Man kann sich alles Mögliche wünschen, aber der Wunsch, im Ukrainekrieg möge Russland siegen, ist Ketzerei. Im Mittelalter hätte so etwas am Galgen oder auf dem Scheiterhaufen geendet. Heutzutage bleibe ich höchstwahrscheinlich am Leben. So gesehen hat sich einiges geändert seit dem Mittelalter.
Nicht geändert hat sich etwas anderes: nämlich die Unfähigkeit, über jenen Tellerrand zu blicken, der von der Dogmatik vorgegeben wird. Und diese lautet gegenwärtig so: Putin hat sich in einen völkerrechtswidrigen Krieg verwickelt. Daraus ist nur eine mögliche Schlussfolgerung zu ziehen, nämlich dass Russland mit Waffengewalt in seine Schranken zu weisen ist. Koste es, was es wolle.
Und das ist der Punkt. Denn ich frage: Was könnte es kosten? Groß ist die Zufriedenheit, dass die russischen Streitkräfte offenbar weit weniger erfolgreich sind, als zunächst anzunehmen war. Und so haben wir schon längst jenen tragischen Heroismus übernommen, der in der Ukraine aktuell verbreitet zu sein scheint. Eine von der Münchner Sicherheitskonferenz in Auftrag gegebene Umfrage in der Ukraine, die im Februar bekannt wurde, besagt, dass 89 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer selbst dann entschlossen weiterkämpfen wollen, wenn Russland Nuklearwaffen einsetzen würde. Bevor auch die Krim nicht wieder ukrainisch ist, sind sie nicht bereit, aufzuhören.
Mir wird ganz anders, wenn ich so etwas höre. Natürlich ist es verständlich, wenn ein überfallenes Volk vor Wut und Empörung nur noch schäumt. Doch müssen wir solch blinde Emotionalisierung übernehmen? Geht es nicht gerade jetzt darum, die Sachlage so nüchtern wie möglich zu beurteilen? Mich interessiert daher vor allem, was die sogenannten Neorealisten in der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen zu dieser Angelegenheit zu sagen haben. Einer ihrer prominentesten Vertreter ist der ehemalige US-Luftwaffenoffizier und Professor an der Chicagoer Universität John Mearsheimer. Die Neorealisten gehen von der Voraussetzung aus, dass Großmächte, auch solche, die es gerne wären, in erster Linie daran interessiert sind, ihre Macht zu erweitern und zu erhalten. Am gefährlichsten werden sie dann, wenn sie sich in einer Situation der Schwäche befinden. Gekränkt und in ihrem Stolz verletzt, schlagen sie in einer solchen Lage oft nur noch wild um sich. Dafür gibt es Beispiele.
Mearsheimer hält deshalb überhaupt nichts davon, Russland Schritt für Schritt in die Enge zu treiben und Verhandlungen möglichst weit hinauszuschieben. Der Gedanke, Russland bzw. seine Eliten gewissermaßen öffentlich in die Knie zu zwingen, damit sie vor den Augen der Welt mit einem Winseln den Geist aufgeben, ist ja auch tatsächlich genau jene kollektive Angstvorstellung, die aus russischer Sicht auf gar keinen Fall Realität werden darf. Russland ist eine Nation, die sich durch den Zerfall der Sowjetunion und durch die Dominanz der USA gedemütigt fühlt. »Moralisch« gesehen ist das irrelevant, da es kein völkerrechtswidriges Verhalten rechtfertigt. Der Blick durch die Moralbrille ist aber nicht in unserem eigenen Interesse. Uns bleibt verborgen, wie der Gegner, der unsere Brille nicht aufhat, mit hoher Wahrscheinlichkeit reagieren wird.
Mearsheimer hält es für naheliegend, dass die weitere Demütigung Russlands zu einem letzten Aufbäumen führen wird. Weshalb sollte Russland dabei nicht auf jene Waffensysteme zurückgreifen, die es in letzter Zeit besonders perfektioniert hat und auf die es besonders stolz ist: nämlich auf seine Nuklearwaffen? Bevor Putin und seine Entourage den Löffel abgeben, könnten sie durchaus ein Ende mit Schrecken inszenieren. Weshalb glauben wir so unbedingt daran, dass das auf keinen Fall passieren wird? Mir fällt kein triftiges Argument ein, jedenfalls keines, das nicht auf wackeligen Füßen steht. Wollen wir unser eigenes Überleben von wackeligen Argumenten abhängig machen?
»Für mich und die meisten meiner Freunde des realistischen Ansatzes in der Politikwissenschaft«, so Mearsheimer kürzlich in einem Interview auf der US-Nachrichtenwebsite RealClearPolitics, »ist es ganz klar, dass man äußerst vorsichtig sein muss, wenn man es mit einer rivalisierenden Großmacht zu tun hat, die bis an die Zähne mit Atomwaffen bewaffnet ist, die auf einen selbst gerichtet sind. Und dass man diese Macht nicht in die Ecke drängen darf. Man sollte sie nicht in eine Situation bringen, in der ihr nur noch die Verzweiflung bleibt. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass je erfolgreicher die Nato und die Ukrainer darin sind, die Russen in der Ukraine zu besiegen und die russische Wirtschaft zu zerstören, je erfolgreicher wir sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Atomwaffen einsetzen werden.«
Müsste man auch Mearsheimer auf den Scheiterhaufen zerren, weil er zur Zurückhaltung mahnt? Auch er rennt gegen eine pseudo-moralische Dogmatik an, die mit keiner realistischen Überlegung mehr zu rechtfertigen ist. Definieren wir Realismus als die kluge Berücksichtigung eigener Überlebensinteressen, dann ist die gegenwärtige westliche Politik eher halsbrecherisch, ja suizidal. Dabei kommt es gar nicht darauf an, wie wir die Sache selbst einschätzen, alles hängt davon ab, wie es Russland sieht.
Breitbeinig behaupten wir, die Nato-Osterweiterung brauche doch niemanden zu beunruhigen. Der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg besucht im April die Ukraine und verkündet lauthals: »Der Ukraine steht ein Platz in der Nato zu!« So triggert man wunde Punkte. Im spanischen Stierkampf übernehmen sogenannte Banderilleros diese Rolle. Sie rammen dem Stier Speere in den Rücken, bis der nur noch rotsieht. Schärfer kann man den Pfahl überhaupt nicht mehr zuspitzen, der im Fleisch Russlands steckt. Fast könnte man meinen, Herr Stoltenberg fiebere den Riesenknall herbei.
Warum also hoffe ich, Russland soll siegen? Gewiss nicht, weil ich Putin »verstehe«. Ich verstehe ganz und gar nicht, wie man ein ganzes Volk, ja, letztlich die Welt als Geisel nehmen kann, um einen wahnhaften Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Putins autokratischer Cäsarismus, die russische Kleptokratie der Oligarchen und Machtberauschten widern mich an. Aber mein eigenes Leben, vor allem dasjenige meiner Lieben, und letztlich die Sorge um den Planeten sind für mich Werte, die höher stehen als westliche Rechthaberei im Dienste einer absteigenden Weltmacht auf der anderen Seite des Atlantiks.
Das Ende des Krieges ohne finale Weltkatastrophe kann ich mir also lediglich als russischen Sieg vorstellen. Und dieser ist eigentlich nur denkbar, wenn dem Westen die Puste ausgeht. Ist der letzte unglückliche Ukrainer an den Fronten verheizt worden, macht auch die Nachlieferung von Tötungsgeräten keinen Sinn mehr und die Waffen schweigen. Die Nato stünde dann entweder vor der Entscheidung, direkt und selbst einzugreifen und damit den Weltuntergang einzuleiten oder – ja, was wäre die Alternative? Sie bestünde darin, den Russen die bereits angeeigneten Gebiete, den Donbass und die Krim, zu überlassen. Darauf läuft es hinaus oder eben auf den ganz großen Kladderadatsch.
Mearsheimer übrigens scheint folgende Variante für recht wahrscheinlich zu halten: In letzter Verzweiflung wird Putin die Ukraine mit Nuklearwaffen bepflastern. Jetzt kommt es darauf an, wie die USA und also die Nato reagieren werden. Mearsheimer hofft auf den ganz großen Schock, eine um sich greifende Angst, die eine Art Katharsis auslöst. Der gewaltige Schreck könnte jene Läuterung bewirken, die jetzt schon hilfreich wäre, aber im Westen durch eine Art moralischen Narzissmus verdeckt wird. In ihrem berühmten Manifest, in dem sie vor dem Atomkrieg warnten, definierten die Nobelpreisträger Bertrand Russell und Albert Einstein 1955, auf was eine solche Läuterung hinauslaufen würde: »Erinnert euch Eures Menschseins und vergesst alles andere!« Eine mehr als naheliegende Einsicht, so etwas wie die Quintessenz des Humanismus. Da sich Humanität zurzeit aber kaum ohne die atomare Zerstörung wenigstens der Ukraine durchsetzen wird, halte ich einen russischen Sieg für die bessere Lösung.