stammbaum Jesu« (Kap. 3). Das älteste Evangelium, das von Markus, ca. 60-70 n. Chr. geschrieben, das von Matthäus und Lukas für ihren Aufriss benutzt wurde, kennt die Weihnachtsgeschichten ebenso wenig wie das 4. Evangelium, das Johannesevangelium.
Neben vielen Ungereimtheiten zur Herkunft Jesu, die z. B. beim Vergleichen des »Stammbaums Jesu« bei Matthäus und Lukas jedem Leser auffallen müssten, hat z. B. die Geschichte vom angeblichen »Kindermord des Herodes« aller Erkenntnis nach nie stattgefunden.