Das Fahrzeug fiel auf. Nicht wegen des Sterns auf dem Kühler, davon fuhren durch Koblenz einige. Sondern wegen der Beschriftung. Aus der Ferne glaubte man den Schriftzug POLIZEI zu erkennen, es war die vertraute Typo, weiß auf blauem Grund, oben und unten begrenzt durch eine gestrichelte Linie. Tatsächlich stand dort aber: FRIEDENSFAHRZEUG. Auf diese Idee musste man erst einmal kommen. Sie hatte Christian Volgmann beim Abwaschen. Den kreativen Werbefachmann traf ich zufällig im »Deutschen Kaiser« unweit des Deutschen Ecks, wo Wilhelm Eins am Zusammenfluss von Mosel und Rhein reitet. Die Amerikaner schossen den Bronzemonarchen 1945 aus dem Sattel, und als ich in den 80er Jahren zum ersten Male dort stand, war der Sockel nackt und bloß und hieß »Denkmal der Deutschen Einheit«, umrahmt von Tafeln, die den Verlust von Schlesien, Pommern und Ostpreußen, von Sachsen, Thüringen und Brandenburg et cetera beklagten. Kurt Tucholsky hatte seinerzeit in der Weltbühne das Monstrum zum »Faustschlag aus Stein« erklärt, welches jenes Deutschland repräsentiere, »das am Kriege schuld gewesen ist«. Er meinte den von 1870/71, als das deutsche Kaiserreich blutig zur Welt gekommen war. Ein bundesdeutscher Zeitungsverleger spendierte einen Neuguss – ein politisches wie finanzielles Danaergeschenk. Der Sockel musste nämlich mit einigen Millionen Mark von der Stadt restauriert werden, und obendrein herrschte große Empörung über die Wiederaufrichtung eines Symbols des deutschen Militarismus. Die traditionsbewussten Erben zeigten sich jedoch konsequent: Das neue Reiterstandbild wurde am 2. September 1993 auf den Sockel gehievt. Daran nahm nur Frankreich Anstoß – es war nämlich jener Tag, an welchem Napoleon III. die Kapitulation vor 122 Jahren unterzeichnet hatte. Fortan hatte es am »Sedantag« schulfrei und Siegesdenkmale in ganz Deutschland gegeben. Das alles schien man in Koblenz vergessen zu haben oder vergessen machen zu wollen, gegen Amnesie gibt es hierzulande keine Impfpflicht.
Der friedensbewegte Europäer Volgmann schien offenkundig nicht infiziert. Wir trafen uns, wie gesagt, am Ufer der Mosel, in einer Geschichtslüge. Der spätgotische Wohnturm, 1490 errichtet, wurde nach seinem Bauherrn Lengenfeld benannt, doch im späten 19. Jahrhundert kam dort ein Gasthaus unter, das »Zum Deutschen Kaiser« hieß. Von diesem Namen mochte man sich in der Republik nicht trennen, deshalb nennt heute jeder Reiseführer das Haus irreführend Kaiserhaus. Das Gebäude überstand die verheerenden Bombardements und ragte gleichsam als Solitär aus der zweitausendjährigen Stadt hervor, weil 87 Prozent aller Häuser in Kriegsschutt und Asche lagen. Nach der Jahrtausendwende setzte man zur Stabilisierung einen Neubau daneben, das Restaurant mit eben jenem Namen erstreckt sich seither über beide Häuser und zwei Etagen. Im Obergeschoss, zwischen den alten Mauern und unter flacher Balkendecke, sollte an jenem Tag eine Buchvorstellung mit Diskussion erfolgen, wozu Autoren und Verleger aus Berlin angereist waren. Eingeladen hatte eine Gruppe Friedensfreunde, die dort seit geraumer Zeit »Koblenz: im Dialog« veranstalten, »vernunftbasiert, parteifrei, bürgernah«, wie sie diese Runden nennen. Offenkundig sind das Adjektive, die von den dortigen Parteien nicht sonderlich geschätzt werden. Einige von ihnen drückten schon mal ihren Missmut mit Farbbeuteln aus; Spuren können noch immer an der Fassade besichtigt werden. Die Eigentümerin des Hauses kündigte den temporären Untermietern nicht und bewies damit Charakter.
Als wir uns zur Diskussion versammelten, baute auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein halbes Dutzend junger Männer – auf dem Lederrücken des einen war ein A im weißen Kreis zu erkennen – einen Tisch und ein Zelt auf. Dann entrollten sie ein Transparent, auf dem zu lesen war: »Stoppt die AfD«. Ich fand die Haltung sympathisch und wollte dies auch die Demonstranten wissen lassen, weshalb ich zu ihnen ging. »Das meine ich auch. Aber könnte es sein, dass ihr am falschen Ort steht?« Mit gewiss zulässiger Ironie klärte ich auf, dass hier keine Veranstaltung der AfD stattfinde, sondern eine Buchpräsentation mit Diskussion. Als Beleg der politischen Ausrichtung der Zusammenkunft drückte ich ihnen das Druckwerk in die Hand.
Inzwischen hatte sich der Gruppe ein dicker Bursche zugesellt, der eine beachtliche US-Flagge mit sich führte. Diese wie auch sein Habitus ließen unschwer erkennen, wem seine ganze Liebe galt. Ich gewann nicht den Eindruck, dass die Umstehenden in irgendeiner Weise Anstoß an ihm und seinem Banner nahmen. Wohl aber an der Initiatorin der Veranstaltungsreihe, wie der Sprecher mit Mütze und Hornbrille mir wortreich beizubringen versuchte. Sie wurde als antisemitisch, nationalistisch und rassistisch etikettiert sowie der Nähe zur AfD bezichtigt.
Nun kannte ich diese Sabiene Jahn ein wenig besser als dieser akademische Strohkopf. Sabiene stammt aus Halle, hatte später in Berlin im FDGB-Bundesvorstand gearbeitet, war nach der »Wende« von einer westdeutschen Gewerkschaftsleitung übernommen worden, der sie aber den Rücken kehrte, als man ihr nahelegte, entweder der SPD oder der CDU beizutreten, weil man – wegen des Proporzes – ohne Parteibuch in der IG-Führung nicht arbeiten könne oder dürfe. So sang und tanzte sie, was sie auch schon in der DDR erfolgreich getan und sie damals das Volontariat bei der Freiheit in Halle gekostet hatte. Sie könne nur eines sein, stellte sie damals die Kaderleiterin der SED-Bezirkszeitung vor die Wahl: Journalistin oder Künstlerin. Vor achtzehn Jahren war Sabiene nach Koblenz gekommen und engagierte sich politisch, nach eigenem Bekunden »gemäßigt links«, aber unorganisiert, denn Parteien, Vereine und Sekten stießen sie so ab, wie diese die selbstbewusste, kultivierte Frau aus dem Osten nicht mochten. Sie passte weder in das Raster, noch unterwarf sie sich dogmatischen Vorgaben. Sie blieb die emanzipierte DDR-Frau und nahm darum beispielsweise Anstoß an dem merkwürdigen Verständnis von Antifaschismus, als eines Tages an Wilhelms Reiterstandbild ein Riesenposter hing: »Hier könnte ein Nazi hängen«. Die auf Twitter geteilten Tweets lauteten so: »Hängt da noch keiner? Ihr seid so scheiße inkonsequent« (Vallang). »Ja. Warum hängt da keiner?« (Kleiner Prinz), und ein Jörn Elsäßer schrieb: »Das doitsche Eck ist doch viel zu gut für die …«
Der junge Mann vor mir, vielleicht halb so alt wie Sabiene, wollte mich also glauben machen, dass diese Frau der politische Teufel in Menschengestalt sei, und berief sich dabei sogar auf den Befund des Stadtvorstandes der Linkspartei, deren Mitglied er sei.
Ich schlug vor, dass es vielleicht dringlicher sei, sich mit dem da auseinanderzusetzen, und deutete mit dem Kopf in Richtung des Fahnenträgers. Da scheine Aufklärung nötig. Dann kehrte ich ins Haus zurück, wo wir alsbald lebhaft über die Ostausdehnung der NATO, über Nationalismus, Rassismus und Faschismus in Europa debattierten. Keineswegs kontrovers, denn in der Ablehnung waren sich alle einig.
Nach etwa einer Stunde stürmte eine Frau herein, die offenkundig aus dem Kreis der Protestanten kam, denn sie trug unser Buch in der Hand. Sie knallte es mit dem apodiktischen Satz auf den Tisch: »Wir haben es gelesen. Das ist Scheiße!« – ausgerechnet vor die Nase des Juden mit dem israelischen Pass, einem der Mitautoren des Buches, in welchem es um den politisch konnotierten Massenmord an einem halben Hundert Odessaer Bürgern im Jahr 2014 ging. Es war gewiss Zufall, dass kürzlich gerade im fernen Neuseeland ebenso viele Menschen aus vergleichbarem Anlass umgebracht worden waren: aus nationalistischem, politisch motiviertem Fremdenhass. Die globale Empörung war ungleich größer als damals.
Dann trampelte sie so demonstrativ wütend hinaus, wie sie hereingetrampelt war, des Auditoriums nicht achtend. »Mensch, Rike«, rief Sabiene Jahn und eilte der jungen Frau nach, die sie offenkundig kannte, und dann hörte man von draußen nur noch laute Worte, darunter so schaurige wie »Stasi«. Hinterher erfuhr ich, dass es sich um die Sprecherin des Stadtverbandes der Linken gehandelt habe. Sie vermochte offenkundig nicht nur sehr schnell zu lesen, sondern auch mit gleichem Tempo zu einem vernichtenden Urteil über die Literatur zu gelangen. Man konnte ihr nicht unterstellen, vielleicht bei Stalin in die Schule gegangen zu sein, denn sie war erkennbar nach 1990 geboren. Sie beherrschte jedoch vernehmlich alle bürgerlichen Vokabeln, mit denen man hierzulande heutzutage Menschen mundtot machen kann. »Dabei hatte ich nicht mal ’ne Akte«, sagte Sabiene, die gemäßigte Linke, betrübt über die postpubertierende Genossin aus dem studentischen Milieu und breitete den Mantel der Nachsicht über den Zwischenfall. Das sei nur Ausdruck von Unwissen und Unreife, meinte sie entschuldigend, so albern wie der tadelnde Hinweis von Rike P. bei irgendeiner gemeinsamen Friedensdemo, sie möge das doch hier bitte lassen. Was? Dass Sabiene ihren Lebensgefährten in den Arm nahm und ihn küsste …
Wie üblich blieben nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung die meisten noch da, nur das Häuflein Protestanten und der Ami-Freund hatten sich getrollt. Unter denen, die das Gespräch ungezwungen fortsetzten, war eben auch jener mir bis dato unbekannte Erfinder des Aufklebers »Friedensfahrzeug«. Inzwischen rollen sechzehn Privatautos durch Deutschland, allein in Hamburg fünf, vom Porsche bis zum einstigen Sanitätsfahrzeug ist alles dabei. Der Schriftzug sei nicht nur ein Hingucker, sondern er provoziere Gespräche, was beabsichtigt ist. Einmal, so berichtete Silke Volgmann, sei sie auf der Autobahn hinter Nürnberg von der Polizei auf einen Parkplatz gelotst worden. Sie sei ziemlich verunsichert gewesen, weil sie fürchtete, dass entweder an der Beschriftung des Chevrolets oder an ihrer Fahrweise Anstoß genommen worden war. Weder noch. Die beiden Beamten suchten den Gedankenaustausch zum Thema Frieden und wollten wissen, weshalb sie auf diese Weise öffentlich ihre Gesinnung zu erkennen gebe, was aktuell nicht in Mode sei. Gespräche solcher Art gebe es auf Parkplätzen vor Supermärkten und in Innenstädten, unaufgeregt und unaufdringlich, normale Bürger reden mit normalen Bürgern. (»Lasst uns den Frieden auf die Straße bringen. Es geht nur miteinander und nicht gegeneinander!«) Zustimmung allenthalben?
»Nö«, sagte Christian Volgmann und zeigte mir Fotos seines Transporters, auf den ein Davidstern und ANTI über den Schriftzug FRIEDENSFAHRZEUG gesprüht worden war. Aus welcher Ecke die Attacke komme, glaubte er zu wissen, er trage das gleiche Kainsmal, das auch Sabiene verpasst wurde. Einen vermeintlichen Antisemiten mit einen Davidstern zu denunzieren und einen Antimilitaristen zum Friedensgegner zu erklären: Wie krude ist das denn? »Ach«, sagt Volgmann, »es sind politische Wirrköpfe und Profilneurotiker.« Die Linke hat im 56-köpfigen Koblenzer Stadtrat einen Sitz – ob sie den bei der nächsten Kommunalwahl Ende Mai wird verteidigen können, stehe in den Sternen. So auf keinen Fall.
Die Stimmen von Christian und Silke Volgmann bekommen sie jedenfalls nicht. Die beiden Wessis sind dann nämlich bereits »nach drüben gegangen«. Seit Ende März leben sie in einem 28-Seelen-Dorf bei Greifswald.