In der Regel wird ein »Vaterland« hergestellt durch staatliche Macht über ein Territorium und dessen Bewohner, letztere auch Volk genannt. Der Staatsangehörigkeiten verleihende Begriff der Nation stiftet eine Identität von Staat und Volk, von Regierenden und Gefolgschaft. Die Ausgestaltung dieses mit Einigkeit, Recht und Freiheit vollzogenen Zusammenschlusses durch eine föderale Staatsstruktur setzt voraus, dass teilsouveräne Länder/Distrikte ihre Macht nur im Rahmen des vom großen Ganzen Erlaubten ausüben.
Analog dazu verhält es sich außerhalb nationaler Demarkationslinien bei zahlreichen »Einflussgebieten«, »Hinterhöfen« und »Vorgärten«. Sie sind zwar formal eigenständig, aber für ihr Handeln ist/wäre de facto das Placet eines mächtigen (benachbarten) Souveräns entscheidend (wie z. B. beim Verhältnis von Allendes Chile zu den USA, Tibet und Taiwan zu China und der Ukraine zu Russland). Für die deutsche Öffentlichkeit scheiden sich weniger souveräne Staaten in solche, die ihre Dienstbarkeit realistisch hinzunehmen – »das geht schon in Ordnung« –, und andere, die das Ideal nationaler Selbstbestimmung unbedingt und mit allen Mitteln zu verwirklichen haben, denn damit »kämpfen sie für uns«. Damit, staatlich unabhängig zu werden, mit Sezession, ist es halt so eine Sache; einerseits gehört sie sich nicht, andererseits ist sie als Wahrnehmung eines Völkerrechts unterstützenswert.
Der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des Ostblocks eröffneten dem Westblock die Chance, die nun selbständigen Staaten mit einer Transformation zu beglücken, deren Sprengkraft keinen ökonomischen Baustein auf dem anderen ließ. Neben Russland galt und gilt das auch für Jugoslawien bzw. seine Abspaltungen sowie die Ukraine. In Jugoslawien habe, so die Kurzfassung gängiger Zeitgeschichtsschreibung, eine »ethnische Zentrifugalkraft« »Gewaltspiralen« ausgelöst, die nur ein westliches humanitäres Eingreifen habe stoppen können.
Auf jeden Fall aber zeitigte die Hilfe den vom Westen erstrebten Erfolg: Zähmung der Widerspenstigen, divide et impera; die Republik Jugoslawien wurde in miteinander verfeindete und sich wechselseitig schädigende Kleinstaaten zerlegt, denen eines gemeinsam ist: Zu ihrem je eigenen Besten haben sie die Direktiven der EU, der USA und somit auch des IWF und der Nato, ohne Wenn und Aber auszuführen. Damit ist das vormalige Ärgernis einer Sowohl-als-auch-Wirtschaftspolitik der sich als blockfrei verstehenden jugoslawischen Republik auf dem Wertstoffhof gerechter und lohnender Kriege entsorgt. Schon zu Zeiten der Föderation versuchten sich deren Mitglieder daran, mit Schuldenmachen im Westen und beim IWF ihre Ökonomien zu beflügeln, während sie mit Missbilligung des Westens ihre jeweiligen Rollen im Rat für gegenseitige Wirtschaftsbeziehungen (RGW) weiterhin wahrnahmen. Als dieser gottlob zusammenbrach, hatte der westliche Bedarf an Handel und vor allem Wandel die Ziele und Organisation von Produktion schon geprägt – nur jetzt umso nachdrücklicher; die Fragen, wer (Staat, Privateigentum, ausländisches Kapital?) was (Konsumgüter, Teilfertigungsprodukte für Export?) wie, für wen und zu welchem (nun weltmarkt-tauglichen?) Preis anfertigt, wurden und werden nun von den westlichen Interessenten an der Konkursmasse den jetzt Vereinzelten und frühere Kompensationsmöglichkeiten Entbehrenden mit neuer Durchschlagskraft gestellt. Das Ergebnis entsprechender Zurichtungen, zu denen sich die Steuerer der neuen Staaten sukzessive verstanden haben, kann man mit Michael Parenti als »die Schaffung einer Dritten Welt in Europa« bezeichnen.
Einen Vorgarten, der aktuell umstritten ist und deshalb mit Schwertern umgepflügt werden muss, bis auf Zerstörung Neuschöpfung, Auferstehen aus Ruinen folgt, stellt die Ukraine dar. Gegen den Widerstand des Großgärtners Putin berechtigt sie ihr Austritt aus der Sowjetunion zum Kampf für die Heimholung abtrünniger und geraubter Gebiete. Das Vorhaben ist deshalb von Strahlkraft, weil sich sein Staat mit Haut und Haar und tödlicher Opferbereitschaft der Erledigung des Reichs des Bösen verschrieben hat. Was unter der Feldherrnschaft Selenskyjs bis auf weiteres und nach Maßgabe westlicher Großgärtner funktioniert, ist sein Krieg. Der sonstige, schon vor dem Krieg bewerkstelligte Zustand des Landes ist der eines Scheiterns. Auch wenn sie angesichts der »Lage« zurzeit für irrelevant erklärt werden, seien hier drei Symptome herausgegriffen.
Faschisierung: Der Staat passt seine Form seinen Herrschaftserfordernissen an – wenn es sein muss, unter Anverwandlung von Zielen, die Faschisten befürworten und wie in Spanien unter/nach Franco und in Griechenland unter der »Junta« auch verfolg(t)en – und greift faschistisch inspirierte Meinungstrends auf (zum Glück gibt es dagegen bei uns eine »Brandmauer«). Will heißen: Im Unterschied zu Putins Russland, das faschistisch zu nennen dem Aussprechen einer Wahrheit gleichkommt, ist die Ukraine tatsächlich kein faschistischer Staat, sondern ein demokratischer, der in seiner Not auch das bereitwillige Kanonenfutter faschistischer Kämpfer nicht verschmäht. Wichtig ist hier, dass der »Asow«-Patriotismus nun einmal nicht zu übertreffen ist – und welcher Staat möchte schon auf eine solche Hingabe verzichten? Für sie taugt die Inklusion auch nicht lupenreiner Demokraten allemal. Eine Bewusstseinsfaschisierung, die dem Appell aufgestellter Bandera-Statuen mit dem Aufspüren lebensunwerter Leben folgt, wird vom Gros westlicher Beobachter als Makel registriert, der wegen der Not, in der die Ukraine nicht wählerisch sein kann, jetzt nicht befassenswert sein kann.
Korruption/Oligarchentum: Wie in Russland (wo gemäß der immer doppelten, das heißt zweiseitigen moralischen Münze auch ein Yukos-Oligarch dadurch zum freien Unternehmer mutieren kann, dass Putin gegen ihn vorgeht) und bei den Jugoslawien-Nachfolgern ermöglichten zuerst einmal an Jelzin erinnernde ökonomische Öffnungen eine Kohabitation von prädestinierten Nomenklatura-Schichten, die nun, wie »in Wildwest«, über Produktionsmittel geboten bzw. sich von diesen noch mehr aneignen konnten, und von auswärtigen Kapitalen. Dann jedoch legte im Interesse letzterer die westliche maßgebliche Bewertung, die »kickbacks« und »cum-ex« aus eigener Praxis kennt, den Finger in die einfach zu tiefe und chaotische ukrainische Korruptionswunde. Dekretiert wurde, einem nach eigenem, unberechenbarem Gutdünken schaltenden Oligarchentum sei das Handwerk zu legen, so die Ukraine EU-fähig werden wolle. Dem Ukas, gefälligst »best practices« zu übernehmen, kam Selenskyj denn auch schrittweise mit Entmachtung und Zurückdrängung von Seilschaften nach, und mit der Erlaubnis an das Ausland, ukrainischen Boden zu erwerben, genügte er auch einem Punkt ganz oben auf der westlichen Wunschliste: freie Bahn für wirklich freie Unternehmen, deren potente Herkunft effektiveres Wirtschaften verbürgt.
Verelendung: Die Mehrheit der die »vibrant society« der stolzen Ukraine Stellenden wurde nach westlicher und vom Patienten willkommen geheißener Schockbehandlung in ein augenfälliges Elend gestürzt. Dessen »Hungerlöhne«, »Überflüssigmachung«, »brain drain«, »Heimatflucht«, »Kollaps gesellschaftlicher Fürsorge», oft falsch als Versündigung des Staats gegen ein Ideal von Verteilungsgerechtigkeit gebrandmarkt, entspringen seiner Garantie der Ausführung von Verwertungserfordernissen. Hat erst der aktuelle vaterländische Krieg das Überleben der Nation gesichert, so muss das Elend im Frieden seinen wiederaufbauenden Geschäftsgang gehen.
Voltaires Candide meinte es zwar anders – »il faut cultiver notre jardin« –, aber die imperiale Leitkultur nimmt sich ihrer Vorgärten durchaus an – wie nur sie es kann. Für das Entstehen »blühender Landschaften« müssen die Gärtnergesellen einstweilen eben noch ins Gras beißen.