Das kleine globalisierungskritische Filmfestival »Globale« in Leipzig machte am 19. August Schlagzeilen. Weit über Leipzig hinaus. Die FAZ, die Welt, der Westdeutsche Rundfunk – sie alle berichteten aufgeregt über einen vorgeblichen Skandal.
Am 18. August war im Rahmen des Festivals Oliver Stones Film »Ukraine on Fire« aus dem Jahr 2016 gezeigt worden. Ein auch die Vorgeschichte erzählender Film über die Maidan-Proteste, über die Ereignisse in Kiew, auf der Krim und im Donbass im Winter 2013/14. Die zentrale Aussage des Films von Oliver Stone: Der Machtwechsel in Kiew war ein Staatsstreich gegen die Regierung von Wiktor Janukowytsch, bei dem die USA (unterstützt von der EU) die Fäden zog – versteckt hinter amerikanischen Stiftungen wie dem »National Endowment for Democracy«.
Noch im Vorfeld der Filmvorführung gab es Kritik. Der Film unterstütze die Position Putins, er sei Kreml-Propaganda. Prompt distanzierte sich die Stadt Leipzig, die das Festival finanziell unterstützt, vom Inhalt des Films. Der Film dürfe aber gezeigt werden, so wurde verlautbart, man respektiere schließlich die Kunstfreiheit. Ein Statement, das die Kritiker nur wütender machte. Denn »die wesentliche Frage ist nicht, ob etwas gezeigt werden kann, sondern ob die Stadt Leipzig und andere Institutionen solche anti-demokratischen Inhalte finanziell und ideell fördern«.
Bei der Vorführung selbst kam es zu Handgreiflichkeiten. Sechs Mitglieder der deutsch-ukrainischen Künstlergruppe Ostov-Collective störten mit lautem Getrommel. Dann versuchten sie, dem Moderator das Mikrofon zu klauen.
Am nächsten Tag schrieb die FAZ: »Mit Verweis auf die Kunstfreiheit macht es sich die Stadt sehr leicht. Sie hätte spätestens mit Bekanntwerden der Kritik an der Veranstaltung überprüfen müssen, was dort gezeigt wird. Es geht nicht um Zensur, aber um die Kontrolle dessen, was mit Steuergeldern gefördert wird.«
Die Organisation »Brot für die Welt«, die das jährliche Festival mit kritischen Filmen zur industrialisierten Landwirtschaft, zum Klimawandel oder der imperialen Rolle der USA in Südamerika regelmäßig mitfinanzierte, ließ auf Twitter verlauten, dass man die künftige Förderung des Festivals in Frage stelle. Und die Stadt Leipzig will den Verlauf des diesjährigen Festivals bei der Mittelvergabe für 2023 berücksichtigen.
Warum dieser Vorfall hier so ausführlich erzählt wird? Weil er ein Schlaglicht wirft auf den Zustand unserer Demokratie. Weil er exemplarisch ist für die zunehmend aggressive Verfolgung »falscher« Meinungen in Zeiten von Corona, Krieg und Zukunftsangst. Zensur findet statt. Zum Beispiel durch die ideologischen Kontrolleure und Zuchtmeister in den staatstreuen öffentlich-rechtlichen Medien. Sie jagen »Abweichler«, produzieren Feindbilder, fordern Konformität im Sinne der »Staatsräson«, rufen nach »Maßnahmen«. Die Krise der Meinungsfreiheit, die Verengung der Debattenräume durch Anklage- und Einschüchterungsstrategien, die grassierende Gegenaufklärung – das alles bedeutet vielleicht die größte Gefährdung für unsere Zukunft.
Wir leben inmitten von zahlreichen »Krisen und Kampfzonen«. Es drohen »gesellschaftliche Verwerfungen«. Eine Formulierung, die sonst nicht zu meinem aktiven Wortschatz gehört. Aber die vielleicht näher dran ist an der Lebenssituation und der Angst der Menschen. Und mit der auch die verbalen Bürgerkriege inmitten der Krisen erfasst werden.
Der neoliberale Irrsinn; Corona und der Abbau der Bürgerrechte; der immer deutlichere Zusammenbruch der Pflege; der Krieg, der Krieg nach dem Krieg, die Inflation, die extrem steigenden Energiekosten, Ergebnis eines sinnlosen Sanktions-Machtspiels auf dem Rücken der Bevölkerungen; Millionen Flüchtlinge weltweit, die jahrelang in Lagern leben oder in Meeren ertrinken; extremer Hunger in großen Teilen der Welt; populistische Nationalradikale in Regierungen. Und immer lauter, immer tonangebender die Sprache der Gewalt. Auch im Kampf der Minderheiten untereinander. Minderheiten, mit deren sehr spezifischen Problemen und Forderungen ich mich in der Dauerkrise eigentlich nicht auch noch beschäftigen möchte. Und doch besteht eine Gesellschaft aus Minderheiten, aus Individuen, aus Kranken, Gesunden, Männern, Frauen, Diversen, aus Kindern und Hundertjährigen. Und jeder scheint momentan auf der Suche nach einer Zugehörigkeit, nach einer Heimat, nach Sicherheit. Sie alle wollen gesehen und beschützt werden. Sehr viele fühlen sich heimatlos, ohnmächtig, vergessen, an den Rand gedrängt. Doch während die Aktivisten laut und hemmungslos die gesellschaftliche Bühne besetzen, können sich die Armen, die Kranken, die Alten nicht bemerkbar machen. Schlimmer noch – sie werden zu Kollateralschäden auf den militärischen und gesellschaftlichen Schlachtfeldern.
Rettet uns vielleicht die große wunderbare Digitalisierung? Wie wir sehen, tut sie es nicht. Im Gegenteil. Sie entfernt Menschen von Menschen, sie überwacht die Menschen, sie ersetzt persönliche Hilfe durch Telefonwarteschleifen oder Online-Formulare. Digitale Hilfsmittel für die laufende Selektion der Menschen nach ihrer Verwertbarkeit für den großen Markt der Märkte.
Die massenhafte Verarmung schreitet voran, aber Vonovia, die börsennotierte Wohnungsinhaberin, will mit einer Erhöhung der Mietpreise reagieren; das Gesundheitswesen lässt man weiter verelenden, dafür werden die Kassenprämien erhöht; die EU und die USA retten mit Milliarden und Abermilliarden die Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie, dafür werden im Bundeshaushalt 2023 die Mittel für Langzeitarbeitslose gekürzt.
Dieses Heft widmet sich nicht jeder einzelnen Krise oder Kampfzone. Das wäre nicht möglich gewesen, aber es ist auch nicht notwendig. Ossietzky veröffentlicht Ausgabe für Ausgabe, Schritt für Schritt Texte zu den drängenden Fragen, Texte über die Krisen – und sucht nach Antworten oder Lösungen.
Selbstverständlich geht es in diesem Heft auch um Corona oder den Krieg in der Ukraine, um Armut und Klima. Einen wichtigen Raum nimmt das schon oben genannte Thema ein, das mit allen Krisen im Zusammenhang steht, und für die Frage, ob wir Lösungen finden, ob wir doch noch zu einer gerechteren, sozialeren, friedlichen Welt finden werden, von entscheidender Bedeutung ist: Die Vergiftung des Diskursraumes, das alltägliche Geschrei, der Hass, jeder gegen jeden; die medialen Menschenjagden auf die, die sich gegen den Mainstream stellen, die Fragen haben und Zweifel, die Frieden wollen und keinen Krieg.
Besser können wir »den Herrschenden« nicht dienen. Während sich das Volk gegenseitig die Köpfe einschlägt, sich belauert, denunziert, per Shitstorm jagt, können sie in Ruhe ihre schlechte Politik verfolgen.
Daran können wir sie nur gemeinsam hindern.