»Ungeheuer ist viel. Doch nichts / Ungeheuerer als der Mensch.« So beginnt ein berühmtes Chorlied in der Tragödie Antigone von Sophokles, hier in der Übersetzung von Friedrich Hölderlin aus dem Altgriechischen. Und dieser so ungeheuere Mensch kommt, wie es dann weiter heißt, »einmal auf Schlimmes«, das andere Mal »zum Guten«. Wer aber Schlimmes tut, hat das Recht verwirkt, »am Herde mit mir« zu sein.
Die Tage sind kürzer geworden, es ist länger dunkel, und draußen ist es kalt. Da sitzen wir doch gern im Warmen, »am Herde«, gehören gern zu jenen, »die jetzt ein Haus haben«, eine warme Wohnung. Und häufig lassen wir uns gemütlich-schaurig-spannend entführen ins Reich der Fantasie, vielleicht von einem Kriminalroman, der uns vor Langeweile bewahrt und in dem wir lesen können, wie die Menschen »auf Schlimmes« kommen. Aber zum Glück können wir auch von Ermittlern und Ermittlerinnen lesen, die das Böse im Auge haben, es manchmal aber mit Dämonen aufnehmen müssen, den eigenen aus der Vergangenheit, die sie immer wieder heimsuchen, oder jenen aus der Zwischenwelt des Magischen Realismus.
Ich möchte heute drei Bücher vorstellen, die zwar die Merkmale eines Kriminalromans tragen – Verbrechen geschehen, Ermittler bemühen sich um Aufklärung –, die aber zugleich jeweils einen eigenen Kosmos öffnen. Die Lesereise wird uns von der Pfalz über Hamburg bis nach Louisiana/USA mit seinen großen Sümpfen führen – was durchaus auch als Metapher verstanden werden kann.
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Ich beginne in der Pfalz, wo die Krimiautorin Monika Geier geboren wurde und wo ihre Kriminalromane angesiedelt sind. Seit seinem Erscheinen in diesem Herbst steht ihr neuestes Buch »Antoniusfeuer« jetzt im Dezember zum dritten Mal auf der Krimibestenliste. Die Halbtagskommissarin Bettina Boll vom Morddezernat Ludwigshafen kenne ich schon seit ihrem ersten Auftritt im Jahr 1999 in dem Debütroman »Wie könnt ihr schlafen«, für den Monika Geier prompt mit dem Marlowe ausgezeichnet wurde, dem Preis der Raymond-Chandler-Gesellschaft. Für den siebten Boll-Krimi »Alles so hell da vorn« von 2017 erhielt die Autorin den Deutschen Krimipreis.
Haben Sie schon einmal etwas von einer Mutterkornvergiftung gehört, früher auch »Antoniusfeuer« genannt? Die Vergiftung führt zu Darmkrämpfen, Halluzinationen und gefäßverengenden Durchblutungsstörungen, die wiederum das Absterben von Fingern und Zehen zur Folge haben können. Das Antoniusfeuer war im Mittelalter eine häufige Todesursache, und lange Zeit wusste niemand, wodurch es ausgelöst wurde.
Einem Newsletter des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit entnehme ich, Ursache sei ein giftiger Getreidepilz, Mutterkorn genannt, der verschiedene Gräserarten befalle, darunter vor allem Roggen, besonders, wenn es im Frühsommer sehr feucht war. Schon fünf Gramm frisches Mutterkorn könnten für einen Erwachsenen tödlich sein. Im Laufe der Jahrhunderte habe es immer wieder Massenvergiftungen gegeben, noch in den 1920er Jahren habe mit dem Pilz befallenes Getreide in Russland zu 11.000 Erkrankungen geführt. Da das Mutterkorn Wehen auslösen könne, sei es auch eingesetzt worden, um Abtreibungen einzuleiten. Daher komme vermutlich sein Name. Zwar gebe es den Pilz nach wie vor, aber in der Regel würden die Mutterkörner bei der Reinigung des Getreides in der Mühle entfernt, u. a. mit Hilfe von Farbscannern, die die dunkleren Mutterkörner erkennen, oder durch die Windsichtung, bei der Mutterkörner infolge ihrer anderen Dichte von den Getreidekörnern getrennt werden. Ein halbes Gramm pro Kilo Mahlgetreide ist der aktuelle EU-Grenzwert.
Dieses Mutterkorn hat in dem Geier-Krimi seinen Auftritt, als tödliche Dosis, aber auch als Verursacher von Krämpfen und Halluzinationen. Oder haben da nicht doch teuflische, dämonische Mächte ihre Klauen im Spiel? Sollte man nicht lieber einen Schutzheiligen anrufen, zum Beispiel Antonius (1195-1231), den beliebtesten unter den Volksheiligen, der im Jahr 1946 sogar zum Kirchenlehrer erhoben wurde? Oder vielleicht doch auf den seit Jahrhunderten von der katholischen Kirche eingeübten Exorzismus setzen?
Es ist eine seltsame Angelegenheit, die Bettina Boll von ihrem Vorgesetzten ans Bein gebunden bekommt, »obwohl Gespenster und Spirituelles nicht so ihr Fall sind«, wie es Herausgeberin Else Laudan in ihrem Geleitwort formuliert. Ist da was verhext, oder handelt es sich nüchtern betrachtet um Besessenheit als psychisches Phänomen? Was hat es mit dem Totenzettel auf sich, auf dem das Isenheimer Altarbild mit all seinen Dämonen zu sehen ist? Warum wurde – Heilige Maria Mutter Gottes! – das Jesus-Kind auf dem Marienbild in der sehr alten Kirche des kleinen Dorfes schwarz übermalt? Und – das ist nun nicht sprichwörtlich gemeint – welches Geheimnis umgibt die Leiche in Bolls eigenem Keller in dem gerade von der Tante geerbten Haus?
Bei all diesen Imponderabilien bleibt Bettina Boll erfreulich gegenwärtig, forscht nach konkreten Interessen, nach Motiven, will dem Schrecken einen Namen geben, die Morde und alles andere aufklären, »sucht den unsichtbaren Linien auf die Spur zu kommen, die Fehltritte in der äußeren Welt mit den inneren Dämonen der Beteiligten zu verbinden. Denn sie weiß, dass kaum jemand nichts zu verbergen hat« (Laudan). Selbst nicht in der Pfalz mit ihren ordentlichen Straßen und wuchernden Wäldern, dort – Lokalkolorit muss sein – wo süffiger Wein und leckerer Saumagen und Keschde zu Hause sind. Frage an die Sendeanstalt ZDF in Mainz: Wo bleibt bei den vielen Regionalkrimis im Fernsehen der Krimi aus der Pfalz rund um die Ermittlerin Bettina Boll?
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»Schwarzer Oktober« ist der vierte historische Kriminalroman mit der Kommunistin Klara Schindler des in Hamburg lebenden Schriftstellers Robert Brack, der ebenfalls mit dem Marlowe und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden ist. Den Werdegang seiner Protagonistin verfolge ich schon seit 15 Jahren. Sein 2012 veröffentlichter Krimi »Unter dem Schatten des Todes« hat den Reichstagsbrand von 1933 zum Thema. Schindler wird von der KPD mit falschen Papieren von Kopenhagen nach Berlin geschickt, um herauszufinden, wer der angebliche Brandstifter Marinus van der Lubbe ist. 2010 erschien der Krimi »Blutsonntag«, in dem Klara 1932 als kommunistische Reporterin hilft, Vertuschungen der Polizei im Zusammenhang mit gewalttätigen Auseinandersetzungen bei einem SA-/SS-Aufmarsch durch das damals noch nicht zu Hamburg gehörende rote Altona aufzudecken. 2008 erzählte Brack in »Und das Meer gab seine Toten wieder« die authentische Geschichte eines Hamburger Polizeiskandals aus dem Jahr 1931 um zwei weibliche Kriminalpolizistinnen, die angeblich freiwillig in den Tod gingen. Die Journalistin Schindler ist an der Aufklärung beteiligt.
Mit dem Schwarzen Oktober, der dem im September erschienenen Buch den Namen gab, ist der Oktober vor genau 100 Jahren gemeint, der Monat des Arbeiter-Aufstands in Hamburg. Klara Schindler ist 19 Jahre jung, also noch nicht volljährig, engagiert sich für die KPD, lebt in einer Keller»wohnung«, seitdem der Vater sie bei einem Techtelmechtel mit ihrer Klavierlehrerin erwischte und rauswarf. Es ist das Jahr der Massenarbeitslosigkeit, der Hyperinflation und des Hungers, in dem »die Leute das Geld schon in Säcken zum Höker tragen«, es aber »bald mehr wiegt als Kartoffeln« (zu Deutschland im Jahr 1923 siehe auch: Ossietzky 4/2023 und 20/2022). Schindler ist begeistert von der Hamburger Frauenrechtlerin und streitbaren KPD-Abgeordneten Ketty Guttmann – einer realen historischen Person (1883-1967), in deren Zeitschrift Pranger zur Organisation der Sexarbeiterinnen auf St. Pauli sie ihre ersten journalistischen Spuren hinterlässt.
Sie ist verliebt in ein »Kontrollmädchen» (Prostituierte), die als Taschendiebin reiche Männer ausnimmt. Und sie hat Angst vor einem Gespenst: dem unheimlichen Schnitter, einem Messerstecher, der Frauen anfällt, ihnen Schnitte beibringt, mal klein und zart, von den Opfern zuerst nicht spürbar, mal größer, und der ihr immer näher zu kommen scheint. Und sie spürt: Es liegt was in der Luft. Doch ihr kommunistischer Mentor mahnt: »Revolutionärer Übereifer nützt uns gar nichts. Wir organisieren uns für den Tag X.« Der dann im Herbst des Jahres kommt und den Brack »Barmbeker« und nicht »Hamburger« Aufstand nennt, da die Erhebung nie auf die ganze Stadt übergriff – ganz im Gegensatz zu der sowjetischen Schriftstellerin und Journalistin Larissa Reissner, die in ihrer schmalen Broschüre aus dem Jahr 1924 »Hamburg auf den Barrikaden« sah (siehe Ossietzky 21/2023; kleine Nebenbemerkung: Boris Pasternak hat seine Heldin Lara in Dr. Schiwago nach ihr benannt).
All diese Ereignisse hält Klara Schindler als Ich-Erzählerin in ihrem Tagebuch fest, dessen rasche Niederschrift den Stil des Kriminalromans prägt und ihm ein atemloses Stakkato aufdrückt.
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Auf in die Bayous von Louisiana. Hier ermittelt seit 1987 Dave Robicheaux, Cop beim New Orleans Police Departement, häufig unterstützt von seinem Kumpel Clete, und immer nach der Devise: »Die Menschen sind das, was sie tun, nicht das, was sie denken oder was sie sagen.« Inzwischen sind 23 Bände erschienen: alle aus der Feder des vielfach international ausgezeichneten Schriftstellers James Lee Burke, der in Louisiana an der Golfküste aufwuchs, einer von zahlreichen Kulturen, Sitten und Gebräuchen geprägten Region. Sklaverei, Rassismus, Ku-Klux-Klan, Neonazis, Mafia, Korruption, Crack Dealer, Kinderschänder, Vergewaltiger, Frauenhasser: Alles, was rechts, vorgestrig, menschenfeindlich, kriminell ist, wird in den Büchern thematisiert. Burke ist ein »begnadeter, engagierter Erzähler, ein genauer Beobachter der Verhältnisse« mit »starken, gesellschaftskritischen Geschichten, dessen epische Kriminalromane wahre Meisterwerke« sind, stellt Verleger Günther Butkus seinen Autor vor. In seinem 1981 in Bielefeld gegründeten, 2020 und 2022 mit dem deutschen Verlagspreis ausgezeichneten Pendragon-Verlag sind in den letzten Jahren in chronologischer Abfolge sämtliche Robicheaux-Romane erschienen.
Seit August liegt mit »Verschwinden ist keine Lösung« der 23. Band vor, die Originalausgabe erschien schon 2020. Es soll der letzte seiner Art sein, ist zu hören: Burke ist am Dienstag dieser Woche, dem 5. Dezember, 87 geworden. Noch einmal präsentiert er very hardboiled sein ganzes Können: Robicheaux und Clete ermitteln in der Welt des organisierten Verbrechens, stoßen auf Neonazis. Als ein mysteriöser Fremder in das Geschehen eingreift – Ist er real? Oder verschmelzen Wirklichkeit und Halluzinationen zu einer «dritten Realität«? –, wird Robicheaux von seinen Dämonen aus dem Vietnam-Krieg heimgesucht: »Die einzigen echten Symbole meiner Kriegserfahrung waren Malaria und Narbengewebe von Dschungelfäule und die bleibende Überzeugung, dass der Antichrist seinen Abdruck auf mir hinterlassen hat.« Clete nährt derweil seinen Hass auf Neonazis und ist fest überzeugt, »dass sie mindestens ein weiteres Mal nach der Macht greifen würden«. Um sie zu bekämpfen, ist ihm jedes Mittel recht. Wirklich jedes. In seinem Portemonnaie steckt in einer Zelluloidhülle ein Schwarz-Weiß-Foto von einer Frau, die mit ihren drei kleinen Töchtern eine Schotterstraße hochgeht. Das Foto ist in Auschwitz entstanden.
2500 Jahre sind seit der Uraufführung der »Antigone« vergangen. Doch immer noch gilt: Nichts ist ungeheuerer als der Mensch.
Monika Geier: Antoniusfeuer, Ariadne im Argument Verlag, Hamburg 2023, 432 S., 24 €. – Robert Brack: Schwarzer Oktober, Edition Nautilus, Hamburg 2023, 158 S., 16 €. – James Lee Burke: Verschwinden ist keine Lösung, aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger, Pendragon Verlag, Bielefeld 2023, 466 S., 24 €.