Weit ausholend beginnt eine Erzählung von Karl Emil Franzos, die 1883 vom Bart des Abraham Weinkäfers berichtet:
»Im südrussischen Gouvernement Podolien, an dem Schienenstrang, der Kiew mit dem Schwarzen Meer verbindet, liegt das Städtchen Winniza. Dort lebte ein jüdischer Mann, Abraham Weinkäfer mit Namen, seines Zeichens ein Glasermeister.«
An diese Geschichte musste ich denken, als die Kriegsnachrichten aus der Ukraine 140 Jahre später berichteten, dass am 14. Juli 2022 ein russischer Raketenangriff die Stadt Winnyzja getroffen und über dreißig Frauen, Männer und Kinder getötet habe. Der Journalist und Schriftsteller Franzos erzählt die Geschichte eines schrecklichen Irrtums, dem der Abraham Weinkäfer zum Opfer gefallen ist.
»Es war im Jahre 1871, und Abraham stand damals in der Mitte der Fünfzig, als eines Tages der Generalgouverneur von Podolien nach Winniza kam.«
Winniza, das Städtchen am »Schienenstrang nach Kiew«, blieb mir eingeschrieben, seit ich diese Erzählung gelesen habe. Abraham Weinkäfers Schicksal verbindet sich mir mit dem Massaker von Winnyzja, bei dem 1937/38 fast zehntausend Menschen ums Leben kamen. Später dann, im Frühjahr 1940, wurden in Katyn, Charkow und Twer, mehr als 20.000 polnische Offiziere und Beamte per Genickschuss hingerichtet. Die Massenerschießungen durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD.
Winniza oder Winnyzja, eine Stadt aus dem 14. Jahrhundert, liegt am südlichen Bug, einem Fluss, der in Galizien, in der Nähe von Lwiw (Lemberg) entspringt, an Brest und nahe Warschau vorbeifließt, um in der Weichsel zu münden. Überfälle kennen die Bewohner in Stadt und Land schon lange, seit den ungebetenen Besuchen der Tataren. Die Ukrainer waren mal polnisch, mal russisch, mal sowjetisch und sind doch ukrainisch.
Der 1848 auf russischem Boden, unweit der österreichischen Grenze, in Czortków, Gouvernement Podolien, geborene Franzos, schreibt von einem noch vergleichsweise harmlosen Willkürakt, wenn er über das Schicksal Abrahams weiter berichtet:
»Am nächsten Morgen wurde Abraham auf einem Wägelchen schwer gefesselt zur Bahnstation geführt. Ihm gegenüber saßen zwei Soldaten mit geladenem Gewehr; sein Weib und seine Kinder liefen jammernd neben dem Gefährt einher.«
Ein Irrtum kutschierte Abrahams Lebenskarren ins tragisch Absurde. Er saß inzwischen »im Gefängnis zu Petersburg. Man hatte ihm gesagt, dass er bald zum Verhör werde vorgeführt werden, aber Tag um Tag, Monat um Monat und ein Jahr verging, ohne dass sich jemand um ihn bekümmerte.« Dieser Nichts und Niemand von Abraham verkam, und als doch, wer weiß wann, nach ihm gefragt wurde, irgendeine Laune, da: »Kein Zweifel, da stand ja der Name in der Liste. Der Kerkermeister wurde geholt«, der den Abraham Weinkäfer sofort herbeibringen soll. Doch der Meister kann nur noch verlegen dastehen und stammeln: »… der Mann ist vor zwei Monaten gestorben.«
Franzos verliert kein überflüssiges Wort mehr in seiner Erzählung vom Bart des Abraham Weinkäfers, aber der Name Winniza blieb mir haften, als ich ihn vor mehr als dreißig Jahren zum ersten Mal gelesen hatte, er verband sich mit einem anderen Wort, einem Namen aus meiner Heimatstadt: Wehrwolf.
»Wehrwolf«, der Titel eines Romans von Hermann Löns, der seinen Schlagetod Wulf Harms im Wietzenbruche bei Celle wüten lässt. »Werwolf«, hieß auch das Führerhauptquartier acht Kilometer nördlich von Winniza in einem Tannenwald gelegen, Hitlers zweite »Wolfsschanze« (Ostpreußen), nur näher an die Frontlinie gerückt; Massaker auch hier, begangen von der SS, und nicht weniger Tote als keine fünf Jahre zuvor unter der Regie des NKWD.
Von der »Nähe der Gräber«, schreibt Paul Celan 1944, »nach der Rückkehr aus Kiew«, dem Gedicht aus »Sand in den Urnen«:
Kennt noch das Wasser des südlichen Bug,
Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug?
Am Südlichen Bug, im Vernichtungslager Michailowka bei der Ortschaft Gaissin (Hajssyn), wurden Friederike und Leo Antschel, die Eltern Paul Celans, ermordet. Ermordet auch die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger. Am 10. Dezember 1943 löste die Deutsche Wehrmacht das Lager auf und ermordete alle noch lebenden Häftlinge.
… und das Morden geht weiter. »W«, als ein blutgetränkter Buchstabe, steht gegenwärtig wieder für den stets drohenden Rückfall in den Krieg aller gegen alle. Eine fürchterliche Eselei, die Plautus nach wie vor gültig und kurz benannt hat: lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit (ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.). Nur, dass der Wolf damit ganz und gar nichts zu schaffen hat.