Gegen Ende von Regina Scheers sehr anderem, sehr bemerkenswertem Berlin-Roman, einem durchkomponierten, in sorgfältigem Deutsch geschriebenen, flüssig zu lesenden Buch, findet sich eine Analogie, die einen nicht loslässt: Eine Horde junger Kerle steinigt in einem Hinterhof eine schwangere Katze, bricht ihr ein Bein, dass sie nicht entkommen kann, die Katze kauert im Staub, und im Staub gebärt sie ein Junges. Einer der Kerle packt die Katze am Schwanz und schwingt sie im Kreis, und wie er sie da schwingt, gebärt sie weitere Kätzchen. Der Kerl wirft die Katze zu ihren Kätzchen, sie kriecht unter den Füßen ihrer Peiniger weg und bringt ihre Schützlinge in Sicherheit. »Wie zäh sie sind, diese Zigeuner«, johlen die Kerle, »sie haben sieben Leben!« Wer dem Roman bis hierher gefolgt ist, braucht keine weitere Schilderung des Vorfalls – längst ist sein Mitgefühl für die Geschundenen dieser Welt geweckt, für Sinti und Roma, für Juden unter Hitler, lesend hat er vom Schicksal zweier junger Juden erfahren, die einst unterm Dach dieses Hauses im Berliner Wedding der Verschleppung durch die Nazis zu entrinnen suchten; und auch vom Schicksal der Roma weiß er, die hier und heute just in diesem Weddinger Haus Zuflucht suchen und zeitweilig finden. Verdichtung! Regina Scheer beherrscht die Kunst der Verdichtung: ein altes Haus im Wedding, versprengte Roma im Weddinger Haus und, hierher zurückgekehrt, ein alternder Jude aus Israel – zurückgekehrt, wo er sich einst bei einer deutschen Frau versteckt hatte … Nur wenige Personen sind es, kaum mehr als zwölf, um die es im Wesentlichen in dem vierhundert Seiten starken Roman geht – und doch: Eine Welt tut sich auf, eine Welt der Roma, eine Welt der Juden und eine deutsche, sehr genau geschilderte Berliner Welt. Regina Scheer ist ein bedeutender, aus Vergangenem schöpfender Gegenwartsroman gelungen und – so sei zu hoffen! – ein Roman, der in eine hellere Zukunft weist.
Regina Scheer: »Gott wohnt im Wedding«, Roman, Penguin Verlag, 415 Seiten, 24 €