Wahltag war am 12. Februar nicht nur in Berlin, sondern auch in Rom – da gingen allerdings nur noch 35 Prozent aller Wahlberechtigten an die Urnen, noch weniger als in der gesamten Region Latium (37,2 Prozent), die eine neue Regionalregierung mit einem längst als »governatore« amerikanisch titulierten Präsidenten wählte, ebenso wie die Lombardei mit der Wirtschaftsmetropole Mailand im Norden. Auch hier bewegten sich nur noch 41,7 Prozent in die Wahllokale, ein erdrutschähnlicher Verlust gegenüber noch 73 Prozent Wählern bei den vorigen Regionalwahlen 2018. Insgesamt verloren alle Parteien massiv an Stimmen – mit Ausnahme von Melonis Brüdern, Fratelli d’Italia (FdI), doch haushohe Wahlsieger waren mit gut 60 Prozent die Nichtwähler.
Umgehend wurden jedoch in beiden Regionen als große Sieger die Gouverneure der Rechtsbündnisse proklamiert, deren »Sieg« ja bereits vorher feststand. Sie wiederholten somit den scheinbaren nationalen Wahlerfolg vom 21. September 2022, der die am meisten rechtsstehende Nachkriegs-Regierung unter Giorgia Melonis Fratelli d’Italia ins Amt gebracht hatte. Im September lag die Wahlbeteiligung noch bei 64 Prozent, das rechte Rechtsbündnis erhielt knapp 44 Prozent davon (also real 25 Prozent aller Stimmberechtigten), verfügt aber – dank des großen Mehrheitsbonus‘ – über fast zwei Drittel der Parlamentssitze; die Regierung schickt sich also an »durchzuregieren«.
Der Verfassungsgrundsatz der Repräsentativität des Wählerwillens ist in Italien durch entsprechende Wahlgesetze schon seit vielen Legislaturperioden ausgesetzt, ein Umstand, der das politische Engagement der Wähler seit langem geschwächt und in weiten Kreisen zur Resignation geführt hat, zum Rückzug ins Private. Vor allem, seitdem es keine erkennbare Opposition mehr gibt – die hatte schon im letzten Sommer das Handtuch geworfen, als die beiden Mitte-links-Parteien (PD und M5S) eine Wahlallianz ausschlossen und so dem Rechtsbündnis zur Macht verhalfen. Dasselbe wiederholte sich jetzt. Denn die Wahlenthaltung als Symptom demokratischen Niedergangs war von der Opposition weiter verdrängt worden.
Die Nichtwähler sind keine homogene Gruppe. Neben den politisch Kundigen, die man in Italien noch weitgehend links verorten kann und die sich seit langem von keiner Partei mehr vertreten fühlen, wächst die Wahlenthaltung rapide unter den Verarmenden und den Armen, die immer weniger Zugang zu Bildung, Arbeit und qualifizierter Information haben und sich zunehmend abgehängt fühlen. Das Phänomen der Veränderung der Parteien von einst konstitutionellen Repräsentanten demokratischer Kräfte hin zu Tauschkomitees zwischen Wirtschaftsgruppen und ihren politischen Handlangern wird in vielen Staaten ausgemacht.
Colin Crouch veröffentlichte vor mehr als 20 Jahren seine knappe kluge Studie zur Postdemokratie, der man bereits weitgehend entnehmen konnte, was sich in Italiens Politik gewissermaßen als Vorreiter für ähnliche Prozesse in Europa abspielt. Wenn jedoch solche Entwicklungstendenzen als zwangsläufig oder gar »natürlich« angesehen werden, sodass man ihnen kaum Einhalt bieten kann, stünde die Demokratie vielerorts auf dem Spiel.
Wie schrieb Ossietzky 1923 angesichts der europäischen Krise vor hundert Jahren? »Die Völker fühlen sich als Spielbälle von Kräften, die sie nicht verstehen. (…) Es ist eine stehende Erfahrung: Wo der Arzt in Misskredit gekommen ist, schleicht der Scharlatan ins Haus. Und die moderne politische Scharlatanerie kristallisiert sich in dem vielfarbigen, vieldeutigen Begriff: Faschismus.«
Dieser in der Tat komplexe Begriff, der die neueren Rechtsverschiebungen in Europa meist nicht mehr wirklich kennzeichnet, wird in seiner historischen Bedeutung heute in Italien kaum noch zur Charakterisierung der Regierung Meloni benutzt, obwohl sich in ihrem Umfeld nicht wenige Nostalgiker tummeln, so nicht zuletzt ihr Senatspräsident, der das zweithöchste Amt im Staate bekleidet. Aber der war auch schon unter Berlusconi als Minister dabei. In vielen gesellschaftlichen Bereichen, so auch im kulturellen Kontext, nehmen revisionistische Tendenzen noch stärker Raum als bisher. Dafür boten die Veranstaltungen zum jüngsten Gedenktag der Auschwitz-Befreiung am 27. Januar, der in Italien seit zwanzig Jahren mit großem öffentlichem Aufwand begangen wird, einige triste Beispiele. Diese setzten sich fort mit dem Gedenken am 10. Februar an die »Foibe« (Massaker an Faschisten an der italienisch-jugoslawischen Grenze 1943/45), wofür nun die gesamte Resistenza verantwortlich gemacht wird. Die Gemeinde Genua verstieg sich sogar dazu, die Foibe mit der Shoah gleichzusetzen, denn schließlich »unterschieden sich die Toten ja nicht nach ihren Farben«.
Giorgia Meloni selbst hat eine wahrnehmbare politische Wende vollbracht – von bisheriger Radikalopposition (Cambiare l‘Italia!) bis ins höchste Regierungsamt. Dort steht sie heute in erster Linie für eine Fortsetzung der Wirtschafts- und Außen-Politik ihres Vorgängers Mario Draghi: pro-USA und pro-EU. Auf einen unumstößlichen Atlantismus hat sie auch ihre einst anders orientierten Bündnispartner Lega und Forza Italia eingeschworen; dem widersprechende öffentliche Äußerungen Silvio Berlusconis zur Ukraine-Politik, zuletzt am 12.2. (er würde als Regierungschef jetzt nicht – wie Meloni – zu Selenskyj fahren, sondern lieber Friedensverhandlungen in Gang bringen) wurden im Lande eher beschwiegen, denn seine Partei trägt die offizielle Politik ja mit.
Nicht so jedoch in Europa: Umgehend trat EPP-Chef Manfred Weber (CSU) auf den Plan. Er rügte Berlusconi scharf, dessen Partei ja zur EPP gehört: »Die Unterstützung der Ukraine sei nicht fakultativ!«, und sagte gleich das geplante EPP-Treffen am 6./7. Juli in Neapel ab, zu dem auch die EU-Spitzen Ursula Von der Leyen und Roberta Metsola geladen waren. Dort sollte die Strategie für die EU-Wahl 2024 festgelegt werden, die auf eine Annäherung zwischen den EU-skeptischen Rechtsreformisten (ECR) und der EPP abzielt. Darauf setzt ja auch ECR-Chefin Meloni, die diese erweiterte Rechte mit den Visegrád-Staaten zur stärksten Kraft in der EU machen möchte. Webers Ohrfeige für Berlusconi kommt ihr deshalb gar nicht ungelegen, sie reiste, wie geplant, am 20./21. Februar nach Warschau und Kiew mit der Zusage für die Lieferung weiteren Kriegsmaterials – und man gesteht ihr zunehmend politische Durchsetzungskraft zu.
In diesem Sinne äußerte sich auch der Noch-Parteichef der Demokraten (PD), Enrico Letta, der seine verbliebenen 20 Prozent Wählerstimmen als »stärkste Kraft der Opposition« positiv verbuchte, in einem Interview mit der NYT (15.02.) durchaus wohlwollend über Meloni: Sie hielte – entgegen früherer Aussagen – die EU-Regeln ein, sei innerhalb ihres Bündnisses stark und »regiere überhaupt besser als erwartet« Dieses Statement löste erheblichen Protest beim letzten linken Flügel der Demokraten aus, die sich auf den Abschluss ihres seit Monaten währenden diffusen Parteikongresses vorbereiten. Am 26. Februar wird nach sogenannten Primärwahlen à la USA Lettas Nachfolger/in gewählt. Zur Wahl steht u.a. auch die eher unkonventionelle ehemalige EU-Abgeordnete Elly Schlein, die aber voraussichtlich dem gemäßigten Favoriten Stefano Bonaccini, der bisher die Emilia Romagna erfolgreich regierte, unterlegen bleibt.
Von einer neuen Parteiführung (der 10. in 15 Jahren ihrer Existenz!) erwarten nicht wenige die inhaltliche Neubestimmung einer effizienten Oppositionsperspektive, die das politische Vakuum von 60-75 Prozent der Wähler, die sich von der Regierung nicht vertreten fühlen, ausfüllen könnte. Die rekrutieren sich aus einem großen Teil der etwa 20 Millionen abhängig Arbeitenden, all jener »lavoratori«, von denen die Politik heute kaum noch spricht, die aber am stärksten unter dem Niedergang des Landes leiden. Das erforderte nicht nur einen längerfristigen Horizont für ein durchsetzungsfähiges links-ökologisches Programm, sondern vor allem eine Annäherung an Kräfte wie die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S), die kleineren Parteien und soziale Bewegungen, die ein solches mitgestalten müssten.
Doch davon scheinen alle weit entfernt zu sein, überall stehen Partikularinteressen im Vordergrund, auch in der Rechtskoalition, die längst nicht so stark und geschlossen ist, wie sie vorgibt. Viele aktuelle innenpolitische Auseinandersetzungen über wirtschaftliche und juristische Maßnahmen verdeutlichen das, nicht zuletzt auch wachsende Zweifel an der offiziellen Ukraine-Politik quer durch alle Parteien.
Ob also dieses sogar als »Stunde null der Linken« (Pietro Folena) bezeichnete Vakuum einer erneuerten Opposition Raum bieten kann, bleibt mehr als fraglich. Dem verstärkten Angriff der Rechten auf die antifaschistische Verfassung wäre allerdings baldmöglich mit aller Kraft zu begegnen, ebenso wie dem weiteren Abbau des schon verarmten Wohlfahrtsstaates, der Arbeitsrechte und des skandalös niedrigen Lohnniveaus. Denn die bisherige Zersplitterung der Opposition ist die beste Garantie für den Fortbestand des Rechtsbündnisses, das sich anschickt, eine neue europäische (Kalte-)Kriegssituation mitzugestalten.