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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Warum Russland siegen sollte

Man kann sich alles Mög­li­che wün­schen, aber der Wunsch, im Ukrai­ne­krieg möge Russ­land sie­gen, ist Ket­ze­rei. Im Mit­tel­al­ter hät­te so etwas am Gal­gen oder auf dem Schei­ter­hau­fen geen­det. Heut­zu­ta­ge blei­be ich höchst­wahr­schein­lich am Leben. So gese­hen hat sich eini­ges geän­dert seit dem Mittelalter.

Nicht geän­dert hat sich etwas ande­res: näm­lich die Unfä­hig­keit, über jenen Tel­ler­rand zu blicken, der von der Dog­ma­tik vor­ge­ge­ben wird. Und die­se lau­tet gegen­wär­tig so: Putin hat sich in einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Krieg ver­wickelt. Dar­aus ist nur eine mög­li­che Schluss­fol­ge­rung zu zie­hen, näm­lich dass Russ­land mit Waf­fen­ge­walt in sei­ne Schran­ken zu wei­sen ist. Koste es, was es wolle.

Und das ist der Punkt. Denn ich fra­ge: Was könn­te es kosten? Groß ist die Zufrie­den­heit, dass die rus­si­schen Streit­kräf­te offen­bar weit weni­ger erfolg­reich sind, als zunächst anzu­neh­men war. Und so haben wir schon längst jenen tra­gi­schen Hero­is­mus über­nom­men, der in der Ukrai­ne aktu­ell ver­brei­tet zu sein scheint. Eine von der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz in Auf­trag gege­be­ne Umfra­ge in der Ukrai­ne, die im Febru­ar bekannt wur­de, besagt, dass 89 Pro­zent der Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner selbst dann ent­schlos­sen wei­ter­kämp­fen wol­len, wenn Russ­land Nukle­ar­waf­fen ein­set­zen wür­de. Bevor auch die Krim nicht wie­der ukrai­nisch ist, sind sie nicht bereit, aufzuhören.

Mir wird ganz anders, wenn ich so etwas höre. Natür­lich ist es ver­ständ­lich, wenn ein über­fal­le­nes Volk vor Wut und Empö­rung nur noch schäumt. Doch müs­sen wir solch blin­de Emo­tio­na­li­sie­rung über­neh­men? Geht es nicht gera­de jetzt dar­um, die Sach­la­ge so nüch­tern wie mög­lich zu beur­tei­len? Mich inter­es­siert daher vor allem, was die soge­nann­ten Neo­rea­li­sten in der Wis­sen­schaft von den inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen zu die­ser Ange­le­gen­heit zu sagen haben. Einer ihrer pro­mi­nen­te­sten Ver­tre­ter ist der ehe­ma­li­ge US-Luft­waf­fen­of­fi­zier und Pro­fes­sor an der Chi­ca­go­er Uni­ver­si­tät John Mears­hei­mer. Die Neo­rea­li­sten gehen von der Vor­aus­set­zung aus, dass Groß­mäch­te, auch sol­che, die es ger­ne wären, in erster Linie dar­an inter­es­siert sind, ihre Macht zu erwei­tern und zu erhal­ten. Am gefähr­lich­sten wer­den sie dann, wenn sie sich in einer Situa­ti­on der Schwä­che befin­den. Gekränkt und in ihrem Stolz ver­letzt, schla­gen sie in einer sol­chen Lage oft nur noch wild um sich. Dafür gibt es Beispiele.

Mears­hei­mer hält des­halb über­haupt nichts davon, Russ­land Schritt für Schritt in die Enge zu trei­ben und Ver­hand­lun­gen mög­lichst weit hin­aus­zu­schie­ben. Der Gedan­ke, Russ­land bzw. sei­ne Eli­ten gewis­ser­ma­ßen öffent­lich in die Knie zu zwin­gen, damit sie vor den Augen der Welt mit einem Win­seln den Geist auf­ge­ben, ist ja auch tat­säch­lich genau jene kol­lek­ti­ve Angst­vor­stel­lung, die aus rus­si­scher Sicht auf gar kei­nen Fall Rea­li­tät wer­den darf. Russ­land ist eine Nati­on, die sich durch den Zer­fall der Sowjet­uni­on und durch die Domi­nanz der USA gede­mü­tigt fühlt. »Mora­lisch« gese­hen ist das irrele­vant, da es kein völ­ker­rechts­wid­ri­ges Ver­hal­ten recht­fer­tigt. Der Blick durch die Moral­bril­le ist aber nicht in unse­rem eige­nen Inter­es­se. Uns bleibt ver­bor­gen, wie der Geg­ner, der unse­re Bril­le nicht auf­hat, mit hoher Wahr­schein­lich­keit reagie­ren wird.

Mears­hei­mer hält es für nahe­lie­gend, dass die wei­te­re Demü­ti­gung Russ­lands zu einem letz­ten Auf­bäu­men füh­ren wird. Wes­halb soll­te Russ­land dabei nicht auf jene Waf­fen­sy­ste­me zurück­grei­fen, die es in letz­ter Zeit beson­ders per­fek­tio­niert hat und auf die es beson­ders stolz ist: näm­lich auf sei­ne Nukle­ar­waf­fen? Bevor Putin und sei­ne Entou­ra­ge den Löf­fel abge­ben, könn­ten sie durch­aus ein Ende mit Schrecken insze­nie­ren. Wes­halb glau­ben wir so unbe­dingt dar­an, dass das auf kei­nen Fall pas­sie­ren wird? Mir fällt kein trif­ti­ges Argu­ment ein, jeden­falls kei­nes, das nicht auf wacke­li­gen Füßen steht. Wol­len wir unser eige­nes Über­le­ben von wacke­li­gen Argu­men­ten abhän­gig machen?

»Für mich und die mei­sten mei­ner Freun­de des rea­li­sti­schen Ansat­zes in der Poli­tik­wis­sen­schaft«, so Mears­hei­mer kürz­lich in einem Inter­view auf der US-Nach­rich­ten­web­site Real­Cle­ar­Po­li­tics, »ist es ganz klar, dass man äußerst vor­sich­tig sein muss, wenn man es mit einer riva­li­sie­ren­den Groß­macht zu tun hat, die bis an die Zäh­ne mit Atom­waf­fen bewaff­net ist, die auf einen selbst gerich­tet sind. Und dass man die­se Macht nicht in die Ecke drän­gen darf. Man soll­te sie nicht in eine Situa­ti­on brin­gen, in der ihr nur noch die Ver­zweif­lung bleibt. Es ist sehr wich­tig zu ver­ste­hen, dass je erfolg­rei­cher die Nato und die Ukrai­ner dar­in sind, die Rus­sen in der Ukrai­ne zu besie­gen und die rus­si­sche Wirt­schaft zu zer­stö­ren, je erfolg­rei­cher wir sind, desto wahr­schein­li­cher ist es, dass sie Atom­waf­fen ein­set­zen werden.«

Müss­te man auch Mears­hei­mer auf den Schei­ter­hau­fen zer­ren, weil er zur Zurück­hal­tung mahnt? Auch er rennt gegen eine pseu­do-mora­li­sche Dog­ma­tik an, die mit kei­ner rea­li­sti­schen Über­le­gung mehr zu recht­fer­ti­gen ist. Defi­nie­ren wir Rea­lis­mus als die klu­ge Berück­sich­ti­gung eige­ner Über­le­bens­in­ter­es­sen, dann ist die gegen­wär­ti­ge west­li­che Poli­tik eher hals­bre­che­risch, ja sui­zi­dal. Dabei kommt es gar nicht dar­auf an, wie wir die Sache selbst ein­schät­zen, alles hängt davon ab, wie es Russ­land sieht.

Breit­bei­nig behaup­ten wir, die Nato-Ost­erwei­te­rung brau­che doch nie­man­den zu beun­ru­hi­gen. Der Nato-Gene­ral­se­kre­tär Jens Stol­ten­berg besucht im April die Ukrai­ne und ver­kün­det laut­hals: »Der Ukrai­ne steht ein Platz in der Nato zu!« So trig­gert man wun­de Punk­te. Im spa­ni­schen Stier­kampf über­neh­men soge­nann­te Ban­de­ril­le­ros die­se Rol­le. Sie ram­men dem Stier Spee­re in den Rücken, bis der nur noch rot­sieht. Schär­fer kann man den Pfahl über­haupt nicht mehr zuspit­zen, der im Fleisch Russ­lands steckt. Fast könn­te man mei­nen, Herr Stol­ten­berg fie­be­re den Rie­sen­knall herbei.

War­um also hof­fe ich, Russ­land soll sie­gen? Gewiss nicht, weil ich Putin »ver­ste­he«. Ich ver­ste­he ganz und gar nicht, wie man ein gan­zes Volk, ja, letzt­lich die Welt als Gei­sel neh­men kann, um einen wahn­haf­ten Herr­schafts­an­spruch durch­zu­set­zen. Putins auto­kra­ti­scher Cäsa­ris­mus, die rus­si­sche Klep­to­kra­tie der Olig­ar­chen und Macht­be­rausch­ten widern mich an. Aber mein eige­nes Leben, vor allem das­je­ni­ge mei­ner Lie­ben, und letzt­lich die Sor­ge um den Pla­ne­ten sind für mich Wer­te, die höher ste­hen als west­li­che Recht­ha­be­rei im Dien­ste einer abstei­gen­den Welt­macht auf der ande­ren Sei­te des Atlantiks.

Das Ende des Krie­ges ohne fina­le Welt­ka­ta­stro­phe kann ich mir also ledig­lich als rus­si­schen Sieg vor­stel­len. Und die­ser ist eigent­lich nur denk­bar, wenn dem Westen die Puste aus­geht. Ist der letz­te unglück­li­che Ukrai­ner an den Fron­ten ver­heizt wor­den, macht auch die Nach­lie­fe­rung von Tötungs­ge­rä­ten kei­nen Sinn mehr und die Waf­fen schwei­gen. Die Nato stün­de dann ent­we­der vor der Ent­schei­dung, direkt und selbst ein­zu­grei­fen und damit den Welt­un­ter­gang ein­zu­lei­ten oder – ja, was wäre die Alter­na­ti­ve? Sie bestün­de dar­in, den Rus­sen die bereits ange­eig­ne­ten Gebie­te, den Don­bass und die Krim, zu über­las­sen. Dar­auf läuft es hin­aus oder eben auf den ganz gro­ßen Kladderadatsch.

Mears­hei­mer übri­gens scheint fol­gen­de Vari­an­te für recht wahr­schein­lich zu hal­ten: In letz­ter Ver­zweif­lung wird Putin die Ukrai­ne mit Nukle­ar­waf­fen bepfla­stern. Jetzt kommt es dar­auf an, wie die USA und also die Nato reagie­ren wer­den. Mears­hei­mer hofft auf den ganz gro­ßen Schock, eine um sich grei­fen­de Angst, die eine Art Kathar­sis aus­löst. Der gewal­ti­ge Schreck könn­te jene Läu­te­rung bewir­ken, die jetzt schon hilf­reich wäre, aber im Westen durch eine Art mora­li­schen Nar­ziss­mus ver­deckt wird. In ihrem berühm­ten Mani­fest, in dem sie vor dem Atom­krieg warn­ten, defi­nier­ten die Nobel­preis­trä­ger Bert­rand Rus­sell und Albert Ein­stein 1955, auf was eine sol­che Läu­te­rung hin­aus­lau­fen wür­de: »Erin­nert euch Eures Mensch­seins und ver­gesst alles ande­re!« Eine mehr als nahe­lie­gen­de Ein­sicht, so etwas wie die Quint­essenz des Huma­nis­mus. Da sich Huma­ni­tät zur­zeit aber kaum ohne die ato­ma­re Zer­stö­rung wenig­stens der Ukrai­ne durch­set­zen wird, hal­te ich einen rus­si­schen Sieg für die bes­se­re Lösung.