Die Frage, ob Prometheus, der Halbgott, ein listiger Betrüger voller Hochmut war oder als Feuerbringer ein Wohltäter der Menschheit, beschäftigt Dichter und Poeten, Maler und Bildhauer, Komponisten, Philosophen, Religionswissenschaftler und Theologen seit der Antike. Auch der vielschichtige Mythos von einem Demiurgen verkörpert ein schöpferisches Prinzip oder Wesen, das die ersten Menschen aus Lehm geformt, mit Bewusstsein versehen und das Chaos der Welt geordnet hat.
Prometheus. 44 Jahre nachdem Johann Wolfgang von Goethe voller Sturm und Drang in dem so betitelten hymnischen Gedicht seinen Helden die Götter herausfordern ließ – »Ich kenne nichts Ärmeres / Unter der Sonn’ als euch, Götter!« –, schuf die britische Schriftstellerin Mary W. Shelley in ihrem 1818 veröffentlichten Roman »Frankenstein oder Der moderne Prometheus« ein Monster, das bis heute nicht zur Ruhe kommt. Frankenstein, das ist nicht der Name der Kreatur, so wie häufig fälschlicherweise angenommen wird, sondern der des Medizinstudenten mit Vornamen Viktor, der in seinem Labor aus Leichenteilen den künstlichen Menschen zusammenfügt und zum Leben erweckt. Sein Geschöpf bleibt namenlos, wünscht sich aber nichts mehr als von seinem »Vater« geliebt zu werden, genau wie so manches ungeliebte Menschenkind. Die erfahrene Zurückweisung hat die aus Buch und Filmen bekannten schrecklichen Folgen.
200 Jahre sind seitdem vergangen. Heute arbeiten rund um den Globus die modernen Frankensteins daran, mit Hilfe der Wissenschaften und ihren Möglichkeiten, mit Hilfe von Technik und Digitalisierung, von Algorithmen und künstlicher Intelligenz weltweite Probleme wie Klimawandel oder Krankheiten zu lösen, erschaffen in Laboren Kreaturen durch Gen-Manipulation und züchten künstliches Fleisch in Retorten.
Sach- und Wissenschaftsbücher zu dieser Thematik füllen die Regale, Romanautoren entfesselt sie die Fantasie. Im vergangenen Jahr hat sich die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer (32) mit dem Science-Fiction-Thriller »DAVE« in dieses Genre gewagt, und zwar so erfolgreich, dass die Jury des Österreichischen Buchpreises den Roman aus über 120 Einreichungen für den Hauptpreis auswählte. Die Auszeichnung wurde am 8. November 2021 zum Auftakt der internationalen Messe Buch Wien überreicht.
Edelbauer beschreibt eine Zukunft, in der das Klimasystem der Erde infolge ungebremster Erwärmung und daraus resultierendem extremem Wassermangel kollabiert ist. Die Überlebenden der Katastrophe, 118 998 Menschen – genau gezählt, die Überwachung macht’s möglich –, leben in einem mehrstöckigen »Labor« genannten Gebäude über und unter der Erdoberfläche, luftdicht und hermetisch abgeschottet von der Außenwelt. Ihr einziges Ziel, ihre einzige Aufgabe ist, DAVE zu erschaffen, das Goldene Kalb der Hightech-Tüftler, eine künstliche Super-Intelligenz, die perfekte Mensch-Maschine, ausgestattet mit voller Sprachfähigkeit und einem individuellen Bewusstsein, gefüttert mit den Erinnerungen eines Wissenschaftlers.
»Wir, die Menschen, wollten nicht nur unser eigenes, sondern das Leben an sich und seine unendliche, facettenreiche Intelligenz gestalten. Ein unhaltbarer Fortschritt, eine Kettenreaktion entfaltete sich: Vom simplen Werkzeug gingen wir über zur Gestaltung unserer Lebenswelt; von angesammeltem Wissen über unseren Körper hin zur Heilung und Verbesserung desselben und schließlich hin zur Schöpfung sich bewegender Artefakte, die uns eines Tages überlegen sein würden. Ein Prozess immer größerer Transzendenz, der das ehedem tote Universum zur Extension des eigenen Verstandes erklärte. Eine finale Apotheose und als deren Abschluss: DAVE.«
Jedoch, nichts ist gewiss. Der Ich-Erzähler bewegt sich auf schwankendem Grund, in doppeltem Sinne. Er befindet sich damit in einer ähnlich undurchsichtigen Situation wie die Ich-Erzählerin in Edelbauers 2019 erschienenem Erstling »Das flüssige Land«, einer Parabel über die österreichspezifische Vergangenheitsverdrängung, in dessen Titel schon der feste Boden negiert wird. In beiden Romanen stehen die Protagonisten vor der Frage, dem Rätsel, ob und wie sich Innenwelt und Außenwelt beeinflussen.
Die Jury schreibt in ihrer Begründung zur Preisverleihung, beim Lesen unterhalte man sich nicht nur, sondern erfahre »viel über philosophische Debatten, Bewusstseins- und Gedächtnisforschung, Informatik und lernende Systeme, deren Heilsversprechen die Autorin spürbar misstraut. Denn der Weg zu einer schmerzlosen und total vernünftigen Gesellschaft nach dem Ebenbild des Computers führt durch Überwachung und Repression.«
Edelbauer erzähle »elegant und pointiert, mit galligem Witz, Lust an der Anspielung und immer wieder verblüffenden Wendungen von der Ohnmacht des Einzelnen in einer Diktatur der Weltverbesserer«, heißt es weiter in der Laudatio. Und ab und an, darf ich ergänzen, erzählt sie in einer eigenwilligen, durch – wie ich annehme – österreichische Wort-Einsprengsel geprägten Bildungssprache. Der verblüffende Twist auf den letzten Buchseiten entschädigt dafür.
SF-erfahrene Leserinnen und Leser und Cineasten mögen bei der Lektüre auf Spurensuche gehen: Ist DAVE ein Akronym wie HAL, der Computer aus dem Film »2001: Odyssee im Weltraum« (Regie: Stanley Kubrick, Buch: Arthur C. Clarke)? Gibt es Anhaltspunkte, die an die von Maschinen mit künstlicher Intelligenz beherrschte »Matrix«-Welt der Wachowski-Schwestern erinnern? Oder an die falsche, vorgetäuschte Wirklichkeit des »Simulacron«-Romans von Daniel F. Galouye, der 1973 von Rainer Werner Fassbinder und 1999 von Josef Rusnak/Roland Emmerich verfilmt wurde?
Raphaela Edelbauer: »DAVE«, Klett-Cotta 2021, 420 Seiten, 25 €.