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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wachtürme überall

Der Satz steht am Beginn: »Und wenn Sie den Anfang ver­passt haben, macht es auch nichts …, sie fängt extra für Sie jeden Moment an, die Geschich­te …« Die erzähl­te oder die erleb­te Geschich­te. Wie ein Kreis­lauf? Immer wie­der das Glei­che den­ken, tun: Ver­bre­chen oder Fort­schritt? Dar­über­hin­weg­ge­hen. Wir befin­den uns in Elfrie­de Jelin­eks Stück: »Rech­nitz (Der Wür­ge­en­gel)« in Ham­burg auf Kamp­na­gel. Eines der drei Stu­di­en­pro­jek­te »Die Kin­der der Toten« der Thea­ter­aka­de­mie Ham­burg. Regie führ­te Woo­dy Mues. Die Darsteller/​innen wur­den ergänzt durch eini­ge vom Ham­bur­ger Schau­spiel­haus, die real oder im Video agier­ten. Zwei ech­te Scha­fe nicht zu vergessen.

Ein Meer von roten Tul­pen wächst auf der Büh­ne (Anton von Bre­dow). Dazwi­schen ein Hoch­sitz (es ist ein Wach­turm) und eine Schieß­schei­be. Geschos­sen wird – mit Wor­ten. Nie­mand, soweit ich sehe, trägt ein Gewehr. Den Thea­ter­zet­tel mit »Anmer­kun­gen« zum Stück vor­her zu lesen emp­fiehlt sich. Schon des­halb, weil Jelin­eks Tex­te asso­zia­tiv dahin­flie­ßen, ein Wort ent­wickelt sich aus dem ande­ren, was harm­los scheint, wird zum Unwort, birgt Unta­ten. März 1945, im öster­rei­chi­schen Bur­gen­land, ein Dorf, ein Schloss, eine Grä­fin – Mar­git von Bat­thy­á­ny – lädt SS-Offi­zie­re, Gesta­po-Füh­rer und ein­hei­mi­sche Nazis auf ein Fest. Die Rote Armee ist nicht mehr weit. Sie trin­ken. Fünf­zehn Gäste ver­las­sen das Schloss um Mit­ter­nacht, bewaff­net. 180 unga­ri­sche Män­ner und Frau­en, Zwangs­ar­bei­ter, die in einem Stall in der Nähe ein­ge­sperrt sind, wer­den abge­knallt. Zu sehen ist die Rück­kehr der Par­ty­gä­ste. Man fei­ert wei­ter. Ein paar Tage spä­ter brennt das Schloss. Kurz vor­her war die Grä­fin mit dem SS-Orts­grup­pen­lei­ter Pode­zin und dem Guts­ver­wal­ter Olden­burg in die Schweiz geflüch­tet. Dort sam­melt ihr Bru­der »Hei­ni« Thys­sen Kunst­wer­ke. Sie betreibt – ein aner­kann­tes Mit­glied der Gesell­schaft – dort eine Pferdezucht.

Die Rus­sen hat­ten das Schloss nicht ange­zün­det. Die Mas­sen­grä­ber der Zwangs­ar­bei­ter, sie wur­den nicht gefun­den, zwei Zeu­gen vor­her ermor­det. Das Dorf schwieg. Die­ser unun­ter­bro­che­ne Rede­fluss, der das Nicht-Sagen in sich birgt, das Aus­las­sen – bei Jeli­nek sind es männ­li­che und weib­li­che Boten, die über das inein­an­der ver­wo­be­ne Damals und Heu­te berich­ten. Die Rea­li­tät auf der Büh­ne wird spä­ter ergänzt durch zwei Video­lein­wän­de. Wir ver­fol­gen eine Auto­fahrt, die zum Schluss am Ort des Spiels, in der Vor­hal­le von Kamp­na­gel, endet. Zwei Schau­spie­ler der älte­ren Gene­ra­ti­on, »stolz dar­auf, Deut­scher zu sein … end­lich wie­der Mut zu einem star­ken Natio­nal­ge­fühl zu haben«, füh­ren in die Gegen­wart. Sie lamen­tie­ren über »die Opfer, die Toten, die Hin­ter­blie­be­nen der Toten, ja, die auch, die Opfer … die mehr als ande­re Men­schen mit üblen Tricks arbei­ten wer­den, um das zu errei­chen, was sie wol­len. Die Opfer wol­len ja immer was, auch dann, wenn sie längst kei­ne mehr sind …«

Wer ist wohl gemeint? (Urauf­ge­führt wur­de das Stück 2008.) Alles, was sich in der Spra­che ver­birgt oder blitz­ar­tig auf­scheint – es gilt noch immer, schon wie­der. Einer der Boten trägt einen schwe­ren Kof­fer, weiß nicht, wo er ihn abstel­len kann zwi­schen den Tul­pen. Will nur ein klei­nes Käm­mer­chen für sein Gepäck, das die Geschich­te in sich ver­schließt. Er macht dar­aus eine Slap­stick-Sze­ne, hek­tisch-ner­vös. »Er weiß ja«, sagt er zu denen, die ihn bedrän­gen, »dass Sie von der Geschich­te die­ser schreck­li­chen Zeit gera­de­zu hyp­no­ti­siert sind … und indem Sie auf das Ent­setz­li­che star­ren, das die­ses Land ver­bro­chen hat, machen Sie Deutsch­land wie­der zum Nabel der Welt …« Ihm als Boten ist es egal, »aber es ist nicht gut, Deutsch­land wie­der zu einem Nabel zu machen, machen Sie es doch lie­ber zu einem Arsch«. Der Text, oft von zwei Posau­nen unter­malt. Die Ver­ständ­lich­keit lei­det dar­un­ter, auch wenn die­se Art der Blas­mu­sik völ­lig kor­rekt ist.

Um die »mora­li­sche Über­heb­lich­keit der Nach­welt« dre­hen sich die Band­wurm­sät­ze. Es geht um Zuwen­dung. »Sie ver­lan­gen, dass wir sagen, so und so war es, aber wenn das, was war, heu­te wäre, wür­den wir von uns sagen kön­nen, wir hät­ten, wir wür­den ganz bestimmt ver­folg­te Men­schen oder ähn­li­ches Gesin­del ver­stecken. Und das tun wir auch …« Die­se Tex­te auf der Büh­ne umzu­set­zen ist schwer. Ein anspruchs­vol­les Unter­neh­men, die­sen Jeli­nek-Text auf­zu­füh­ren – und das in einer Stun­de. Ein Lob mit klei­nen Einschränkungen.

Im zwei­ten Teil mischt Jeli­nek das größ­te Tabu, kan­ni­ba­li­sti­sche Ele­men­te, ins Stück. Das lenkt ab und treibt eini­ge Zuschau­er aus dem Thea­ter. Wor­um es im Stück geht, um das All­täg­lich­wer­den des Ver­bre­chens, das sich schon in der Spra­che zeigt. Das Hei­me­li­ge, hei­mi­sche, die »Bana­li­tät des Bösen«, das hier als täg­li­che Sen­dung prä­sen­tiert wird. Die erschos­se­nen Zwangs­ar­bei­ter – ihre Lei­chen wur­den nicht gefun­den. Kein Grab. Wor­auf wach­sen die so präch­tig blü­hen­den Tul­pen? Der Schluss ist fast wie der Beginn. Jemand über­reicht einen Zet­tel. Da steht: »Man muss nichts ein­se­hen, um nicht bestraft zu wer­den.« Und wei­ter: »Wenn Sie den Anfang ver­passt haben, macht das gar nichts.«

***

Mit dem rät­sel­haf­ten Titel »PGH Glü­hen­de Zukunft« ist jetzt eine lei­der nur klei­ne Aus­stel­lung im Muse­um für Kunst und Gewer­be in Ham­burg zu sehen. Der Unter­ti­tel klärt auf: »Ber­li­ner Pla­ka­te aus der Zeit der Wen­de« (bis zum 25. August).Vier Künst­ler aus Ost­ber­lin, dar­un­ter eine Frau, schlos­sen sich zur Grup­pe zusam­men, zu einer Pro­duk­ti­ons­ge­nos­sen­schaft des Hand­werks (PGH), wie es in der DDR hieß – das war vor drei­ßig Jah­ren, kurz vor dem Mau­er­fall. Rechts und links in einem schma­len Flur hän­gen Pla­ka­te, die über­ra­schen. Das erste: in einem offe­nen roten Auto, das fährt, sit­zen vier Per­so­nen, ver­kehrt her­um, sie sehen zurück – in die Ver­gan­gen­heit? Auf Sta­chel­draht­zäu­ne und Bewa­chungs­turm. Das Pla­kat ent­stand erst 1998, da hat­te sich die Grup­pe von Anke Feuch­ten­ber­ger (*1963), Det­lef Beck (*1958), Hol­ger Fickel­sche­rer (*1966) und Hen­ning Wagen­breth (*1963) schon auf­ge­löst. Ihre alte Hei­mat, auf die­se bei­den Ver­satz­stücke des Kal­ten Krie­ges redu­ziert? Oder ist es 1998 schon der Ein­fluss west­li­cher Medi­en? Oder woll­ten sie genau das dar­stel­len? Die vier Insas­sen des Wagens – sind es die Künst­ler selbst? Sie kön­nen nicht sehen, wohin die Rei­se geht, ihre Posi­ti­on – im auto­nom fah­ren­den Auto – macht es unmög­lich. Sie kön­nen es nicht selbst bestim­men. Eine Arbeit, für die alle Vier ver­ant­wort­lich zeichnen.

Ein gro­ßes Pla­kat von Wagen­breth (1990) ist deut­li­cher: »Rad­fah­rer haben nichts zu ver­lie­ren als ihre Ket­ten!« Im Info-Text der Hin­weis: »Rad­fah­rer, das waren nach dem Mau­er­fall die Ost­ber­li­ner, die anders als ihre neu­en Mit­bür­ger aus dem Westen, nur sel­ten Autos besa­ßen.« Der Rad­fah­rer ballt die Rech­te zur Faust inmit­ten von Häu­ser­schluch­ten und Schorn­stei­nen. Die mei­sten Wer­ke sind Thea­ter­pla­ka­te. Der Büh­nen­bild­ner Vol­ker Pfül­ler (*1939), seit 1991 Pro­fes­sor an der Kunst­hoch­schu­le Ber­lin Wei­ßen­see, wo Wagen­breth und Feuch­ten­ber­ger stu­dier­ten, hat­te gro­ßen Ein­fluss. Spä­ter lehr­te er Illu­stra­ti­on an der Hoch­schu­le für Gra­fik und Buch­kunst in Leip­zig. Ganz aktu­ell wirkt das Thea­ter­pla­kat von Wagen­breth: »Der Gute Gott von Man­hat­tan« (1992), nach dem Hör­spiel von Inge­borg Bach­mann. Ein Mann in Gelb, von Eich­hörn­chen bekrab­belt, er trägt einen Kof­fer, die ande­re Hand hält eine Waf­fe – Hand­gra­na­te –, die gera­de explo­diert. Aus Hoch­häu­sern flat­tern Brie­fe. Fra­gen an den Frem­den: »Sie hei­ßen? Sie sind gebo­ren? Wann? Wo? Haut­far­be? Sta­tur? Grö­ße? Reli­giö­ses Bekennt­nis?« Alles lan­ge her. Auf­füh­run­gen im Ber­li­ner Maxim Gor­ki-Thea­ter, oft auch von Pup­pen­thea­tern in Ber­lin und Dres­den oder West­deut­schen eher unbe­kann­te Büh­nen wie das freie Thea­ter 89 in Ost­ber­lin tau­chen in den phan­ta­sti­schen Pla­ka­ten wie­der auf. Vie­le von Anke Feuch­ten­ber­ger für Kin­der­stücke, aber auch für den Unab­hän­gi­gen Frau­en­ver­band (UFV), der sich im Febru­ar 1990 bil­de­te – frech, weib­lich selbst­be­wusst. Sie arbei­te­te genau­so für das Neue Forum, eben­so Hen­ning Wagen­breth, der das Pla­kat zum Grün­dungs­tref­fen am 10. Novem­ber 1989 schuf. In einer Vitri­ne ein lan­ger Text von André Mei­er von 1991, der schil­dert, wie alles begann. Die »PGH Glü­hen­de Zukunft« ist kein Fall für die Treu­hand und muss nicht um Kuchen­krü­mel bet­teln, Lob­re­den hat sie nicht nötig … Aus­ge­stat­tet mit dem DDR-Kunst­preis, unter­schrie­ben vom letz­ten Kul­tur­mi­ni­ster am aller­letz­ten Tag des Arbei­ter- und Bau­ern-Staa­tes, sorgt sie dafür, dass auch das Bei­tritts­ge­biet eine visu­el­le Lob­by hat …«

Ein Lob fürs Muse­um, dass es die Ham­bur­ger mit die­sen Künst­lern bekannt­macht (lei­der fehlt ein Kata­log). Aber der Satz im Info-Blatt, »… konn­ten nach der Wen­de auch im Westen Fuß fas­sen …«, irri­tiert in sei­ner Gönnerhaftigkeit.