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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wahltag

Es ist sechs Uhr. Wie immer. Heu­te ist Wahl­tag. Ich gehe in die Küche, dort zie­he ich, wie jeden Sonn­tag, die Pen­del­uhr auf, damit ich weiß, wie spät es in der Küche ist. Soll ich heu­te den Kaf­fee auf­brü­hen oder im Kup­fer­känn­chen kochen? Ich wäh­le, nicht geheim. Es gibt Fil­ter­kaf­fee. Dann den­ke ich nach. Wo kom­me ich her? Aus dem Bett! Wohin gehe ich? An den PC! Bin ich als Homo Sapi­ens die Kro­ne der Schöpfung?

Wäh­len gehen? Wie soll das bei mir funk­tio­nie­ren? Ich sit­ze in Bad Rei­chen­hall, da wählt man heu­te auch, viel­leicht, ob die vier­te Dimen­si­on eine Gur­ke oder eine But­ter­creme­tor­te ist oder gar eine Maß Bier. Mei­nen Stimm­zet­tel habe ich mir per Inter­net bestellt. Also ist es nichts mit gehen und wäh­len. Höch­stens zum Post­ka­sten. Da habe ich dann aus einem Kuvert die Wahl­be­triebs­an­lei­tung genom­men und auf dem Stimm­zet­tel mei­ne Erst- und Zweit­stim­men­aus­wahl­mög­lich­keit stu­diert. So vie­le Namen, so wenig Alter­na­ti­ven. Na gut, ich habe zwei Kreu­ze gemacht, das soll ja gegen böse Gei­ster hel­fen. Habe das Kuvert geschlos­sen, in das zwei­te Kuvert einen wei­te­ren aus­ge­füll­ten Zet­tel gege­ben, alles fein zuge­klebt und bin dann zum Post­ka­sten gegan­gen. Mit mir trug ich die gro­ße histo­ri­sche Chan­ce, weil, so sag­ten schon mein Groß­va­ter und mei­ne Mut­ter, »Wahl­tag ist Zahl­tag«, und: »Wir haben von nichts gewusst«. Das geht mir ähn­lich. Ich mach­te mich auf den Weg zum Post­ka­sten. Ist das nun wäh­len gehen? Auf dem Post­ka­sten stand »schreib mal wie­der« – das ver­wirr­te mich, ich woll­te doch wäh­len. Ich war irri­tiert. Wenn der Wahl­tag ein Zahl­tag ist und ein Post­ka­sten for­dert, man sol­le mal wie­der schrei­ben, was mach ich denn nun? Also muss­te ich mich ent­schlie­ßen. Als der Ent­schluss dann da war, da habe ich das Kuvert mit mei­ner Erst- und Zweit­stim­me in den Brief­ka­sten geworfen.

Heu­te aber ist der Wahl­sonn­tag. Es reg­net immer noch, der Mok­ka kocht über, in der Woh­nung riecht es ein wenig nach ver­brann­tem Kaf­fee. Die Wahl ging dane­ben, nun mach ich mir doch Fil­ter­kaf­fee. Mei­stens wäh­le ich ja am Sonn­tag nicht sehr viel, ich gehe da so kurz nach sie­ben Uhr früh von der Münch­ner Allee zur König Lud­wig­stra­ße, denn jede Stadt braucht auch einen könig­li­chen Stra­ßen­na­men, sonst darf es ja kei­ne Bis­marck- und Hin­den­burg­stra­ße geben.

An der Saal­ach sitzt schon ein Flie­gen­fi­scher unter einem rie­si­gen Regen­schirm, er kann über­haupt nicht wäh­len. Weil Fische nicht wahl­be­rech­tigt sind. Also angelt er im Trü­ben, ohne Maß, ohne Ziel. Am Bahn­hof hole ich mir eine Sonn­tags­zei­tung. Nach­dem ich nun eine Zei­tung habe, die mir mit­teilt, was Deutsch­land denkt, gehe in die Bäcke­rei am Bahn­hof. Ich wäh­le unter vie­len Back­wa­ren­an­ge­bo­ten zwei Hand­sem­merl und eine Zimt­schnecke und fra­ge mich, ob die Drit­te Dimen­si­on ein Rät­sel ist oder ein Sonntagsgebäck.

Den Heim­weg unter­bre­chen eini­ge Ampeln, die wäh­len. Rot­Gelb­Grün. Gelb kommt immer zu kurz! Aber ist Gelb nicht die Mit­te? Wie ist das bei einer Ampel­ko­ali­ti­on? War­um darf ich das nicht wählen?

Die freie Fahrt für freie Bür­ger wird nur bei Gelb­Rot unter­bro­chen, Grün aber, da geht es los mit dem Gib­Gum­mi­Le­ben. So um 11 Uhr ist das Früh­stück nicht mehr ver­län­ger­bar. Im Fern­se­hen macht man sich Sor­gen und zeigt Pro­gno­sen. Wird die Mit­te gewin­nen? Wo ist die Mit­te? Gibt es wirk­lich einen Mit­tel­weg? Kann der lang sein? Oder breit?

»Weit ist der Weg nach Hong­kong« lallt der Fred­dy, wie weit ist der Weg dann zur Mit­te? Braucht man Intel­li­genz­kon­flikt­lö­sungs­kom­pe­tenz, um das zu klä­ren, was sich abspielt am Wahl­tag. Wie wählt man die Mitte?

Ist das Mit­tel zum Zweck die Mit­te? Hat die Mit­te eine lin­ke Sei­te? Hat die Mit­te eine rech­te Sei­te? Hat die Mit­te ein Oben? Hat die Mit­te ein Unten? Wie fin­det man Län­ge­Breite­Hö­he bei der Mitte?

Das Früh­stück zer­brö­selt, die Zei­tungs­sei­ten haben die Welt erklärt. Es bleibt ein wenig Zeit.

Am Anfang schuf Gott die Mitte?

Sicher! Anstoß ist doch immer am Mit­tel­punkt, oder?

Wo hat denn nun die Mit­te ihre Mit­te? Wenn sich alle in der Mit­te ver­sam­meln? Was geschieht? Mittezusammenbruch?

Wahl­tag ist Zahltag!

Die Mit­tags­glocken läuten.

Zwöl­fuhr­wahl­tags­MIT­Tetag!

ENDE DER MITTE? ANFANG DER MITTE? MITTE DER MITTE! In Deutsch­land wer­den die Ampeln auf Rot­Schwarz umgestellt.