Zum Abschluss meiner gymnasialen Schulzeit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts erwachte meine Liebe zum Kabarett. Sie brannte mein Leben lang, und über viele Jahrzehnte war ich ihr regelrecht verfallen. Es gab Kabarettisten, die ich verehrte, vor allem Dieter Hildebrandt und Dietrich Kittner, die ich beide kennenlernen und zu denen ich eine freundschaftliche Beziehung aufbauen konnte. Aber auch vielen ihrer Vorgänger und Zeitgenossen galt meine Bewunderung, und intensiv verfolgte ich auch die Entwicklung der »Kleinkunst« in der DDR mit seinen herausragenden Vertretern wie zum Beispiel Peter Ensikat und Rainer Otto. Die Programme erstklassiger Ensembles wie etwa der Münchner Lach- und Schießgesellschaft oder des Düsseldorfer Kom(m)ödchens im Westen beziehungsweise der Dresdener Herkuleskeule und der Leipziger Pfeffermühle im Osten verfolgte ich mit größtem Interesse.
TV-Übertragungen von Kabarett-Veranstaltungen anzuschauen, das war ein Muss, ebenso Hildebrandts Kabarett-Sendungen »Notizen aus der Provinz« und »Scheibenwischer«. Die Kabarett-Programme an Silvester waren eine besondere Freude. Unvergessen, als Hildebrandt rotzfrech sein Solo über Mitternacht hinaus vortrug und später, als das neue Jahr bereits seit einigen Minuten begonnen hatte, mit unschuldig-verschmitzter Miene verkündete: »Ach du liebe Zeit, wir haben ja verpasst, genau um null Uhr auf das neue Jahr anzustoßen. Nun gut, dann holen wir das jetzt halt nach!«
Viele Glanznummern, die Hildebrandt und Co. auf der Bühne oder Kittner und andere als satirische Aktionen auch im politischen Alltag präsentierten, blieben nachhaltig in Erinnerung. Man kann sie nachlesen in den verschiedenen Kabarettgeschichten und nachschauen im Mainzer Kabarettarchiv. Ich bewunderte den Mut von Werner Finck, der in der NS-Zeit das diktatorische Regime mit einer einzigen Frage entlarvte, mit der er sich während einer Vorstellung an die anwesenden Gestapo-Spitzel wandte: »Kommen Sie mit oder muss ich mitkommen?« Großartig war, wie Dieter Hildebrandt mit seinem Vortrag »Helmut Kohl spricht Matthias Claudius« den damaligen Bundeskanzler vorführte, und geradezu umwerfend war das Märchen, mit dem Dietrich Kittner als Sandmännchen das kapitalistische System der BRD bloßstellte: »In einer Stadt lebte einst ein Mann, der hat es allein durch seiner Hände Arbeit zu großem Reichtum gebracht. Und morgen, liebe Kinder, erzähle ich euch ein anderes Märchen.«
1995 brachten die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik einen Band zum Thema »Kabarett in Deutschland« heraus, mit dem diese Gattung von Experten mit seiner Geschichte und in seiner aktuellen Präsentation vorgestellt wurde. Dietrich Kittner legte dar, dass Kabarett kein billiger Amüsierbetrieb sein darf: »Denn Kabarett – mit K und Doppel-T – ist mehr: Lust zum Aufdecken von Zusammenhängen, immer etwas über die Grenzen der offiziellen Meinungsfreiheit hinaus.« Leidenschaftlich forderte er das Kabarett dazu auf, die Menschen kritischer zu machen: »Es gilt, sie zu bewegen, Begriffe abzuklopfen, die bisher selbstverständlich hingenommen wurden; sie dazu zu bringen, sich zu überlegen, ob man es wirklich Demokratie nennen kann, wenn die Deutsche Bank regiert, die keiner gewählt hat, die keiner abwählen kann, die sich keiner Wahl stellt, und die dennoch mehr Macht ausübt als alle parlamentarischen Gremien zusammengenommen.« In einem Interview mit dem Mannheimer Morgen (vom 31.12.2024) hat Urban Priol jüngst festgehalten, dass auch kritisches Kabarett nie seinen Unterhaltungsauftrag vergessen sollte. Das ist richtig. Freilich muss das Kabarett seine Zuschauer zum Lachen bringen, aber die Menschen sollen gezielt zum Lachen gebracht werden, und mit diesem soll eine Erkenntnisvermittlung verbunden sein. »Wenn Kabarett seinem Publikum Mitdenken abverlangt und ihm damit ein Vergnügen bereitet«, so Kittner, »wird es nicht totzukriegen sein.«
Lediglich ein Beitrag aus dem horen-Band Nr. 177 fiel aus dem Rahmen, nämlich der des Schriftstellers Eckhard Henscheid mit der Überschrift »Literatur vs. Kabarett X:0. Nahezu persönliche Anmerkungen zu einer recht obsoleten, ja ziemlich steindummen Gattung.« Ich muss sagen, dass ich mich seinerzeit maßlos über ihn erregt habe, denn ich fand es bösartig und absolut ungerecht, wie Henscheid über »dieses Gesocks« lästerte, »das sich für etwas Geld noch vor jede TV-Linse hockt«. Heftig polemisierte er gegen diesen Stand, der »sein verbales Gehampel, sein deprimierendes Doppelsinn- und Wortspielgekasper, seine kracherbsenscharfen Schüsse aus der Wortkanone« abfeuert, »dies prototypisch kabarettistisch Knallköpfige und gleichzeitig Kotzbrockige, blindlingisch allzeit bejubelt von einem jämmerlichen, scheints noch mit jeder Zustimmung zufriedenen Stammpublikum und emphatischer noch von sich selber und dem eigenen Stamm, diesen im steten Namenwechsel ewiggleichen Witz- und Abgreifer- und Absahnerfiguren eines gottverlassenen Gratisweltgeists und ---«. Der Satz bricht ab, und Henscheid fasst seine Attacke später in dem Satz zusammen: »Sie wissen nichts, sie kennen nichts, sie haben nichts gelernt.«
Über diese maßlose Polemik habe ich mich damals geärgert, und heute, dreißig Jahre später, stimme ich ihr zu. Allerdings mit einer entscheidenden Änderung. Diese betrifft das Zielobjekt. Dieses durfte und darf nämlich nicht das scharfzüngige Kabarett sein, sondern es gilt für das seichte Cabaret, das man heute permanent und nahezu ausnahmslos präsentiert bekommt. Das politische Kabarett ist fast ausgestorben so wie viele seiner erstklassigen Ensembles aus der Nachkriegszeit. Doch halt, kommt jetzt sicherlich der Einwand, es gibt noch scharfzüngige politische Kabarettisten, die man im TV sehen kann, wie zum Beispiel Jan Böhmermann. Und im ZDF sammelt die »heute-Show« die peinlichen Ausrutscher der Spitzenpolitiker, und »Die Anstalt« arbeitet stets ein Schwerpunkt-Thema satirisch auf. Allerdings wurde der Sendung »Neues aus der Anstalt« bei ihrem Wechsel zur »Anstalt« ein neues Konzept verpasst, und sie wurde mit Comedy erweitert. Und wenn Max Uthoff als Sir Isaac Newton gravitätisch über die Bühne stolziert und hochtrabend doziert, reißt er sicherlich nur die Zuschauer vom Hocker, die es lieben, in einer alternativen Wissenschafts-Sendung belehrt zu werden. Bleibt noch der Hinweis, dass es ab und an auch im Ersten von Dieter Nuhr ein paar Denk- und Lachanstöße gibt. Und Urban Priol darf man auch nicht vergessen. Aber trotz verschiedener Lichtblicke bleibt festzuhalten, dass die Comedy dominiert, und zwar leider zumeist in ihrer doofsten Form.
Das Kabarett ist zu einem niveaulosen Cabaret mutiert. Das C ersetzt das K und hat außerdem ein t vertrieben. Henscheid hat 1995 die bedeutenden Vertreter des politischen Kabaretts zu Unrecht verächtlich gemacht, aber seine erbarmungslose Kritik trifft voll auf die Comedians der Gegenwart zu. Eine Comedy-Sendung im Fernsehen gleicht der anderen: Da treten eine Hampelfrau oder ein Hampelmann nach dem anderen auf und geben staccato saudumme Sätze von sich. Inhaltsloses Gebabbel über angeblich allzu Menschliches. Die Hauptsache für jeden Pseudo-Spaßmacher ist ein schrilles Outfit. Kugelrunde Frauen lassen mit Absicht ihre Fettpolster quellen, klapprige und in grellsten Tönen angemalte Bohnenstangen behängen sich mit sado-macho anmutenden Ketten, Männer tragen Nester oder Pferdeschwänze (auf dem Kopf), Frauen glitzernde Glatzen. Er, sie, es: Alle sind tätowiert und gepierct. Quer oder schräg, horizontal oder vertikal, schwul oder lesbisch: Jede Gruppe mischt mit.
Wichtig für die Kameraführung bei einer TV-Übertragung ist der Blick ins Publikum, das sich vor Lachen biegt. Worüber, das bleibt ein Rätsel. Oft prusten ZuschauerInnen schon los, wenn der irrsinnige Möchtegern-Komödiant einen eindimensionalen Satz gerade erst begonnen hat. Es ist doch egal, was er sagt, es wird schon was zum Lachen sein. Da es keine Pointen gibt, nimmt man eben Lächerlichkeiten als Lachanstoß. Dabei ist das geistlose Gequatsche zum Kotzen. Gewiss kann man auch Anzüglichkeiten in ein satirisches Unterhaltungsprogramm einbringen, aber es ist niveaulos, wenn eine Zote auf die nächste folgt, und der ganze Vortrag darin besteht, dass eine juckende Muschi einen Schlappschwanz nach dem anderen provoziert.
Was ich mir wünsche: Die Rückkehr zum politischen Kabarett. Die Dumpfbacken aus der unsäglichen Comedy-Szene sollten zurückgedrängt und am besten in die Mülltonnen des Kulturbetriebs gestopft werden. Ich wünsche mir das Kabarett, wie bereits von Kittner gefordert, als Demokratiebewahrungs-Institution, der endlich wieder ein Platz im Kulturleben und im TV-Betrieb eingeräumt wird. Den Anti-Demokraten muss aufklärerisch und mit Satire auf die Finger geschaut, ihre dunklen Machenschaften müssen aufgedeckt werden. Wir brauchen wieder ein Kabarett, das dafür sorgt, dass den Militaristen sowie den Rüstungslobbyisten und Kriegsgewinnlern ihr Lachen vergeht. Deshalb müssen die pseudo-komödiantischen Hampelmenschen gestoppt und zumindest in ihrer Medienpräsenz reduziert werden. Wir brauchen ein Kabarett mit scharfem Biss, das Aufklärungsarbeit leistet und das Volk zum Lachen bringt, indem es die profitgierigen Strippenzieher des Kapitals entlarvt und der Lächerlichkeit preisgibt. Sicherlich hat Priol Recht mit der Aussage: »Das, was uns die Politik täglich an Realsatire liefert, noch zu toppen, das ist echt harte Arbeit.« Aber eine gute Kabarettistin beziehungsweise ein guter Kabarettist kann das leisten.