Jedes Jahr am 10. Dezember werden in Stockholm feierlich die Nobelpreise überreicht, mit einer Ausnahme: Die Ehrung des Friedensnobelpreisträgers findet nicht im schwedischen Parlament, sondern im Rathaus der norwegischen Hauptstadt Oslo statt. Überraschungen sind bei der Verleihungszeremonie nicht zu erwarten, denn die auserwählten Preisträger werden schon im Oktober bekannt gegeben. Den Friedensnobelpreis, der zurzeit mit zehn Millionen schwedischen Kronen (circa 950.000 Euro) dotiert ist, erhält in diesem Jahr das Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP) der Vereinten Nationen. Ausgezeichnet wird es »für seine Anstrengungen bei der Bekämpfung von Hunger, für seinen Beitrag zur Verbesserung der Bedingungen für Frieden in Konfliktregionen und für seine Rolle als Motor von Bemühungen, den Einsatz von Hunger als Waffe in Kriegen und Konflikten zu verhindern«, so das fünfköpfige norwegische Nobelpreiskomitee in seiner Bekanntmachung vom 9. Oktober.
Als größte humanitäre Organisation auf der Welt, die gegen den Hunger und für Ernährungssicherheit kämpft, unterstützte das WFP 2019 nach eigenen Angaben fast 100 Millionen Menschen in 88 Ländern, 30 Millionen seien vollständig von der UN-Organisation ernährt worden. Die Gesamtzahl der akut Hungernden habe jedoch nicht weniger als 135 Millionen betragen. In diesem Jahr habe sich die Situation weiter verschlechtert, die Zahl der Menschen, die von akutem Hunger bedroht sind, habe sich auf 270 Millionen verdoppelt. »In Ländern wie dem Jemen, der Demokratischen Republik Kongo, Nigeria, Südsudan und Burkina Faso hat die Kombination von gewalttätigen Konflikten und Corona-Pandemie zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Menschen geführt, die dem Hungertod nah sind.« Auch Naturkatastrophen infolge des Klimawandels treiben die Zahlen in die Höhe.
Geteiltes Echo
Die Wahl des WFP zum Friedensnobelpreisträger 2020 stieß auf ein geteiltes Echo. Es gab viel Lob und Anerkennung für die rund 15.000 WFP-Mitarbeiter*innen, die keine Mühe scheuen, um dem UN-Ziel »Zero Hunger« und einer nachhaltigen Entwicklung der Länder mit unsicherer Ernährungslage näher zu kommen. Aber es waren auch skeptische Töne zu hören: Hat nicht die Verteilung von Hilfsgütern dazu geführt, dass sich die Menschen mancherorts daran gewöhnt haben, arbeitslose Almosenempfänger zu sein? Ist dabei nicht das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe in Vergessenheit geraten? Benutzen nicht die reichen Länder die UNO-Hilfsorganisation, um ihre Agrarüberschüsse loszuwerden, und verhindern sie damit nicht die Entwicklung einer eigenen Nahrungsmittelproduktion in den ärmeren Ländern?
Die Kritik mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Aber sie zäumt das Pferd von hinten auf. Nicht die Existenz des WFP verhindert, dass die Situation der Menschen in den Ländern des sogenannten globalen Südens nachhaltig gebessert wird. Vielmehr sind es die Machtverhältnisse in den betroffenen Ländern, die neokolonialen Abhängigkeiten, die gewaltschwangeren Konkurrenzmechanismen, die zahlreichen Militärinterventionen. Ist also die Bekämpfung des Hungers auf der Welt eine Sisyphos-Arbeit, die ihr Ziel nie erreichen kann? Immerhin ist es China gelungen, unter Mitwirkung des WFP in den letzten 40 Jahren mehr als 800 Millionen Menschen aus der absoluten Armut zu führen. Ein ungeheurer Erfolg, der aber merkwürdigerweise in der Debatte um das Welternährungsprogramm und den Friedensnobelpreis keine Rolle spielt.
Der Kandidat im Hochsicherheitsgefängnis
Wenn vom Friedensnobelpreis 2020 die Rede ist, darf nicht geschwiegen werden von einem, der vorgeschlagen, aber nicht gewählt wurde: Julian Assange, Mitgründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, der 2010 den Mut hatte, Zehntausende geheimer Dokumente über völker- und menschenrechtswidrige Aktivitäten des US-Militärs und der US-Geheimdienste in Irak und Afghanistan ins Netz zu stellen. Seine Nominierung, unter anderen durch Abgeordnete der Linkspartei, ist Teil einer Kampagne zur Freilassung des mutigen australischen Whistleblowers. Denn der sieht sich seither, statt dass ihm für die Aufdeckung der Verbrechen gedankt wird, von Seiten verschiedener Staaten unter wechselnden Vorwänden verfolgt. Die US-Regierung klagt ihn wegen Spionage an und verlangt von Großbritannien, wo er zurzeit im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gefangen gehalten wird, die Auslieferung. Nach mehreren Anhörungen zwischen Februar und Oktober 2020 will das Zentrale Strafgericht am 4. Januar 2021 seine Entscheidung über das Verlangen der USA verkünden. Sollte Assange ausgeliefert werden, drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, das Verfahren wird in jedem Falle vor der zweiten Instanz fortgesetzt werden. Der Gesundheitszustand von Assange gibt allerdings Anlass zu größter Sorge, wie lange er die Haftbedingungen und die zermürbenden Gerichtstermine noch durchhalten kann. Der Friedensnobelpreis wäre eine sehr verdiente Anerkennung für Julian Assange – und eine Ermutigung für Menschen, die über Kriegsverbrechen nicht schweigen wollen.
Irgendwie bekannt
Ossietzky-Lesern und -Leserinnen kommt das alles irgendwie bekannt vor, hatte sich doch auch Carl von Ossietzky durch Aufdeckung illegaler Machenschaften des Militärs bei den Herrschenden unbeliebt gemacht. Schon in der untergehenden Weimarer Republik als Landesverräter gebrandmarkt, wurde er 1933 erneut verhaftet und ins KZ Sonnenburg verschleppt. Um der Forderung nach seiner Freilassung Nachdruck zu verleihen, schlugen seine politischen Freunde im Exil ihn im Sommer 1934 für den Friedensnobelpreis vor, leider zu spät für eine Nominierung noch in demselben Jahr. 1935 wurde der Vorschlag fristgerecht eingereicht und eine internationale Kampagne für Ossietzky gestartet. »Die Mehrheit der Schweizer Bundesversammlung, 120 französische Abgeordnete und 13 Professoren reichten Anträge zugunsten Ossietzkys ein. In Norwegen selbst bearbeitete [Willy] Brandt unermüdlich die norwegische Sozialdemokratie, die als Regierungspartei Vorschlagsrecht besaß. Am 23. Januar 1936 erklärte sie sich für Ossietzky: ›Niemand ist zur Zeit berechtigter für die Anerkennung, die die Zuerteilung von Nobels Friedenspreis bedeutet.‹ Weitere Anträge kamen rechtzeitig aus Großbritannien, Belgien, Dänemark, Schweden, den Niederlanden, der CSR, der Türkei und den Vereinigten Staaten.« (Lothar Wieland, Der Friedens-Nobelpreis 1935 – Chronik eines moralischen Sieges) Der überraschend von anderer Seite vorgeschlagene Präsident der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk, erklärte auf Bitten sein Desinteresse an der eigenen Nominierung. Das norwegische Nobelpreiskomitee scheute jedoch zunächst die offene Konfrontation mit der Regierung des Deutschen Reiches und verzichtete auf die Benennung eines Preisträgers für 1935. Die Wahl wurde im November 1936 nachgeholt, und Ossietzky bekam nachträglich den Friedensnobelpreis 1935 verliehen. Kurz darauf wurde er aus der Gestapohaft entlassen.
Die Kampagne geht weiter
Als Willy Brandt, der sich in der Kampagne für Carl von Ossietzky engagiert hatte, 1971 selbst den Friedensnobelpreis erhielt, erinnerte er in seiner Dankesrede an den Preisträger von 1935 mit den Worten: »Seine Ehrung war ein moralischer Sieg über die Mächte der Barbarei.«
Die Bundestagsabgeordnete Żaklin Nastić (Die Linke) sagte mit Blick auf den Kandidaten 2020: »Assange hat einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der Öffentlichkeit und damit auch für den Frieden geleistet. Nicht diejenigen, die Kriegsverbrechen aufklären, gehören kriminalisiert, sondern diejenigen, die diese begehen.« Dem kann man nur zustimmen. Die Kampagne für die Ehrung und Freilassung von Julian Assange geht weiter.