Regina Scheer hat über Jahre mit »Tante Hertha«, der alten Freundin ihres Stiefvaters Maximilian Scheer über deren Leben gesprochen und nun ein großes Buch daraus gemacht.
Hertha Gordon-Walcher (1894-1990) hat die Geschichte der sozialistischen Bewegung am eigenen Leib durchlebt. Geboren in einer jüdischen Familie in Königsberg emanzipierte sie sich, noch bevor sie volljährig wurde, und lernte Steno und Schreibmaschine in London. Schon da faszinierten sie die Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Durch die Zeitschrift Die Gleichheit. Zeitschrift für die Frauen und Mädchen des werktätigen Volkes, deren Chefredakteurin Clara Zetkin war, kam sie in Kontakt mit der Sozialistin und wurde schließlich ihre Sekretärin und Assistentin. Sie begleitete sie (auch auf ihren vielen Reisen), machte Besorgungen, erledigte gefährliche Aufträge und schrieb die Texte der Zetkin ab. Zwischendurch, während des Ersten Weltkriegs, landete sie im Gefängnis (Lager Holzminden), war aber immer unter Genossen und vornehmlich Genossinnen. So lernte sie Lenin, Trotzki, Rosa Luxemburg, Karl Radek (dessen Sekretärin sie zeitweise in Moskau war) und unter anderem Jacob Walcher (1887-1970) kennen. (Wenn er heute noch bekannt ist, so meistens wegen seiner Kontakte zu Bertolt Brecht.) Walcher war ein junger linker Sozialdemokrat und Gewerkschafter, der zu den Begründern des Spartacus-Bundes und später der KPD gehörte. Die Gemeinschaft mit ihm währte lebenslang, genauso wie der Einsatz und Kampf der beiden für eine sozialistische Revolution. Dabei waren sie keine braven oder linientreuen Parteimitglieder. Nachdem Jacob in der Gewerkschaftsarbeit der Komintern aktiv war und schon da gegensätzliche Positionen zu denen Stalins deutlich wurden, wurde er 1928 mit anderen führenden Genossen als »Rechte« aus der Partei ausgeschlossen.
Später, in der KPO (Kommunistische Partei Opposition), für die er sich engagierte, wurde er auch nicht geduldet, weil er die neu gegründete Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), die für eine Einheit von SPD und KPD eintrat, unterstützte. Fortan wurde er ein führendes Mitglied der SAPD, die ihre Arbeit auch nach 1933 in der Illegalität fortsetzte. Damals war Jacob in enger Verbindung mit Willy Brandt, den er als einen seiner »Ziehsöhne« begriff. (Wie schmerzlich war später die Trennung!)
Jacob und Hertha gingen nach Paris ins Exil. Immer im Einsatz, immer in Gefahr, immer ohne Geld. Hertha war oft krank, im Lager hatte ihre Lunge gelitten. Aber sie gab nie auf, auch als sie in die USA emigrieren konnten. Immer tippte sie Briefe und Artikel, übersetzte, beteiligte sich an den Diskussionen. So trug sie zu dem kargen Lebensunterhalt, den Jacob als Dreher verdiente, bei und war in den Diskussionen auf dem Laufenden. 1947 kehrten die Walchers nach Deutschland zurück und gingen, anders als die meisten ihrer engen Mitstreiter, in die sowjetische Besatzungszone. Anfangs Chefredakteur der Zeitung Tribüne sollte Jacob Walcher wieder einmal ein Tribunal seiner Genossen erleben. Als früherer »Abweichler« (KPO und SAPD) und Westemigrant beschuldigte man ihn des Verrats und entzog ihm die Parteimitgliedschaft. Hertha durfte bleiben, aber sie blieb auch an seiner Seite. Nach dem XX. Parteitag wurde Walcher wieder in die Partei aufgenommen. Abgeschoben ins Archiv, erlebten Jacob und Hertha im Vergleich zu früher ruhige Jahre, aber von KPO oder SAPD sollte nichts öffentlich werden.
Regina Scheer erzählt Parteigeschichte. Wen haben die Walchers nicht alles gekannt! Wie viele Genossen haben sie in den Streitereien und Kämpfen verloren! (Würden doch die heutigen Linken daraus gelernt haben!) Regina Scheer hat gründlich recherchiert und mischt dabei die persönlichen Erinnerungen an Begegnungen und eigenes Schicksal unter. Was immer wieder auffällt, ist die Solidarität innerhalb der »Familie« (so begriffen sich die Genossen), sowohl während des Exils als auch noch später in der DDR. Und doch waren die alten Gefechte nicht vergessen. Es ist das große Verdienst von Regina Scheer, über eine Frau geschrieben zu haben, die fast nur über den männlichen Partner definiert wurde, aber doch eigenständig und auch eigenwillig war. Dass das Buch den (Sachbuch-)Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, spricht für die Messe und ihre Juroren.
Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution, Penguin-Verlag, München 2023, 704 S., 30 €.