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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Warum das alte politische Navigationssysteme versagt

Seit dem tota­len Sieg des kapi­ta­li­sti­schen »frei­en Westens« über den Ost­block-Kom­mu­nis­mus ver­liert das tra­di­tio­nel­le Navi­ga­ti­ons­sy­stem – näm­lich das bür­ger­li­che Links-Mit­te-Rechts-Sche­ma – sei­nen Gebrauchs­wert. Es hat­te sich bei der Ver­or­tung poli­ti­scher Ansich­ten, Über­zeu­gun­gen, Stand­or­te, Welt­an­schau­un­gen und der spon­ta­nen Bewer­tung poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen lan­ge Zeit eini­ger­ma­ßen bewährt, scheint aber ange­sichts der Pro­zes­se, die man­che auf die Ent­ste­hung einer neu­en Welt­ord­nung zurück­füh­ren, zuneh­mend zu versagen.

Wer aus dem wie­der­ver­ei­nig­ten »Deut­schen Volk« ver­steht denn noch, wes­halb im Deut­schen Bun­des­tag der Staats­prä­si­dent des immer noch größ­ten Staa­tes der Erde, der ehe­ma­li­ge KGB-Agent Putin, vor drei­und­zwan­zig Jah­ren eine Rede gehal­ten hat, die dort mit ste­hen­den Ova­tio­nen bedacht wur­de? Und wer von den bun­des­deut­schen Alt­lin­ken hät­te sich in sei­nen ver­rück­te­sten Fan­ta­sien nach dem Ende des Ost-West-Kon­flikts aus­den­ken kön­nen, dass chi­ne­si­sche Kom­mu­ni­sten ein­mal erfolg­rei­cher als die US-Ame­ri­ka­ner und die Euro­pä­er Kapi­ta­lis­mus prak­ti­zie­ren? Sind die Chi­ne­sen nicht dabei, zum »neu­en Westen«, näm­lich zur füh­ren­den kapi­ta­li­sti­schen Welt­macht auf­zu­stei­gen, und den alten Westen, die Euro­päi­sche Uni­on und die auch innen­po­li­tisch gegen ihren Nie­der­gang ankämp­fen­de USA, auf die Abwärts­spi­ra­le der Geschich­te zu schicken? Und ist der chi­ne­si­sche Kapi­ta­lis­mus kom­mu­ni­stisch, also links, weil die Regie­rung in der Tra­di­ti­on von Mao steht und dar­an fest­zu­hal­ten versucht?

Die euro­päi­sche Lin­ke – auch die, die den Sowjet­kom­mu­nis­mus und den Mao­is­mus bekämpf­te – woll­te sich einen euro­päi­schen Weg zum Sozia­lis­mus bah­nen, ist jedoch mit dem Sowjet­sy­stem und dem revo­lu­tio­nä­ren Mao­is­mus unter­ge­gan­gen. Nun sähe sich die Rest­lin­ke auf­ge­for­dert, das Erbe der gro­ßen Geschich­te der Arbei­ter- und Gewerk­schafts­be­we­gung zu ret­ten, wenn es über­haupt noch zu ret­ten ist. Doch die orga­ni­sier­te Lin­ke ist genau damit nicht beschäf­tigt. Sie macht »lin­ke« Iden­ti­täts­po­li­tik jen­seits der Arbei­ter- und Gewerkschaftsbewegung,

Dabei gibt es über­all Irri­ta­tio­nen, auf die Ant­wor­ten zu suchen wären. Zum Bei­spiel: Leu­te, die als seriö­se Exper­ten aus­ge­ge­ben wer­den, behaup­ten, Putin sei ein »neu­er Hit­ler«. Da wir wis­sen, dass Putin sei­ne »Spe­zi­al­ope­ra­ti­on« gegen die Ukrai­ne damit begrün­det, die dort gegen Russ­land agie­ren­den, vom Westen, vor allem den USA, unter­stütz­ten Faschi­sten unschäd­lich machen zu wol­len, also in der Ukrai­ne Faschi­sten gegen Faschi­sten kämp­fen, haben wir es mit Ent­wick­lun­gen zu tun, die mit der klas­si­schen Links-Rechts-Bipo­la­ri­tät nicht mehr zu ver­ste­hen sind.

Faschi­sten ver­schie­de­ner Natio­na­lis­men bekämp­fen sich neu­er­dings gegen­sei­tig – was ja auch im Nahen Osten der Fall ist, wo die rechts­ter­ro­ri­stisch-isla­mi­sti­sche Hamas Isra­el und eine rechts­extre­me Regie­rung Netan­ja­hu die Hamas zu ver­nich­ten ver­sucht – und lie­fern sich einen der­art völ­ker- und men­schen­rechts­wid­ri­gen Krieg, dass sich selbst Kon­ser­va­ti­ve in die Zeit des Kal­ten Krie­ges zurück­zu­seh­nen beginnen.

Könn­ten sich ange­sichts die­ser mör­de­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Rechts­extre­mi­sten die Lin­ken, zumin­dest die, die bis­her als Anti­fa­schi­sten vom Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet wur­den, also staat­lich aner­kann­te Anti­fa­schi­sten sind, ein­fach zurück­leh­nen und war­ten, bis sich bei­de Sei­ten aus der Welt geschafft haben? Ja, das wäre die Lösung. Aber nur theo­re­tisch. Die herr­schen­de Klas­se der Kapi­tal­eig­ner und ihre Heer­scha­ren gelehr­ter Kapi­tal­stra­te­gen nimmt sich ja nicht nur ein­fach das Recht zu bestim­men, wer links­extrem und wer links, wer rechts­extrem und wer rechts ist, sie nimmt sich auch das Recht, zur Siche­rung ihrer Macht, ihrer Herr­schaft, ihrer Pri­vi­le­gi­en, das gel­ten­de Recht zu bre­chen oder ihm, wenn es das Pri­vat­ei­gen­tum nicht schützt und unter­stützt, in Län­der aus­zu­wei­chen, in dem das, was in Deutsch­land und der Euro­päi­schen Uni­on juri­stisch als Ver­bre­chen gilt, noch offen und unge­niert staat­lich unter­stützt wird. Daher herrscht ein enor­mer Druck auf unser im Kal­ten Krieg ent­wickel­tes und im inter­na­tio­na­len Ver­gleich arbeit­neh­mer­freund­li­ches und wohl­fahrts­staat­lich orga­ni­sier­tes, aber auch anti­so­zia­li­stisch kon­ta­mi­nier­tes Rechts­sy­stem. Die Stand­ort­kon­kur­renz manö­vriert sozi­al­staat­lich hoch ent­wickel­te kapi­ta­li­sti­sche Demo­kra­tien zuneh­mend in die Defen­si­ve. Sie macht sie durch die garan­tier­te Inve­sti­ti­ons­frei­heit und die miss­ach­te­te Eigen­tums­ver­pflich­tung durch die Kapi­tal­ge­sell­schaf­ten erpress­bar – und treibt die Lohn- und Gehalts­ab­hän­gi­gen samt ihrer Gewerk­schaf­ten immer wei­ter nach rechts, also ins kon­ser­va­ti­ve und reak­tio­nä­re Lager, wo man am Ende unter sich aus­macht, wel­che Art kapi­ta­li­sti­scher Staat sich durch­setzt, der auto­ri­tä­re oder der demo­kra­ti­sche, und sich dar­in einig ist, dass ein kapi­ta­li­sti­scher Staat, auch der demo­kra­ti­sche, sei­ne Haupt­auf­ga­be dar­in zu sehen hat, die Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft zu verhindern.

Der Rechts­staat, dar­in sind sich wie­der­um CDU/​CSU, SPD und FDP mit der AfD einig, und das ist auch die Grund­li­nie der euro­päi­schen Kon­ser­va­ti­ven und Rech­ten, darf auf kei­nen Fall ein Links­staat, auch kein demo­kra­ti­scher Links­staat, wer­den. Und die Lin­ke scheint sich die­sem Dik­tum zu unter­wer­fen. Denn was sich da ange­sichts des welt­wei­ten Auf­stiegs der Rech­ten an Lin­ken zurück­mel­det, die bri­ti­sche Labour Par­ty oder die neue Volks­front der Fran­zo­sen, bezie­hen ihre Ver­nunft erkenn­bar nur noch aus ihrer Not­si­tua­ti­on. Das ist für die not­wen­di­ge Durch­set­zung einer demo­kra­tisch-sozia­li­sti­schen und kli­ma­neu­tra­len Neu­ord­nung zu wenig. Die ver­un­si­cher­te Arbei­ter­schaft muss auf einen neu­en Westen ein­ge­stellt wer­den. Das aber heißt, dass die USA nicht län­ger die Euro­päi­sche Schutz­macht sein dür­fen, son­dern Euro­pa sich sel­ber schüt­zen und sich mit Russ­land, Chi­na und den BRICS-Staa­ten auf eine neue Frie­dens­ord­nung ver­stän­di­gen muss. Und es heißt auch, dass Deutsch­land und die EU auf­hö­ren müs­sen, die Armen statt der Armut, die Migran­ten, statt der Ver­ur­sa­cher und Ursa­chen der Migra­ti­on zu bekämp­fen. Der har­te Kern der gro­ßen Welt­pro­ble­me ist – abstrakt aus­ge­drückt – das glo­ba­le räu­be­ri­sche Kapi­tal, das bekämpft wer­den muss. Es wäre rich­ti­ge lin­ke Poli­tik und wür­de auch als sol­che erkannt und aner­kannt, wenn dies wie­der zum zen­tra­len The­ma wür­de. Im Grun­de wis­sen das die Lin­ken, was fehlt, sind Par­tei­en und Gewerk­schaf­ten, die eine sol­che lin­ke Poli­tik gegen den Main­stream offen vertreten.

 

Ausgabe 15.16/2024