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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Walter Kaufmanns Lektüre

Der Rezen­sent ist gespal­ten. Zum einen beein­druckt ihn, wie Isa­bel Allen­de in ihrem Roman vom »unver­gäng­li­chen Som­mer« Ein­blicke in ein Chi­le unter Pino­chet gibt, sie die ver­zwei­fel­te Suche einer Mut­ter nach ihrem ver­schol­le­nen Sohn erleb­bar macht; sie die Gang­ster­ban­den in Gua­te­ma­la schil­dert, deren grau­sa­me Mord­lust, ihr Wüten in der Bevöl­ke­rung, ihre Ver­ge­wal­ti­gun­gen und blu­ti­gen Ritua­le und ihre höl­li­schen Rache­ak­te gegen Abtrün­ni­ge aus den eige­nen Rei­hen; auch wie die Allen­de Feh­den dar­stellt und Klein­krie­ge, die in der Bevöl­ke­rung Mas­sen­fluch­ten aus­lö­sen, an denen sich ruch­lo­se Schlep­per berei­chern, und was es mit sich bringt, Gren­zen ille­gal durch­bre­chen zu müs­sen, aus mexi­ka­ni­scher Wüste letzt­lich in die USA zu gelan­gen, wo sich unge­ahn­te, oft grau­sa­me Schick­sa­le auf­tun! Par­al­le­len zu den Schick­sa­len Geflüch­te­ter in unse­ren Brei­ten­gra­den fin­den sich hier. Zum ande­ren jedoch ver­wirrt es, dass die Allen­de gegen jeg­li­che Chro­no­lo­gie erzählt. Nicht dass der Rezen­sent auf Chro­no­lo­gie bestün­de. Sie zu durch­bre­chen, kann oft­mals ein Span­nungs­ele­ment sein – und doch: Bei all ihrer süd­ame­ri­ka­ni­schen Erzähl­kunst ver­wirrt die Allen­de all­zu häu­fig. Sie zwingt ihre Leser hin und her zu den­ken – am ärg­sten aber stieß dem Rezen­sen­ten die »Räu­ber­pi­sto­le« von der Lei­che im Kof­fer­raum einer Luxus­li­mou­si­ne auf, die tage­lang durch eine Schnee­land­schaft zu einem abge­le­ge­nen See gefah­ren wird, weil sie dort ver­senkt wer­den soll. Dass die Lei­che dann anders­wo und anders­wie ent­sorgt wird, kom­pli­ziert die Sache der­art, dass der Rezen­sent die dra­ma­tur­gi­sche Not­wen­dig­keit der Mord­af­fä­re bezwei­felt. Wäre der Roman nicht ohne die­sen Hand­lungs­fa­den schlüs­si­ger, ja gera­de­zu über­zeu­gen­der gewe­sen? Die Lei­che im Kof­fer­raum ver­fälscht die Inten­tio­nen des Romans über lan­ge Strecken, lenkt ab vom Sozio­lo­gi­schen, vom Poli­ti­schen; wobei der schließ­lich auf­ge­klär­te Mord den Aus­klang des Romans wie ein Klum­pen Blei bela­stet. Was zur Fol­ge hat, dass der Rezen­sent zwi­schen einem Ja zu die­sem Buch und einem nicht weni­ger empha­ti­schen Nein
schwankt.

Isa­bel Allen­de: »Ein unver­gäng­li­cher Som­mer«, über­setzt von Sven­ja Becker, Suhr­kamp, 348 Sei­ten, 24 €