Der Satz steht am Beginn: »Und wenn Sie den Anfang verpasst haben, macht es auch nichts …, sie fängt extra für Sie jeden Moment an, die Geschichte …« Die erzählte oder die erlebte Geschichte. Wie ein Kreislauf? Immer wieder das Gleiche denken, tun: Verbrechen oder Fortschritt? Darüberhinweggehen. Wir befinden uns in Elfriede Jelineks Stück: »Rechnitz (Der Würgeengel)« in Hamburg auf Kampnagel. Eines der drei Studienprojekte »Die Kinder der Toten« der Theaterakademie Hamburg. Regie führte Woody Mues. Die Darsteller/innen wurden ergänzt durch einige vom Hamburger Schauspielhaus, die real oder im Video agierten. Zwei echte Schafe nicht zu vergessen.
Ein Meer von roten Tulpen wächst auf der Bühne (Anton von Bredow). Dazwischen ein Hochsitz (es ist ein Wachturm) und eine Schießscheibe. Geschossen wird – mit Worten. Niemand, soweit ich sehe, trägt ein Gewehr. Den Theaterzettel mit »Anmerkungen« zum Stück vorher zu lesen empfiehlt sich. Schon deshalb, weil Jelineks Texte assoziativ dahinfließen, ein Wort entwickelt sich aus dem anderen, was harmlos scheint, wird zum Unwort, birgt Untaten. März 1945, im österreichischen Burgenland, ein Dorf, ein Schloss, eine Gräfin – Margit von Batthyány – lädt SS-Offiziere, Gestapo-Führer und einheimische Nazis auf ein Fest. Die Rote Armee ist nicht mehr weit. Sie trinken. Fünfzehn Gäste verlassen das Schloss um Mitternacht, bewaffnet. 180 ungarische Männer und Frauen, Zwangsarbeiter, die in einem Stall in der Nähe eingesperrt sind, werden abgeknallt. Zu sehen ist die Rückkehr der Partygäste. Man feiert weiter. Ein paar Tage später brennt das Schloss. Kurz vorher war die Gräfin mit dem SS-Ortsgruppenleiter Podezin und dem Gutsverwalter Oldenburg in die Schweiz geflüchtet. Dort sammelt ihr Bruder »Heini« Thyssen Kunstwerke. Sie betreibt – ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft – dort eine Pferdezucht.
Die Russen hatten das Schloss nicht angezündet. Die Massengräber der Zwangsarbeiter, sie wurden nicht gefunden, zwei Zeugen vorher ermordet. Das Dorf schwieg. Dieser ununterbrochene Redefluss, der das Nicht-Sagen in sich birgt, das Auslassen – bei Jelinek sind es männliche und weibliche Boten, die über das ineinander verwobene Damals und Heute berichten. Die Realität auf der Bühne wird später ergänzt durch zwei Videoleinwände. Wir verfolgen eine Autofahrt, die zum Schluss am Ort des Spiels, in der Vorhalle von Kampnagel, endet. Zwei Schauspieler der älteren Generation, »stolz darauf, Deutscher zu sein … endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl zu haben«, führen in die Gegenwart. Sie lamentieren über »die Opfer, die Toten, die Hinterbliebenen der Toten, ja, die auch, die Opfer … die mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiten werden, um das zu erreichen, was sie wollen. Die Opfer wollen ja immer was, auch dann, wenn sie längst keine mehr sind …«
Wer ist wohl gemeint? (Uraufgeführt wurde das Stück 2008.) Alles, was sich in der Sprache verbirgt oder blitzartig aufscheint – es gilt noch immer, schon wieder. Einer der Boten trägt einen schweren Koffer, weiß nicht, wo er ihn abstellen kann zwischen den Tulpen. Will nur ein kleines Kämmerchen für sein Gepäck, das die Geschichte in sich verschließt. Er macht daraus eine Slapstick-Szene, hektisch-nervös. »Er weiß ja«, sagt er zu denen, die ihn bedrängen, »dass Sie von der Geschichte dieser schrecklichen Zeit geradezu hypnotisiert sind … und indem Sie auf das Entsetzliche starren, das dieses Land verbrochen hat, machen Sie Deutschland wieder zum Nabel der Welt …« Ihm als Boten ist es egal, »aber es ist nicht gut, Deutschland wieder zu einem Nabel zu machen, machen Sie es doch lieber zu einem Arsch«. Der Text, oft von zwei Posaunen untermalt. Die Verständlichkeit leidet darunter, auch wenn diese Art der Blasmusik völlig korrekt ist.
Um die »moralische Überheblichkeit der Nachwelt« drehen sich die Bandwurmsätze. Es geht um Zuwendung. »Sie verlangen, dass wir sagen, so und so war es, aber wenn das, was war, heute wäre, würden wir von uns sagen können, wir hätten, wir würden ganz bestimmt verfolgte Menschen oder ähnliches Gesindel verstecken. Und das tun wir auch …« Diese Texte auf der Bühne umzusetzen ist schwer. Ein anspruchsvolles Unternehmen, diesen Jelinek-Text aufzuführen – und das in einer Stunde. Ein Lob mit kleinen Einschränkungen.
Im zweiten Teil mischt Jelinek das größte Tabu, kannibalistische Elemente, ins Stück. Das lenkt ab und treibt einige Zuschauer aus dem Theater. Worum es im Stück geht, um das Alltäglichwerden des Verbrechens, das sich schon in der Sprache zeigt. Das Heimelige, heimische, die »Banalität des Bösen«, das hier als tägliche Sendung präsentiert wird. Die erschossenen Zwangsarbeiter – ihre Leichen wurden nicht gefunden. Kein Grab. Worauf wachsen die so prächtig blühenden Tulpen? Der Schluss ist fast wie der Beginn. Jemand überreicht einen Zettel. Da steht: »Man muss nichts einsehen, um nicht bestraft zu werden.« Und weiter: »Wenn Sie den Anfang verpasst haben, macht das gar nichts.«
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Mit dem rätselhaften Titel »PGH Glühende Zukunft« ist jetzt eine leider nur kleine Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zu sehen. Der Untertitel klärt auf: »Berliner Plakate aus der Zeit der Wende« (bis zum 25. August).Vier Künstler aus Ostberlin, darunter eine Frau, schlossen sich zur Gruppe zusammen, zu einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH), wie es in der DDR hieß – das war vor dreißig Jahren, kurz vor dem Mauerfall. Rechts und links in einem schmalen Flur hängen Plakate, die überraschen. Das erste: in einem offenen roten Auto, das fährt, sitzen vier Personen, verkehrt herum, sie sehen zurück – in die Vergangenheit? Auf Stacheldrahtzäune und Bewachungsturm. Das Plakat entstand erst 1998, da hatte sich die Gruppe von Anke Feuchtenberger (*1963), Detlef Beck (*1958), Holger Fickelscherer (*1966) und Henning Wagenbreth (*1963) schon aufgelöst. Ihre alte Heimat, auf diese beiden Versatzstücke des Kalten Krieges reduziert? Oder ist es 1998 schon der Einfluss westlicher Medien? Oder wollten sie genau das darstellen? Die vier Insassen des Wagens – sind es die Künstler selbst? Sie können nicht sehen, wohin die Reise geht, ihre Position – im autonom fahrenden Auto – macht es unmöglich. Sie können es nicht selbst bestimmen. Eine Arbeit, für die alle Vier verantwortlich zeichnen.
Ein großes Plakat von Wagenbreth (1990) ist deutlicher: »Radfahrer haben nichts zu verlieren als ihre Ketten!« Im Info-Text der Hinweis: »Radfahrer, das waren nach dem Mauerfall die Ostberliner, die anders als ihre neuen Mitbürger aus dem Westen, nur selten Autos besaßen.« Der Radfahrer ballt die Rechte zur Faust inmitten von Häuserschluchten und Schornsteinen. Die meisten Werke sind Theaterplakate. Der Bühnenbildner Volker Pfüller (*1939), seit 1991 Professor an der Kunsthochschule Berlin Weißensee, wo Wagenbreth und Feuchtenberger studierten, hatte großen Einfluss. Später lehrte er Illustration an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Ganz aktuell wirkt das Theaterplakat von Wagenbreth: »Der Gute Gott von Manhattan« (1992), nach dem Hörspiel von Ingeborg Bachmann. Ein Mann in Gelb, von Eichhörnchen bekrabbelt, er trägt einen Koffer, die andere Hand hält eine Waffe – Handgranate –, die gerade explodiert. Aus Hochhäusern flattern Briefe. Fragen an den Fremden: »Sie heißen? Sie sind geboren? Wann? Wo? Hautfarbe? Statur? Größe? Religiöses Bekenntnis?« Alles lange her. Aufführungen im Berliner Maxim Gorki-Theater, oft auch von Puppentheatern in Berlin und Dresden oder Westdeutschen eher unbekannte Bühnen wie das freie Theater 89 in Ostberlin tauchen in den phantastischen Plakaten wieder auf. Viele von Anke Feuchtenberger für Kinderstücke, aber auch für den Unabhängigen Frauenverband (UFV), der sich im Februar 1990 bildete – frech, weiblich selbstbewusst. Sie arbeitete genauso für das Neue Forum, ebenso Henning Wagenbreth, der das Plakat zum Gründungstreffen am 10. November 1989 schuf. In einer Vitrine ein langer Text von André Meier von 1991, der schildert, wie alles begann. Die »PGH Glühende Zukunft« ist kein Fall für die Treuhand und muss nicht um Kuchenkrümel betteln, Lobreden hat sie nicht nötig … Ausgestattet mit dem DDR-Kunstpreis, unterschrieben vom letzten Kulturminister am allerletzten Tag des Arbeiter- und Bauern-Staates, sorgt sie dafür, dass auch das Beitrittsgebiet eine visuelle Lobby hat …«
Ein Lob fürs Museum, dass es die Hamburger mit diesen Künstlern bekanntmacht (leider fehlt ein Katalog). Aber der Satz im Info-Blatt, »… konnten nach der Wende auch im Westen Fuß fassen …«, irritiert in seiner Gönnerhaftigkeit.