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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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w. – wie Winnyzja

Weit aus­ho­lend beginnt eine Erzäh­lung von Karl Emil Fran­zos, die 1883 vom Bart des Abra­ham Wein­kä­fers berichtet:

»Im süd­rus­si­schen Gou­ver­ne­ment Podo­li­en, an dem Schie­nen­strang, der Kiew mit dem Schwar­zen Meer ver­bin­det, liegt das Städt­chen Win­ni­za. Dort leb­te ein jüdi­scher Mann, Abra­ham Wein­kä­fer mit Namen, sei­nes Zei­chens ein Glasermeister.«

An die­se Geschich­te muss­te ich den­ken, als die Kriegs­nach­rich­ten aus der Ukrai­ne 140 Jah­re spä­ter berich­te­ten, dass am 14. Juli 2022 ein rus­si­scher Rake­ten­an­griff die Stadt Win­nyz­ja getrof­fen und über drei­ßig Frau­en, Män­ner und Kin­der getö­tet habe. Der Jour­na­list und Schrift­stel­ler Fran­zos erzählt die Geschich­te eines schreck­li­chen Irr­tums, dem der Abra­ham Wein­kä­fer zum Opfer gefal­len ist.

»Es war im Jah­re 1871, und Abra­ham stand damals in der Mit­te der Fünf­zig, als eines Tages der Gene­ral­gou­ver­neur von Podo­li­en nach Win­ni­za kam.«

Win­ni­za, das Städt­chen am »Schie­nen­strang nach Kiew«, blieb mir ein­ge­schrie­ben, seit ich die­se Erzäh­lung gele­sen habe. Abra­ham Wein­kä­fers Schick­sal ver­bin­det sich mir mit dem Mas­sa­ker von Win­nyz­ja, bei dem 1937/​38 fast zehn­tau­send Men­schen ums Leben kamen. Spä­ter dann, im Früh­jahr 1940, wur­den in Katyn, Char­kow und Twer, mehr als 20.000 pol­ni­sche Offi­zie­re und Beam­te per Genick­schuss hin­ge­rich­tet. Die Mas­sen­er­schie­ßun­gen durch den sowje­ti­schen Geheim­dienst NKWD.

Win­ni­za oder Win­nyz­ja, eine Stadt aus dem 14. Jahr­hun­dert, liegt am süd­li­chen Bug, einem Fluss, der in Gali­zi­en, in der Nähe von Lwiw (Lem­berg) ent­springt, an Brest und nahe War­schau vor­bei­fließt, um in der Weich­sel zu mün­den. Über­fäl­le ken­nen die Bewoh­ner in Stadt und Land schon lan­ge, seit den unge­be­te­nen Besu­chen der Tata­ren. Die Ukrai­ner waren mal pol­nisch, mal rus­sisch, mal sowje­tisch und sind doch ukrainisch.

Der 1848 auf rus­si­schem Boden, unweit der öster­rei­chi­schen Gren­ze, in Czort­ków, Gou­ver­ne­ment Podo­li­en, gebo­re­ne Fran­zos, schreibt von einem noch ver­gleichs­wei­se harm­lo­sen Will­kür­akt, wenn er über das Schick­sal Abra­hams wei­ter berichtet:

»Am näch­sten Mor­gen wur­de Abra­ham auf einem Wägel­chen schwer gefes­selt zur Bahn­sta­ti­on geführt. Ihm gegen­über saßen zwei Sol­da­ten mit gela­de­nem Gewehr; sein Weib und sei­ne Kin­der lie­fen jam­mernd neben dem Gefährt einher.«

Ein Irr­tum kut­schier­te Abra­hams Lebens­kar­ren ins tra­gisch Absur­de. Er saß inzwi­schen »im Gefäng­nis zu Peters­burg. Man hat­te ihm gesagt, dass er bald zum Ver­hör wer­de vor­ge­führt wer­den, aber Tag um Tag, Monat um Monat und ein Jahr ver­ging, ohne dass sich jemand um ihn beküm­mer­te.« Die­ser Nichts und Nie­mand von Abra­ham ver­kam, und als doch, wer weiß wann, nach ihm gefragt wur­de, irgend­ei­ne Lau­ne, da: »Kein Zwei­fel, da stand ja der Name in der Liste. Der Ker­ker­mei­ster wur­de geholt«, der den Abra­ham Wein­kä­fer sofort her­bei­brin­gen soll. Doch der Mei­ster kann nur noch ver­le­gen daste­hen und stam­meln: »… der Mann ist vor zwei Mona­ten gestor­ben.«

Fran­zos ver­liert kein über­flüs­si­ges Wort mehr in sei­ner Erzäh­lung vom Bart des Abra­ham Wein­kä­fers, aber der Name Win­ni­za blieb mir haf­ten, als ich ihn vor mehr als drei­ßig Jah­ren zum ersten Mal gele­sen hat­te, er ver­band sich mit einem ande­ren Wort, einem Namen aus mei­ner Hei­mat­stadt: Wehrwolf.

»Wehr­wolf«, der Titel eines Romans von Her­mann Löns, der sei­nen Schla­ge­tod Wulf Harms im Wiet­zen­bru­che bei Cel­le wüten lässt. »Wer­wolf«, hieß auch das Füh­rer­haupt­quar­tier acht Kilo­me­ter nörd­lich von Win­ni­za in einem Tan­nen­wald gele­gen, Hit­lers zwei­te »Wolfs­schan­ze« (Ost­preu­ßen), nur näher an die Front­li­nie gerückt; Mas­sa­ker auch hier, began­gen von der SS, und nicht weni­ger Tote als kei­ne fünf Jah­re zuvor unter der Regie des NKWD.

Von der »Nähe der Grä­ber«, schreibt Paul Celan 1944, »nach der Rück­kehr aus Kiew«, dem Gedicht aus »Sand in den Urnen«:

Kennt noch das Was­ser des süd­li­chen Bug,

Mut­ter, die Wel­le, die Wun­den dir schlug?

Am Süd­li­chen Bug, im Ver­nich­tungs­la­ger Michai­low­ka bei der Ort­schaft Gais­sin (Hajs­syn), wur­den Frie­de­ri­ke und Leo Ant­schel, die Eltern Paul Cel­ans, ermor­det. Ermor­det auch die Dich­te­rin Sel­ma Meer­baum-Eisin­ger. Am 10. Dezem­ber 1943 löste die Deut­sche Wehr­macht das Lager auf und ermor­de­te alle noch leben­den Häftlinge.

… und das Mor­den geht wei­ter. »W«, als ein blut­ge­tränk­ter Buch­sta­be, steht gegen­wär­tig wie­der für den stets dro­hen­den Rück­fall in den Krieg aller gegen alle. Eine fürch­ter­li­che Ese­lei, die Plau­tus nach wie vor gül­tig und kurz benannt hat: lupus est homo homi­ni, non homo, quom qua­lis sit non novit (ein Wolf ist der Mensch dem Men­schen, kein Mensch, solan­ge er nicht weiß, wel­cher Art der ande­re ist.). Nur, dass der Wolf damit ganz und gar nichts zu schaf­fen hat.