Es ist sechs Uhr. Wie immer. Heute ist Wahltag. Ich gehe in die Küche, dort ziehe ich, wie jeden Sonntag, die Pendeluhr auf, damit ich weiß, wie spät es in der Küche ist. Soll ich heute den Kaffee aufbrühen oder im Kupferkännchen kochen? Ich wähle, nicht geheim. Es gibt Filterkaffee. Dann denke ich nach. Wo komme ich her? Aus dem Bett! Wohin gehe ich? An den PC! Bin ich als Homo Sapiens die Krone der Schöpfung?
Wählen gehen? Wie soll das bei mir funktionieren? Ich sitze in Bad Reichenhall, da wählt man heute auch, vielleicht, ob die vierte Dimension eine Gurke oder eine Buttercremetorte ist oder gar eine Maß Bier. Meinen Stimmzettel habe ich mir per Internet bestellt. Also ist es nichts mit gehen und wählen. Höchstens zum Postkasten. Da habe ich dann aus einem Kuvert die Wahlbetriebsanleitung genommen und auf dem Stimmzettel meine Erst- und Zweitstimmenauswahlmöglichkeit studiert. So viele Namen, so wenig Alternativen. Na gut, ich habe zwei Kreuze gemacht, das soll ja gegen böse Geister helfen. Habe das Kuvert geschlossen, in das zweite Kuvert einen weiteren ausgefüllten Zettel gegeben, alles fein zugeklebt und bin dann zum Postkasten gegangen. Mit mir trug ich die große historische Chance, weil, so sagten schon mein Großvater und meine Mutter, »Wahltag ist Zahltag«, und: »Wir haben von nichts gewusst«. Das geht mir ähnlich. Ich machte mich auf den Weg zum Postkasten. Ist das nun wählen gehen? Auf dem Postkasten stand »schreib mal wieder« – das verwirrte mich, ich wollte doch wählen. Ich war irritiert. Wenn der Wahltag ein Zahltag ist und ein Postkasten fordert, man solle mal wieder schreiben, was mach ich denn nun? Also musste ich mich entschließen. Als der Entschluss dann da war, da habe ich das Kuvert mit meiner Erst- und Zweitstimme in den Briefkasten geworfen.
Heute aber ist der Wahlsonntag. Es regnet immer noch, der Mokka kocht über, in der Wohnung riecht es ein wenig nach verbranntem Kaffee. Die Wahl ging daneben, nun mach ich mir doch Filterkaffee. Meistens wähle ich ja am Sonntag nicht sehr viel, ich gehe da so kurz nach sieben Uhr früh von der Münchner Allee zur König Ludwigstraße, denn jede Stadt braucht auch einen königlichen Straßennamen, sonst darf es ja keine Bismarck- und Hindenburgstraße geben.
An der Saalach sitzt schon ein Fliegenfischer unter einem riesigen Regenschirm, er kann überhaupt nicht wählen. Weil Fische nicht wahlberechtigt sind. Also angelt er im Trüben, ohne Maß, ohne Ziel. Am Bahnhof hole ich mir eine Sonntagszeitung. Nachdem ich nun eine Zeitung habe, die mir mitteilt, was Deutschland denkt, gehe in die Bäckerei am Bahnhof. Ich wähle unter vielen Backwarenangeboten zwei Handsemmerl und eine Zimtschnecke und frage mich, ob die Dritte Dimension ein Rätsel ist oder ein Sonntagsgebäck.
Den Heimweg unterbrechen einige Ampeln, die wählen. RotGelbGrün. Gelb kommt immer zu kurz! Aber ist Gelb nicht die Mitte? Wie ist das bei einer Ampelkoalition? Warum darf ich das nicht wählen?
Die freie Fahrt für freie Bürger wird nur bei GelbRot unterbrochen, Grün aber, da geht es los mit dem GibGummiLeben. So um 11 Uhr ist das Frühstück nicht mehr verlängerbar. Im Fernsehen macht man sich Sorgen und zeigt Prognosen. Wird die Mitte gewinnen? Wo ist die Mitte? Gibt es wirklich einen Mittelweg? Kann der lang sein? Oder breit?
»Weit ist der Weg nach Hongkong« lallt der Freddy, wie weit ist der Weg dann zur Mitte? Braucht man Intelligenzkonfliktlösungskompetenz, um das zu klären, was sich abspielt am Wahltag. Wie wählt man die Mitte?
Ist das Mittel zum Zweck die Mitte? Hat die Mitte eine linke Seite? Hat die Mitte eine rechte Seite? Hat die Mitte ein Oben? Hat die Mitte ein Unten? Wie findet man LängeBreiteHöhe bei der Mitte?
Das Frühstück zerbröselt, die Zeitungsseiten haben die Welt erklärt. Es bleibt ein wenig Zeit.
Am Anfang schuf Gott die Mitte?
Sicher! Anstoß ist doch immer am Mittelpunkt, oder?
Wo hat denn nun die Mitte ihre Mitte? Wenn sich alle in der Mitte versammeln? Was geschieht? Mittezusammenbruch?
Wahltag ist Zahltag!
Die Mittagsglocken läuten.
ZwölfuhrwahltagsMITTetag!
ENDE DER MITTE? ANFANG DER MITTE? MITTE DER MITTE! In Deutschland werden die Ampeln auf RotSchwarz umgestellt.