»Schaut auf Butscha« rief Stefan Kornelius vor einem Jahr den Lesern der Süddeutschen Zeitung zu. Was dort sichtbar werde, schrieb der Leiter des Ressorts Politik in der Ausgabe vom 4. April 2022, lasse sich mit dem Begriff Verbrechen nicht mal ansatzweise beschreiben. Die Ukraine erleide keinen Angriffskrieg, sondern einen Vernichtungsfeldzug. Die russische Soldateska brandschatze und morde nach Gusto.
Wer waren die Menschen, die uns das Fernsehen damals gezeigt hat? Die Bevölkerung der Ukraine besteht nach offizieller Zählung zu 77,8 Prozent aus Ukrainern und zu 17,3 Prozent aus Russen. Folglich könnte es sich bei jedem fünften Opfer um einen Russen gehandelt haben Bei der Identifizierung der Leichen spielte das anscheinend keine Rolle. Dem Verfasser des Kommentars geht es auch um etwas anderes. Er will uns die Abscheulichkeit des Verbrechens ins Bewusstsein rufen und wirbt um Verständnis dafür, dass niemand in der Ukraine mit Russland Frieden schließen werde.
Daniel Brössler, Leitender Redakteur in der Parlamentsredaktion der Süddeutschen Zeitung, spinnt den Faden am 31. Mai 2022 auf seine Art weiter. Russland bedrohe unter der »faschistoiden Führung« Wladimir Putins Europa und den Weltfrieden. Es sei gut, dass Deutschland sich dagegen wappne. Bei der Lieferung von Waffen an die Ukraine sei es nie nur um den Fortbestand der Ukraine gegangen, vielmehr hänge die künftige Gestalt Europas davon ab, ob und in welchem Umfang Putin seine »verbrecherischen Ziele« erreiche.
Wenige Tage davor hatte Wolfgang Krach, einer der Chefredakteure des angesehenen Blattes geschrieben, es gebe gute Gründe dafür, der Ukraine sofort schwere Waffen zu liefern. Jeden Tag ermordeten russische Soldaten Zivilisten, zerstörten Häuser, bombardierten Eisenbahnlinien und eroberten immer mehr ukrainisches Gebiet, Angela Merkels aus heutiger Sicht falsche Russlandpolitik habe »maßgeblich zu diesem Krieg beigetragen«.
Im Systemwettbewerb mit den »Autokratien China und Russland“ könnten die westlichen Industriestaaten nur bestehen, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewännen, meint der Parlamentskorrespondent des Blattes, Paul Anton Krüger, in der Ausgabe vom 8. Juli 2022. Der erste und notwendige Schritt dazu sei, dem russischen Außenminister Lawrow ins Gesicht zu sagen, dass er der Vertreter »eines verbrecherischen Regimes« sei.
In der Ausgabe vom 10. Oktober 2022 fragte die deutsch-französische Schriftstellerin Nathalie Weidenfeld, woher die leidenschaftliche Rage komme, mit der so viele kultivierte Bürger nach Waffen riefen. Gerade jene, die allergisch auf Phrasen wie »die« Frauen reagierten, sprächen im Fall des Ukrainekonfliktes problemlos von »den« Russen oder auch »den« Ukrainern und steckten sie in stereotypisierte Klischees, vor denen sie sonst leidenschaftliche gewarnt hätten. Auch in seriösen deutschen Medien würden Ukrainer immer wieder heroisiert, während Russen dämonisiert und die Ukraine zum Hort individueller Freiheit und europäischer Werte idealisiert würde.
In einem Kommentar zur Diskussion über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine begegnet uns ein Wortschatz, der an Victor Klemperers Studie über die Sprache des Drittes Reiches erinnert. Bei dieser Debatte, so Daniel Brössler, dürften die Erfahrungen »mit Wladimir Putin und dessen Kriegsverbrecher-Clique« nicht ausgeblendet werden, schreibt er in der Ausgabe vom 2. Januar 2023. In diesem Krieg gebe es keinen Status quo außer dem, der »dem Massenmörder Putin« in die Hände spiele.
Dem Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung, Helmut Mauró, platzte eines Tages anscheinend der Kragen. In einem Leitartikel des Feuilletons schrieb er am 2. Februar 2023, soweit dürfe es nicht kommen, dass die Ukraine verlange, russische Künstler von deutschen Spielplänen zu streichen. So etwas habe man früher nur aus Schurkenstaaten gekannt oder in Romanen Franz Kafkas gelesen. Die wehrhafte Demokratie möge solche Verhältnisse verhindern. Anscheinend müsse sie sich nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihre leidenschaftlichen Freunde verteidigen.
In einem Gespräch mit dem Leiter des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung, Andrian Kreye, gab der slowenische Philosoph Slavoi Žižek zu bedenken, dass Russland auch ein paar Garantien gegeben werden müssten, zum Beispiel, dass das Ziel für uns als Westen nicht die Zerstörung Russlands sei, sondern das Überleben der Ukraine. »Tschaikowski oder Dostojewski aus den Programmen nehmen? Mein Gott, da überlassen wir ja einige der größten Namen der Kulturgeschichte Wladimir Putin.« Nachzulesen in der Ausgabe vom 10. Februar 2023.
Am 11. Februar 2023 meldet sich der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Kurt Kiste, zu Wort. Notabene sei es kein spezifisches Verhalten »des Kriegsverbrechers Putin«, dass er in die Rolle des Verteidigers schlüpfe. Die USA zum Beispiel hätten ihren Angriff auf den Irak 2003 damit »gerechtfertigt«, dass sie und die Welt von Saddam Husseins Regime bedroht würden. Das war kein Einzelfall. Nach Darstellung der kanadischen Plattform Global Research haben die USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 44 Staaten rund um die Welt direkt oder indirekt angegriffen, um einen Regimewechsel zu bewirken.
In der Ausgabe vom 18. März 2023 erinnert die außenpolitische Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, Dunja Ramadan, an die »zahlreichen Kriegsverbrechen« der Amerikaner im Irak. Millionen Menschen seien damals weltweit auf die Straße gegangen, um dagegen zu protestieren. Die Verantwortlichen seien nie belangt worden. Niemand in den wohltemperierten deutschen Redaktionsstuben wäre jemals auf die Idee verfallen, möchte ich hinzufügen, einen amtierenden amerikanischen Präsidenten als Massenmörder oder die jeweils amtierende Regierung der Vereinigten Staaten als Kriegsverbrecher-Clique zu bezeichnen. Gilt Putin als Person minderen Rechts? Schaut auf Auschwitz.