Seit dem totalen Sieg des kapitalistischen »freien Westens« über den Ostblock-Kommunismus verliert das traditionelle Navigationssystem – nämlich das bürgerliche Links-Mitte-Rechts-Schema – seinen Gebrauchswert. Es hatte sich bei der Verortung politischer Ansichten, Überzeugungen, Standorte, Weltanschauungen und der spontanen Bewertung politischer Entscheidungen lange Zeit einigermaßen bewährt, scheint aber angesichts der Prozesse, die manche auf die Entstehung einer neuen Weltordnung zurückführen, zunehmend zu versagen.
Wer aus dem wiedervereinigten »Deutschen Volk« versteht denn noch, weshalb im Deutschen Bundestag der Staatspräsident des immer noch größten Staates der Erde, der ehemalige KGB-Agent Putin, vor dreiundzwanzig Jahren eine Rede gehalten hat, die dort mit stehenden Ovationen bedacht wurde? Und wer von den bundesdeutschen Altlinken hätte sich in seinen verrücktesten Fantasien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ausdenken können, dass chinesische Kommunisten einmal erfolgreicher als die US-Amerikaner und die Europäer Kapitalismus praktizieren? Sind die Chinesen nicht dabei, zum »neuen Westen«, nämlich zur führenden kapitalistischen Weltmacht aufzusteigen, und den alten Westen, die Europäische Union und die auch innenpolitisch gegen ihren Niedergang ankämpfende USA, auf die Abwärtsspirale der Geschichte zu schicken? Und ist der chinesische Kapitalismus kommunistisch, also links, weil die Regierung in der Tradition von Mao steht und daran festzuhalten versucht?
Die europäische Linke – auch die, die den Sowjetkommunismus und den Maoismus bekämpfte – wollte sich einen europäischen Weg zum Sozialismus bahnen, ist jedoch mit dem Sowjetsystem und dem revolutionären Maoismus untergegangen. Nun sähe sich die Restlinke aufgefordert, das Erbe der großen Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zu retten, wenn es überhaupt noch zu retten ist. Doch die organisierte Linke ist genau damit nicht beschäftigt. Sie macht »linke« Identitätspolitik jenseits der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung,
Dabei gibt es überall Irritationen, auf die Antworten zu suchen wären. Zum Beispiel: Leute, die als seriöse Experten ausgegeben werden, behaupten, Putin sei ein »neuer Hitler«. Da wir wissen, dass Putin seine »Spezialoperation« gegen die Ukraine damit begründet, die dort gegen Russland agierenden, vom Westen, vor allem den USA, unterstützten Faschisten unschädlich machen zu wollen, also in der Ukraine Faschisten gegen Faschisten kämpfen, haben wir es mit Entwicklungen zu tun, die mit der klassischen Links-Rechts-Bipolarität nicht mehr zu verstehen sind.
Faschisten verschiedener Nationalismen bekämpfen sich neuerdings gegenseitig – was ja auch im Nahen Osten der Fall ist, wo die rechtsterroristisch-islamistische Hamas Israel und eine rechtsextreme Regierung Netanjahu die Hamas zu vernichten versucht – und liefern sich einen derart völker- und menschenrechtswidrigen Krieg, dass sich selbst Konservative in die Zeit des Kalten Krieges zurückzusehnen beginnen.
Könnten sich angesichts dieser mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremisten die Linken, zumindest die, die bisher als Antifaschisten vom Verfassungsschutz beobachtet wurden, also staatlich anerkannte Antifaschisten sind, einfach zurücklehnen und warten, bis sich beide Seiten aus der Welt geschafft haben? Ja, das wäre die Lösung. Aber nur theoretisch. Die herrschende Klasse der Kapitaleigner und ihre Heerscharen gelehrter Kapitalstrategen nimmt sich ja nicht nur einfach das Recht zu bestimmen, wer linksextrem und wer links, wer rechtsextrem und wer rechts ist, sie nimmt sich auch das Recht, zur Sicherung ihrer Macht, ihrer Herrschaft, ihrer Privilegien, das geltende Recht zu brechen oder ihm, wenn es das Privateigentum nicht schützt und unterstützt, in Länder auszuweichen, in dem das, was in Deutschland und der Europäischen Union juristisch als Verbrechen gilt, noch offen und ungeniert staatlich unterstützt wird. Daher herrscht ein enormer Druck auf unser im Kalten Krieg entwickeltes und im internationalen Vergleich arbeitnehmerfreundliches und wohlfahrtsstaatlich organisiertes, aber auch antisozialistisch kontaminiertes Rechtssystem. Die Standortkonkurrenz manövriert sozialstaatlich hoch entwickelte kapitalistische Demokratien zunehmend in die Defensive. Sie macht sie durch die garantierte Investitionsfreiheit und die missachtete Eigentumsverpflichtung durch die Kapitalgesellschaften erpressbar – und treibt die Lohn- und Gehaltsabhängigen samt ihrer Gewerkschaften immer weiter nach rechts, also ins konservative und reaktionäre Lager, wo man am Ende unter sich ausmacht, welche Art kapitalistischer Staat sich durchsetzt, der autoritäre oder der demokratische, und sich darin einig ist, dass ein kapitalistischer Staat, auch der demokratische, seine Hauptaufgabe darin zu sehen hat, die Demokratisierung der Wirtschaft zu verhindern.
Der Rechtsstaat, darin sind sich wiederum CDU/CSU, SPD und FDP mit der AfD einig, und das ist auch die Grundlinie der europäischen Konservativen und Rechten, darf auf keinen Fall ein Linksstaat, auch kein demokratischer Linksstaat, werden. Und die Linke scheint sich diesem Diktum zu unterwerfen. Denn was sich da angesichts des weltweiten Aufstiegs der Rechten an Linken zurückmeldet, die britische Labour Party oder die neue Volksfront der Franzosen, beziehen ihre Vernunft erkennbar nur noch aus ihrer Notsituation. Das ist für die notwendige Durchsetzung einer demokratisch-sozialistischen und klimaneutralen Neuordnung zu wenig. Die verunsicherte Arbeiterschaft muss auf einen neuen Westen eingestellt werden. Das aber heißt, dass die USA nicht länger die Europäische Schutzmacht sein dürfen, sondern Europa sich selber schützen und sich mit Russland, China und den BRICS-Staaten auf eine neue Friedensordnung verständigen muss. Und es heißt auch, dass Deutschland und die EU aufhören müssen, die Armen statt der Armut, die Migranten, statt der Verursacher und Ursachen der Migration zu bekämpfen. Der harte Kern der großen Weltprobleme ist – abstrakt ausgedrückt – das globale räuberische Kapital, das bekämpft werden muss. Es wäre richtige linke Politik und würde auch als solche erkannt und anerkannt, wenn dies wieder zum zentralen Thema würde. Im Grunde wissen das die Linken, was fehlt, sind Parteien und Gewerkschaften, die eine solche linke Politik gegen den Mainstream offen vertreten.