Demokratie! in deiner Nähe schwillt nun eine Kehle und singt freudig,
Ma femme! für die Brut nach uns und aus uns,
Für jene, die hier weilen und die noch kommen werden.
Für dich von mir dies, O Demokratie, dir zu dienen, ma femme!
Für dich, für dich zwitschere ich diese Lieder.
(Aus: Walt Whitman, »Grasblätter«, übertragen von Jürgen Brôcan)
Fast 60 Jahre ist es her, dass Günter Grass erstmals seine Stimme für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, für Willy Brandt und dessen Politikangebot und gegen Konrad Adenauer und den verkrusteten CDU-Staat erhob. Damals startete der Schriftsteller seine berühmt gewordene Redereise durch die Bundesrepublik, für die er Walt Whitmans Hymnus in eine klare, griffige Formel goss: »Dich singe ich, Demokratie: Es steht zur Wahl.«
Das war 1965. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, dümpelt ebendiese Sozialdemokratische Partei wie in windstillem Wasser in aktuellen Meinungsumfragen deutlich hinter der CDU her und in einigen Umfragen sogar hinter der AfD, mit zwei Vorsitzenden (m/w), deren Namen das Gros des Wahlvolks wohl kaum buchstabieren kann. Zwar stimmt immer noch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in den Lobgesang auf die Demokratie ein, aber es sind deutlich weniger geworden. Misstöne haben sich eingeschlichen, und die Strahlkraft scheint verblasst. Und das nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Eine internationale rechte »Wertegemeinschaft« hat sich herausgebildet.
Die Demokratie war das große Versprechen des Grundgesetzes, mit Menschenrechten die Menschen vor der Barbarei zu schützen. Der Parlamentarische Rat verkündete das Grundgesetz am 23. Mai 1949 und damit 101 Jahre nach der Verabschiedung der Paulskirchenverfassung, der ersten deutschlandweiten Verfassung. Einen Tag später trat das Grundgesetz in Kraft und gilt bis heute. »Das deutsche Volk« habe sich dieses Gesetz »kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt«, »im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen« gegeben, heißt es dazu in der Präambel. Die wichtigsten Regeln für den Staat, für unser Zusammenleben und für jeglichen gesellschaftspolitischen Diskurs waren damit vorgegeben, zunächst jedoch nur als Provisorium für die westlichen Besatzungszonen. Erst als am 3. Oktober 1990 um 0:00 Uhr der Einigungsvertrag in Kraft trat, galt das Grundgesetz für ganz Deutschland und somit auch für Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und ganz Berlin.
Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Freiheit der Person, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Verbot der Diskriminierung, die Glaubens-, Bekenntnis-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit: Das gilt jetzt für alle. Zumindest auf dem Papier, antworten die Kritiker.
Höchste Zeit also, sagte sich der Schriftsteller und Jurist Georg M. Oswald, um das Grundgesetz auf den Prüfstand zu stellen. Immerhin leben wir 70 Jahre nach seiner Verkündung in einer ganz anderen Welt.
Oswald lud 38 Autorinnen und Autoren ein, in literarischen Essays den aktuellen Meinungsstand darzustellen, »die Verfassung für unsere Zeit neu zu erklären, anhand von Erzählungen und Erfahrungen, juristisch abwägend und gerne auch schräg von außen blickend«: feuilletonistisch-pointiert, subjektiv, persönlich.
Der Einladung folgten Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Lars Brandt, Julia Franck, Anna Katharina Hahn, Michael Krüger, Sibylle Lewitscharoff, Eva Menasse, Terézia Mora, Martin Mosebach, Herta Müller, Karl-Heinz Ott, Hans Pleschinski und Feridun Zaimoglu. Mit dabei sind mehrere namhafte Journalistinnen und Journalisten sowie bekannte Juristen wie Andreas Voßkuhle, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Udo Di Fabio, vormals Richter am Bundesverfassungsgericht.
Susanne Baer, Richterin des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, nimmt sich als erste Autorin die Präambel vor, die »guten Vorsätze«. Wie würde man sie heute abfassen? Noch mit der Formulierung vom »gesamten deutschen Volk«, mit dem Bezug auf die »Verantwortung vor Gott« in einer weitgehend säkularen Gesellschaft, mit dem Wunsch, ein »gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa« zu sein und als solches »dem Frieden der Welt« zu dienen? Baers Resümee wendet sich direkt an die Leserinnen und Leser: »Kompliziert. Anstrengend, sich zu einigen auf einen Vorspruch zu dem, was in einer Gesellschaft gelten soll, was wir uns versprechen. (…) Die Präambel – sie stellt aktuell auch für Sie die Frage: Wer spricht für wen, wovon gehen wir aus, wohin wollen wir? Was also wollen Sie, mit und für uns?«
Meine Empfehlung: Nehmen Sie sich doch einmal die Präambel vor. Was würden Sie anders oder neu formulieren?
Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009, eröffnet die Reihe der Kommentare mit ihrem Essay zu Artikel 1, dem Schutz der Menschenwürde. 1949 habe dieser Artikel »für mehr als nur für den Beginn einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft gestanden«, mit dem Begriff Würde sollte die Ablehnung jeder Diktatur deutlich ausgesprochen werden. »Das Wort Würde selbst erteilte den Institutionen der neuen Demokratie den Auftrag, die Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus in der Gesetzgebung und im Alltag der Behörden zu beseitigen.« Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ließ den Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« an der Fassade des Gebäudes der Staatsanwaltschaft anbringen – und musste selbst schon bald erleben, wie seine eigene Würde angetastet wurde und an den »Hinterlassenen« des Nationalsozialismus in den Behörden Artikel 1 des Grundgesetzes scheiterte. Die Würde von Menschen blieb im Nachkriegsdeutschland antastbar: die Würde der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der aus dem Exil Zurückgekehrten. Ja sogar die Würde der Frauen: Erst 1969 wurde eine verheiratete Frau als geschäftsfähig angesehen.
Herta Müller kam in Rumänien zur Welt und hat lange Zeit »die Demokratie in Westeuropa nur aus der Ferne gesehen«. Eindringlich daher die Schilderung ihres Lebens über dreieinhalb Jahrzehnte – 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen – in einem Land, das keine Verfassung hat mit einem Artikel 1, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt. Und das keine Freizügigkeit kennt.
»Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.« Die am 13. Mai dieses Jahres verstorbene Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff hatte sich Artikel 11 GG vorgenommen. Mit Freizügigkeit ist hier nicht das gemeint, was sich an lauen Sommerabenden an Amors Gestaden abspielen mag, sondern dass Staatsbürger ihre Wohn- und Aufenthaltsorte frei wechseln können. Ein Recht, dass über Jahrhunderte hinweg in allen europäischen Ländern für große Bevölkerungsteile eingeschränkt war, es sei denn, man war »vogelfrei«. Und da dies ein literarischer Essay ist, gibt es einen Abstecher zu der Novelle Die drei gerechten Kammmacher von Gottfried Keller, einer Geschichte über fahrende Gesellen (Stichwort: Freizügigkeit), die an ein Handwerkerehepaar geraten, das sie über Strich und Faden ausnutzt. Auch tritt der schwäbische Dichter Christian Friedrich Schubart auf, der sich in der weiten Welt umsehen will und daher in heimlichen Nächten Landesgrenzen überquert, ohne Genehmigung, ohne Papiere. Zum Schluss kommt Lewitscharoff wie schon Herta Müller auf die eigene Familie zurück. Ihr Vater war Bulgare, der ab 1936 in Wien und Tübingen Medizin studiert hatte, »durch und durch ein Feind der Diktatoren«. Nach Kriegsende, er war noch unverheiratet, ging er nach Sofia zurück, wohnte bei einer Tante, die einen jungen, schwerverletzten deutschen Soldaten pflegte wie ihren eigenen im Krieg gefallenen Sohn. Sie wurde verraten, bewaffnete Männer stürmten die Wohnung, erschossen den Feind in Uniform, nahmen Tante und Neffen gefangen. Ab ins Gefängnis, aus dem der junge Mann später gemeinsam mit einem anderen Insassen fliehen konnte. Lewitscharoff schildert, wie das folgende Exil und später die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und damit der Verlust der Freizügigkeit den Vater bis ans Lebensende bedrückten.
Weiter zu Eva Menasse, die sich Artikel 10 vorgenommen hat: »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.« Und wieder wird es zuerst literarisch, mit einem Liebesbrief, den die tschechische Journalistin Milena Jesenská 1938 geschrieben hat und der heute, abgedruckt in einem Buch, zu lesen steht. Klar, Briefe müssen in der Regel vor der Veröffentlichung freigegeben werden. »Aber in welcher Beziehung steht das eigentlich zum gesetzlich geschützten Briefgeheimnis«, sind Briefe doch »notierte Zwiegespräche, auf Papier gebannte, verstofflichte Privatsphäre«? Und wie ist es heute, da »digitalisierte Kommunikation fatale Illusionen von Gleichzeitigkeit und Nähe erzeugt«? Menasse: »Ich würde so weit gehen zu sagen, dass das gute alte Briefgeheimnis in der digitalen Welt längst weitgehend außer Kraft gesetzt ist.« Milena Jesenská übrigens wurde Jahrzehnte später berühmt, weil sie alle an sie gerichteten Briefe Kafkas aufbewahrt und »den richtigen Menschen übergeben hat, als sich die Schlinge der Nazis zuzog«. Die Kommunistin und Widerstandskämpferin starb im Mai 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück.
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Dich singe ich, Demokratie. Wir alle stehen »vor dem Gesetz«, jedoch befinden wir uns nicht in derselben Situation wie der »Mann vom Lande« in Kafkas Parabel, eine Metapher, auf die einige Autoren zurückgreifen. Wir müssen nicht einen Türhüter um Eintritt bitten, wir dürfen durch das Tor, wir dürfen zum Gesetz, wir dürfen uns auf das Grundgesetz berufen und damit auf die Grundlage unserer Demokratie. Allerdings, an der Lebensweisheit, dass man »vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand« ist, ist ebenso etwas dran wie an der Spruchweisheit, dass man vor Gericht drei Säcke brauche: einen mit Papier, einen mit Geld und einen mit Geduld. Der Kabarettist Dieter Hildebrandt hieb in dieselbe Kerbe, als er spottete, es helfe nichts, wenn man das Recht auf seiner Seite habe, aber nicht mit der Justiz rechne.
Dennoch, dieses Kompendium mit seinen erhellenden und vergnüglichen Kommentaren zum Grundgesetz beschreibt trotz aller kritischen Anmerkungen eine Erfolgsgeschichte: die unserer Demokratie. Daher dürfen wir uns nicht damit zufriedengeben, dass wir das Recht haben, »vor dem Gesetz« zu stehen. Wir müssen uns vor das Gesetz stellen und die Demokratie verteidigen, wo und wann immer sie gefährdet ist.
Georg M. Oswald (Hrsg.): Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar, C.H. Beck, München, 2022, 381 S., 25 €.