Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Was für eine Frau!

Fehlt Ihnen viel­leicht noch ein Weih­nachts­ge­schenk, oder haben Sie selbst noch einen Wunsch offen? Dann habe ich eine Emp­feh­lung für Sie: die Bio­gra­fie einer star­ken, sym­pa­thi­schen Frau, die Ihnen bei der Lek­tü­re ans Herz wach­sen wird. Ihr Name: Gre­ta Wehner.

Chri­stoph Mey­er, der an der Hoch­schu­le Mitt­wei­da als Pro­fes­sor für Sozia­le Arbeit lehrt, hat unter dem Titel »Gre­ta Weh­ner – Eine Frau tritt aus dem Schat­ten« eine, ich kann es nicht anders sagen, lie­be­voll-per­sön­li­che Bio­gra­fie geschrie­ben. Sie ist im Novem­ber im Lan­gen Mül­ler Ver­lag erschie­nen, weni­ge Wochen vor dem 7. Todes­tag Gre­tas am 23. Dezember.

Von der ersten bis zur letz­ten Sei­te ist Mey­ers Sym­pa­thie spür­bar. Kein Wun­der, gehör­te er doch über 20 Jah­re zu den eng­sten Beglei­tern Gre­ta Weh­ners: von 1998 bis 2011 als Lei­ter des Her­bert-Weh­ner-Bil­dungs­werks in Dres­den und ab 2003 als ehren­amt­li­cher Vor­sit­zen­der der Her­bert-und-Gre­ta-Weh­ner-Stif­tung, eben­falls mit Sitz in Dres­den. Vor die­sem Hin­ter­grund bekennt er, dass er die Bio­gra­fie nicht allein auf der Basis wis­sen­schaft­li­cher Quel­len­ar­beit geschrie­ben hat, wie zum Bei­spiel sein 2006 ver­öf­fent­lich­tes Buch über Her­bert Weh­ner, son­dern: »Einen Men­schen per­sön­lich eng gekannt zu haben, das ist doch etwas Ande­res. Bei mir liegt nicht nur Papier, hin­zu kommt Erin­ne­rung. Der Autor ist Zeit­zeu­ge zugleich.«

Wenig zukunfts­wei­send ver­lief ihre erste Begeg­nung im Dezem­ber 1997. Mey­er: »Ich mach­te kei­nen gro­ßen Ein­druck auf Gre­ta, und sie mach­te auch kei­nen gro­ßen Ein­druck auf mich.« Für Mey­er war Gre­ta Weh­ner »eine schlich­te und umständ­li­che alte Frau« mit wei­ßem Haar und dicken Bril­len­glä­sern, Hör­ge­rä­ten und Geh­hil­fen. Für Gre­ta war der 31-jäh­ri­ge Mey­er viel zu jung, um als neu­er Lei­ter des Her­bert-Weh­ner-Bil­dungs­werks ein­ge­stellt zu wer­den, des­sen Ehren­vor­sit­zen­de sie war. Sie sprach sich gegen sei­ne Ein­stel­lung aus, er bekam den Job trotz­dem. Kei­ner der bei­den ahn­te, »dass die­se eher flüch­ti­ge Begeg­nung am Anfang einer 20-jäh­ri­gen Ver­bin­dung steht«. Und dass Chri­stoph Mey­er ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter ein Buch über Gre­ta Weh­ner schrei­ben wird, für das er auf ihren gesam­ten Nach­lass zurück­grei­fen konnte.

Gre­ta wur­de am 31. Okto­ber 1924 in dem klei­nen Ort Harx­büt­tel bei Braun­schweig gebo­ren, wo sich ihre aus Flens­burg stam­men­den Eltern Char­lot­te und Carl Bur­me­ster – sie Gärt­ne­rin, er Schiffs­zim­mer­mann und Boots­bau­er – für kur­ze Zeit einer von jun­gen, lin­ken Idea­li­sten gegrün­de­ten Land­kom­mu­ne ange­schlos­sen hat­ten. Schon bald kehr­te die klei­ne Fami­lie nach Ham­burg zurück, wo Gre­ta 1931 ein­ge­schult wur­de. Im sel­ben Jahr zogen die Bur­me­sters in die Stra­ße Wie­sen­damm im Stadt­teil Barm­bek, der durch die als »Ham­bur­ger Auf­stand« glo­ri­fi­zier­te Revol­te im Okto­ber 1923 repu­blik­weit Berühmt­heit erlangt hat­te. Mut­ter Lot­te war 1923 in die SPD ein­ge­tre­ten, wech­sel­te 1927 zur KPD und wur­de 1932 Frau­en­lei­te­rin der KPD in Barm­bek-Zen­trum. Vater Carl, eben­falls in der KPD, kan­di­dier­te 1932 für die Ham­bur­ger Bürgerschaft.

Mit dem 30. Janu­ar 1933 begann auch für die Bur­me­sters die Zeit des Wider­stands und der Ver­fol­gung. Zum Beginn der Som­mer­fe­ri­en 1934 sahen Gre­ta und ihr ein Jahr jün­ge­rer Bru­der Peter den Vater zum letz­ten Mal. Als sie aus den Feri­en zurück­kehr­ten, erwar­te­te eine Tan­te die Kin­der auf dem Bahn­hof. Die Eltern waren in Haft. Im Som­mer 1934 kam Gre­tas Vater in der Gesta­po-Haft ums Leben, die Mut­ter wur­de zu einer Gefäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt, aus der sie im Okto­ber 1935 ent­las­sen wur­de. Im Som­mer 1937 floh sie mit ihren Kin­dern über Däne­mark ins sozi­al­de­mo­kra­tisch regier­te Schwe­den. Dort lern­te sie Her­bert Weh­ner ken­nen, den sie hei­ra­te­te und mit dem sie nach Ende des Zwei­ten Welt­kriegs nach Ham­burg zurückkehrte.

Her­bert Weh­ner trat im Okto­ber 1946 in die SPD ein. Er hat­te mit dem Kom­mu­nis­mus gebro­chen, und das Polit­bü­ro der KPD unter der Lei­tung Wil­helm Piecks hat­te ihn aus der Par­tei aus­ge­schlos­sen. Gre­ta Bur­me­ster wur­de kurz nach ihrer Rück­kehr aus dem schwe­di­schen Exil am 1. August 1947 Mit­glied der SPD. Sie hat­te zuletzt in Schwe­den als Kin­der­kran­ken­schwe­ster gear­bei­tet, jetzt ließ sie sich zur Sozi­al­für­sor­ge­rin ausbilden.

Schon bei der ersten Bun­des­tags­wahl 1949 wur­de Her­bert Weh­ner als Abge­ord­ne­ter des heu­ti­gen Wahl­krei­ses Ham­burg-Har­burg direkt in den Bun­des­tag gewählt, ein Erfolg, den ihm 35 Jah­re lang nie­mand strei­tig machen konn­te. So lan­ge wähl­ten ihn die Har­bur­ger »direkt«. Zur Bun­des­tags­wahl 1983 trat Weh­ner dann nicht mehr an.

Das Jahr 1953 wur­de zu einem ent­schei­den­den Wen­de­punkt im Leben von Gre­ta Bur­me­ster. Ihre Mut­ter erkrank­te an den Spät­fol­gen der NS-Haft, und Weh­ner bat Gre­ta, ihren Beruf auf­zu­ge­ben und ihm und ihrer Mut­ter in Bonn zur Sei­te zu ste­hen. Es war ein »Hil­fe­ruf mit tief­grei­fen­den Fol­gen« (Mey­er).

Her­bert Weh­ner wur­de in den Fol­ge­jah­ren zu einem der wich­tig­sten sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­ker der Bun­des­re­pu­blik: als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter, als stell­ver­tre­ten­der Par­tei­vor­sit­zen­der, als Bun­des­mi­ni­ster für gesamt­deut­sche Fra­gen in der Gro­ßen Koali­ti­on im Kabi­nett Kie­sin­ger, als Vor­sit­zen­der der SPD-Bun­des­tags­frak­ti­on wäh­rend der sozi­al­li­be­ra­len Koali­ti­on unter Füh­rung Wil­ly Brandts. Ohne Gre­ta Bur­me­ster an sei­ner Sei­te hät­te er die Jah­re nicht mei­stern kön­nen. Sie war sei­ne »wich­tig­ste Mitarbeiterin«.

Als Gre­ta Weh­ner und Chri­stoph Mey­er sich im Dezem­ber 1997 zum ersten Mal begeg­ne­ten, war Her­bert Weh­ner seit sie­ben Jah­ren tot. 37 Jah­re lang hat­te Gre­ta an der Sei­te des SPD-Poli­ti­kers, bei dem 1966 ein schwe­rer Dia­be­tes dia­gno­sti­ziert wur­de, für rei­bungs­lo­se Abläu­fe gesorgt und ihm Rück­halt gege­ben: als Fah­re­rin, Sekre­tä­rin, Adju­tan­tin, Büro­lei­te­rin, Refe­ren­tin, Bera­te­rin, Beglei­te­rin, Haus­häl­te­rin, Köchin, Für­sor­ge­rin, schließ­lich als Ehe­frau und Pflegerin.

»All die­se Wör­ter«, so heißt es im Buch, »beschrei­ben Tei­le von Gre­ta Weh­ners Tätig­kei­ten, kei­nes jedoch trifft den Kern.« »Hel­fe­rin, nicht Die­ne­rin«, schlug Hans-Jochen Vogel ein­mal vor. Und Hel­mut Schmidt mach­te das Kom­pli­ment, an ihr sei »eine Poli­ti­ke­rin verlorengegangen«.

Das Außer­ge­wöhn­li­che an Gre­tas Wir­ken sticht beson­ders im Kon­text ihrer Zeit her­vor: Zwar war die Gleich­be­rech­ti­gung von Mann und Frau 1949 ins Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land geschrie­ben wor­den, aber die Rea­li­tät war eine ande­re. Da gal­ten zum Bei­spiel im Fami­li­en­recht noch Geset­ze aus dem 19. Jahr­hun­dert. In Ehe und Fami­lie hat­te nur der Mann das Sagen. Er ver­dien­te das Geld für den Unter­halt, die Frau hat­te für den Haus­halt und die Betreu­ung der Kin­der zu sor­gen. Bei deren Erzie­hung lag die Ent­schei­dungs­ge­walt beim Vater. Bis 1962 durf­ten Ehe­frau­en allein kein Kon­to eröff­nen. Erst 1969 wur­den Frau­en voll geschäfts­fä­hig. Der Mann konn­te, falls die Ehe­frau arbei­te­te, ihre Arbeits­stel­le ohne ihr Zutun beim Arbeit­ge­ber kün­di­gen. Erst 1977 trat, von der sozi­al­li­be­ra­len Koali­ti­on auf den Weg gebracht, das 1. Gesetz zur Reform des Ehe- und Fami­li­en­rechts in Kraft, 1980 dann die Reform der elter­li­chen Sor­ge für die Kin­der, die vor­her »elter­li­che Gewalt« hieß. Eman­zi­pa­ti­on, Femi­nis­mus, Gleich­be­hand­lung in der Spra­che statt all­täg­li­cher Männ­lich­keits­form: damals noch Zukunftsmusik.

Gre­ta war sicher­lich kei­ne Femi­ni­stin, aber sie hat den Weg der selbst­be­wuss­ten, selbst­be­stimm­ten, mei­nungs- und stand­punkt­fe­sten Frau vor­ge­lebt. Die in der Bio­gra­fie ver­öf­fent­lich­ten Fotos zei­gen, dass Gre­ta sel­ten von der Sei­te Her­bert Weh­ners wich. Auf Par­tei­ta­gen – bei solch einer Gele­gen­heit bin auch ich ihr begeg­net –, 1956 in Jugo­sla­wi­en bei Tito, 1969 in Rom bei Papst Paul VI., 1973 im Forst­haus Wild­fang in der Schorf­hei­de bei Erich Hon­ecker und im sel­ben Jahr in Lenin­grad, mit dem Pan­zer­kreu­zer »Auro­ra« im Hin­ter­grund: Wo Her­bert war, war auch Gre­ta. Das gilt auch für die poli­ti­schen, häu­fig vom Kal­ten Krieg gepräg­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Per­son Her­bert Weh­ners, zum Bei­spiel um sei­ne Rol­le in der KPD und im Exil in Mos­kau, beim Rück­tritt Wil­ly Brandts oder bei den Frei­käu­fen von DDR-Häft­lin­gen. Span­nen­de Sei­ten in der Bio­gra­fie, aus Gre­tas Per­spek­ti­ve reflektiert.

Die »fami­liä­re Sym­bio­se, die ihres­glei­chen sucht« (Mey­er), ende­te 1979 mit dem Tod von Gre­tas Mut­ter. Vier Jah­re spä­ter hei­ra­te­ten Her­bert Weh­ner und Gre­ta Bur­me­ster. Mey­er: »Für bei­de war dies die Bestä­ti­gung eines lan­gen gemein­sa­men Weges, und für Her­bert Weh­ner erwies sich die­se Ehe als lebens­not­wen­dig. Denn er erkrank­te bald an einer durch den Dia­be­tes ent­stan­de­nen Demenz, und die letz­ten Jah­re bis zu Weh­ners Tod in Bonn am 19. Janu­ar 1990 waren Jah­re der auf­op­fe­rungs­vol­len und umsich­ti­gen Pfle­ge durch sei­ne Frau.«

Die Ham­burg-Har­bur­ger SPD hat Gre­ta Weh­ner gewür­digt, indem sie sich in der Bezirks­ver­samm­lung für die Umbe­nen­nung des zwei Jahr­zehn­te zuvor nach Her­bert Weh­ner benann­ten Plat­zes im Her­zen des Stadt­teils ein­setz­te. Frank Rich­ter, damals Vor­sit­zen­der der SPD-Frak­ti­on in der Bezirks­ver­samm­lung Har­burg, sag­te zur Begrün­dung: »Gre­ta Weh­ner war nicht nur die Ehe­frau von Her­bert. Sie war für uns als Har­bur­ger SPD vor allem immer wie­der die See­le an sei­ner Sei­te und sein Ohr für unse­re Anlie­gen. Aber sie hat dar­über hin­aus nach Her­berts Tod auch ihr eige­nes Werk begon­nen. So enga­gier­te sich die aus­ge­bil­de­te Kran­ken­schwe­ster in der Deut­schen Alz­hei­mer-Gesell­schaft, war Mit­be­grün­de­rin und akti­ve Mit­wir­ken­de des Her­bert-Weh­ner-Bil­dungs­werks in sei­ner Geburts­stadt Dres­den und grün­de­te die Her­bert-und-Gre­ta-Weh­ner-Stif­tung zur För­de­rung des Bildungswerks.«

Am 2. Juli 2023 erfolg­te dann nach anspre­chen­der Umge­stal­tung die Ein­wei­hung des neu­en Are­als, das seit­dem Her­bert-und-Gre­ta-Weh­ner-Platz heißt.

»Mehr als die Frau an Her­berts Sei­te« ist im Dezem­ber 2017 Chri­stoph Mey­ers Nach­ruf auf Gre­ta Weh­ner im sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Vor­wärts über­schrie­ben. Mit sei­ner Bio­gra­fie hat Mey­er sie »aus dem Schat­ten« tre­ten las­sen, eine Bemer­kung des vor­ma­li­gen SPD-Mini­sters Jür­gen Schmu­de zitie­rend. Ich wür­de es anders for­mu­lie­ren: Gre­ta Weh­ner ist aus dem Hin­ter­grund her­vor­ge­tre­ten, an die Sei­te Her­bert Weh­ners, dort­hin, wo ihr Platz war.

 Chri­stoph Mey­er: Gre­ta Weh­ner – Eine Frau tritt aus dem Schat­ten, Lan­gen Mül­ler Ver­lag, Mün­chen 2024, 360 S., 26 €.