Alarmierend ist, dass, als diese Zeilen geschrieben wurden, auf den Intensivstationen die schweren Verläufe von an Corona Erkrankten zahlenmäßig zunahmen und zwei Drittel der Krankenhäuser mit Intensivstationen nicht mehr aufnahmefähig waren.
Beunruhigend ist, dass die Patienten immer jünger werden. Kinder stecken die Eltern an. Ich weiß von einer 40-jährigen Mutter, die von ihrer 14-jährigen Tochter angesteckt wurde und jetzt um ihr Leben kämpft. Eine Verbandsgemeinde aus einem rheinland-pfälzischen Landkreis, den ich gut kenne, meldete in diesen Tagen hinsichtlich des Alters der neu Infizierten: 5, 8, 30, 31, 49 Jahre. Aus der benachbarten Stadt kamen am selben Tag die Angaben: 7, 9, 9, 10, 11, 39 Jahre.
Die »Alten« sind inzwischen weitgehend geschützt, dank fürsorglicher Impfstrategie. Meldungen von Hot-Spots, von Cluster in Senioren- und Pflegeheimen haben Seltenheitswert. Die Schutzbemühungen stießen in der Regel auf Zustimmung der Betroffenen. In unserem Stadtteil haben sich aus einem Haus mit rund 30 altersgerechten Wohnungen die Bewohnerinnen und Bewohner solidarisch impfen lassen und sind jetzt guten Mutes. Aber wehe, es kommt jemand ohne Maske auf sie zu oder versucht gar sie zu umarmen! Die »Alten« haben den Ernst der Lage verstanden und halten Abstand.
Ich habe selten so dankbare und wohlgemute Menschen in so großer Zahl gesehen wie in den Warteschlangen vor dem zentralen Impfzentrum in Hamburg. Als Mitte April plötzlich außer der Reihe eine Sonderlieferung an Impfdosen von AstraZeneca die Hansestadt erreichte, wurde diese freigegeben für alle Impfwilligen ab 60. Die 24 000 Termine waren im Nu vergeben.
Sicherlich sind die momentanen Pandemiebestimmten grundrechtsbeschränkenden Eingriffe, vor allem durch das geänderte Infektionsschutzgesetz mit seiner »bundeseinheitlichen Notbremse«, ein so in der Nachkriegszeit noch nicht dagewesener fundamentaler Akt, über dessen Maßnahmenkatalog sich vermutlich noch die Verfassungsrichter beugen werden. Sie aber als eine »Einübung für die Abschaffung der Freiheit« zu bezeichnen und sie mit dem Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933 gleichzusetzen, zeugt von einem großen Ausmaß an geistiger Verblendung. Es wird getan, als gäbe es in unserem politischen System – und damit im Gegensatz zum sogenannten Dritten Reich oder heutigen autoritären Staaten – nur die Legislative und die Exekutive, aber keine anrufbare, kontrollierende Judikative, keine im Grundgesetz verankerte und funktionierende Gewaltenteilung.
Eine – heterogene – Minderheit verweigert sich jedoch. Sie fabuliert von einem »paranoiden Irrsinn der Wirklichkeit«, von »inhuman-verbrecherischen Aspekten der ordnungs-, polizei- und militärpolitischen Realität unserer aktuellen Gegenwart«, macht alle, die nicht ihrer Meinung sind, zu »affirmativen Corona-Gläubigen« und Impfbefürworter zu »Agenten des pharmazeutisch-industriellen Komplexes«. Da aber die Mehrheit der Bevölkerung das abstruse Weltbild nicht teilt, da der bestätigende Aufschrei, die allgemeine Empörung ausbleiben, wird prompt von einem »dröhnenden Schweigen der Zivilgesellschaft« gefaselt.
Wechseln wir einen Moment lang den Blickwinkel, nehmen wir mal an, die Minderheit hätte tatsächlich die Wahrheit auf ihrer Seite und wir, die blinde Mehrheit, (Pandemie-)Untertanen wie sie bei Heinrich Mann im Buche stehen, würden nicht erkennen, dass und wie wir von Politikern, Virologen und Medien verblendet werden: weil wir uns mit der »Herrschaft der Angst« so arrangiert haben wie jene abhängig und unmündig gehaltene Gesellschaft in dem dystopischen Roman »Fahrenheit 451« von Ray Bradbury. Wäre es so, müsste uns, wie bei Bradbury, selbstständiges Denken verboten sein, und wir würden tatsächlich in einem autoritären Staat leben. Vielleicht in einer »Gesundheitsdiktatur«, wie auf Demonstrationen gegen die Vorsorgemaßnahmen behauptet wird. Oder in den Fängen des berüchtigten »tiefen Staates«, sodass die von uns akzeptierte Realität eine Scheinwelt ist, eine Matrix.
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Ljudmila Ulitzkaja, Jahrgang 1943, hat Macht und Schrecken eines autoritären Staates erfahren. Sie erlebte die Verhaftung ihres Großvaters und die Verfolgung von Verwandten. Sie arbeitete nach dem Studium an einem Institut für Genetik in Moskau, wurde entlassen, weil sie verbotene Samisdat-Literatur verbreitet hatte. Mit 40 begann sie zu schreiben. 1992 wurde sie erstmals ausgezeichnet, mit dem französischen Prix Médicis für ihre Novelle »Sonetschka«. Inzwischen wird sie als »eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands« gewürdigt.
Am Freitag, 19. März, erhielt sie in Hamburg in einer digital ausgerichteten Feierstunde den mit 50 000 Euro dotierten, alle zwei Jahre verliehenen Siegfried Lenz Preis der gleichnamigen Stiftung. Mit ihm werden »internationale Schriftstellerinnen und Schriftsteller ausgezeichnet, die mit ihrem erzählerischen Werk Anerkennung erlangt haben und deren schöpferisches Wirken dem Geist von Siegfried Lenz nahe ist«. Ulitzkaja ist nach den Schriftstellern Amos Oz (Israel), Julian Barnes (Großbritannien) und Richard Ford (USA) die erste von der Siegfried Lenz Stiftung ausgezeichnete Frau. Damit geht die Ehrung erstmals nach Osteuropa. Lenz hätte sich gefreut, war er doch ostpreußischer Herkunft.
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher ging in seinem Grußwort besonders auf das im vergangenen Jahr in Russland erschienene Buch »Tschuma« (Pest) ein, das im Januar 2021 unter dem Titel »Eine Seuche in der Stadt« in deutscher Übersetzung erschienen ist. Das historisch verbürgte Szenario erzählt von einer drohenden Pestepidemie in Moskau des Jahres 1939, »die durch das schlimmste und mächtigste Machtinstrument jener Zeit gestoppt wurde«, durch den Geheimdienst der UdSSR. Das Buch ist kein Roman. Es war ursprünglich vor 40 Jahren als – dann doch nicht verfilmtes – Drehbuch konzipiert worden, was seine Lektüre anschaulich-leicht macht. Der wieder hervorgeholte Text »liest sich in Corona-Zeit geradezu unheimlich aktuell« (Laudatorin Sigrid Löffler).
Die Erzählung beginnt wie eine Filmeinstellung: »Durch eine riesige Schneesturmwüste rollt, mit den Scheinwerfern den tanzenden Schneewirbel beleuchtend, ein Güterzug. Langsam und lange. Er fährt vorbei an einer hinter hohen Schneewehen kaum auszumachenden Stadt und verschwindet in der verschneiten Finsternis.« Kameraschwenk: »Ein langgeschossiges Gebäude am Ende der Welt, völlig eingeschneit. Hinter einigen Fenstern brennt trübes Licht. (…) In einer Isolierkammer sitzt Rudolf Iwanowitsch Mayer. Er trägt Schutzanzug und -maske.«
Aus dieser Isolierkammer gelangte die Seuche in die russische Hauptstadt. Mayer wird nach Moskau bestellt, er muss Bericht erstatten über den Stand seiner Forschung. Was er nicht bemerkt hat: Er hat sich beim Ablegen des Schutzanzugs infiziert. Bahnfahrt. Volles Abteil. Ankunft im riesigen Kasaner Bahnhof. Übernachtung im Hotel Moskwa. Zum Hotelfriseur. Mayer hustet, der Friseur kann die Hand mit dem Rasiermesser nicht rechtzeitig zurückziehen, auf Mayers Wange entsteht ein kleiner Kratzer. Am nächsten Tag Versammlung des Kollegiums des Volkskommissariats für Gesundheit. Mayer trägt vor, verkündet, dass das Land »bald über die ersten Muster des neuen Impfstoffs verfügen« wird: »Er schützt gegen alle bekannten Stämme von Pestviren.«
Husten. Fieber. Mayer muss ins Krankenhaus, wo ein Arzt sofort die Pest diagnostiziert. Alarm. Es schlägt die Stunde des autoritären Staates. Josef Stalin ist Generalsekretär des ZK der KPdSU, Lawrenti Beria ist Chef des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten, dem NKWD, und damit auch der mächtigste Mann der gefürchteten Geheimpolizei. Die hat einschlägige Erfahrung in der Aufspürung von Menschen. Effektiv in der Kontaktverfolgung, kompromisslos in der Umsetzung der Isolierung der Kontaktpersonen, organisiert sie in wenigen Tagen eine strenge Quarantäne. Gegen den Geheimdienst hat die Seuche keine Chance. Die betroffenen Menschen auch nicht. Sie werden abgeholt, ohne dass ihnen der Grund genannt wird, und weggeschlossen. Bis sie an der Pest sterben oder bis die Gefahr vorbei ist.
Währenddessen sitzt die Angst auf den Dächern der Stadt. Die Angst vor dem, was für viele vielleicht schlimmer ist als die Pest. »Serjosha«, sagt die Frau zu dem aus der Quarantäne heimkehrenden Mann, »ich dachte, du kommst nicht wieder.« – »Dina, es war die Pest. Nur die Pest!« – »Nur die Pest?«, fragte Dina. Er nickt.
Ulitzkaja schreibt im Nachwort: »Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, dass sie dem Wohl ihres Volkes diente und nicht seiner Einschüchterung und Vernichtung.«
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, erfährt Seite für Seite den Unterschied zwischen dem hierzulande grassierenden Wahn und dem Leben in einer realen Diktatur.
Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Carl Hanser Verlag 2021, 112 Seiten, 16 €. Informationen zur Preisverleihung: www.siegfriedlenz-stiftung.org.