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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von nationalem Interesse

Auf rück­stän­di­ge Welt­re­gio­nen, in denen Tri­ba­lis­mus, Kasten­we­sen und Poten­ta­ten herr­schen, vor allem auf das, was in dor­ti­gen Böden steckt, haben moder­ne, der pro­duk­ti­ven Ver­wer­tung von Eigen­tum ver­pflich­te­te Staa­ten ein unwi­der­sprech­li­ches und z. B. mit einem Bun­des­wehr­en­ga­ge­ment in elf Regio­nen sta­bil zu hal­ten­des Zugriffs- und Aus­beu­tungs­recht (»unser« Lithi­um). Auf der höher gela­ger­ten Ebe­ne inter­na­tio­na­ler Kon­kur­renz mit ihres­glei­chen kon­sti­tu­ie­ren und arron­die­ren sich Staa­ten, die die­sen Namen ver­die­nen (wol­len), neu: mit der Bekämp­fung von Ein­woh­nern, die nicht (mehr) zum Staats­volk gehö­ren, wie etwa im Koso­vo und in der Ukrai­ne. Und Staa­ten erwei­tern sich: mit Heim­ho­lung der DDR in die Frei­heit, mit dem Über­lau­fen Abtrün­ni­ger zum Feind auf der Krim und im Don­bass, mit des Nato-Part­ners Tür­kei Bekrie­gen rebel­li­scher Kur­den­ge­bie­te auch jen­seits sei­ner Gren­ze. Oder Staa­ten lösen sich los und auf: Aktu­ell wird Ser­bi­en mit öko­no­mi­scher und mili­tä­ri­scher Erpres­sung das Ulti­ma­tum gestellt, Koso­vo end­lich und jetzt ganz schnell als unab­hän­gig anzu­er­ken­nen; Jah­re zuvor setz­te Jel­zin gegen sei­nen Erz­feind Gor­bat­schow die Abschaf­fung des Sowjet­uni­on­nach­fol­gers GUS durch. Oder Staa­ten schlie­ßen sich zusam­men: im grenz­auf­wei­chen­den euro­päi­schen Ver­ei­ni­gungs­pro­jekt EU und in der Nato.

In die­sem Zusam­men­hang eine Prä­zi­sie­rung des Texts »Täu­schung und Ehr­lich­keit« (Ossietzky 6/​2023): Unter­su­chun­gen der Histo­ri­ke­rin Mary Sarot­te zufol­ge war die nur wenig spä­ter, wie von ihr nicht erwähn­te Gesprächs­pro­to­kol­le bele­gen, auch noch in deut­schen Poli­ti­ker­äu­ße­run­gen Russ­land gegen­über als münd­li­che Beteue­rung wie­der­hol­te »Not one inch«-Bemerkung des von US-Prä­si­dent Bush zurück­ge­pfif­fe­nen Bot­schaf­ters Bak­er hypo­the­tisch und wur­de von sei­ner Regie­rung nicht gebil­ligt, wie sich dann auch prak­tisch her­aus­stell­te. Wie­so auch hät­te sie mit dem sich bie­ten­dem Vor­drin­gen nach Osten ein­fach auf­hö­ren sol­len? Anschei­nend aber nahm Russ­land, obwohl es aus zahl­rei­chen Prä­ze­denz­fäl­len hät­te ler­nen kön­nen, im Wunsch­den­ken, mit dem System­ge­gen­satz sei auch der Grund west­li­cher Feind­schaft ent­fal­len, den objek­tiv des­in­for­mie­ren­den Sire­nen­ge­sang der EU-Expan­sio­ni­sten für eine feste Zusi­che­rung, deren Nicht­ein­hal­tung von Putin nun post festum beklagt wird.

Fak­ten solch geo­stra­te­gi­schen Han­delns wer­den dem All­tags­ver­stand vor allem als Mate­ri­al einer von vorn­her­ein par­tei­li­chen Bewer­tung inter­es­sant: Ob dies oder das denn im Sin­ne und zum Wohl der Nati­on aus­fal­le? Das ist sei­ne reflex­haf­te regel­mä­ßi­ge Fra­ge. Für sei­nen Staat und ihn, der nun ein­mal von erste­rem regiert wird, ent­fal­tet sich Staat­wer­dung teleo­lo­gisch-orga­nisch aus einem vor­lau­fen­den Wil­len zur Nati­on­wer­dung her­aus und ver­kör­pert die­sen. Ganz so ein­deu­tig ver­hält sich die Sache jedoch nicht. In vie­len Fäl­len wur­den Kriegs­er­geb­nis­sen von den Sie­gern eine staat­li­che Herr­schafts­form gege­ben, ohne dass die­se groß von den Betrof­fe­nen ersehnt wor­den wäre. Für ein euro­päi­sches Land drück­te dies Mas­si­mo d’Azeglio so aus: »Ita­li­en ist gemacht, jetzt müs­sen wir Ita­lie­ner machen.« Bestä­tigt sich bei Bewoh­nern einer Welt­re­gi­on der Wil­le, sich von (frem­der) Herr­schaft zu befrei­en, so kann er in Unter­schied­li­ches mün­den. Er muss nicht zwangs­läu­fig die Eta­blie­rung einer eige­nen Herr­schaft über sich selbst anstre­ben; es steht zu ver­mu­ten, dass die ursprüng­li­chen Moti­ve von Viet­na­me­sen und Kuba­nern dar­in lagen, sich an einer herr­schafts­frei­en Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on zu ver­su­chen, die ihnen die unver­brüch­li­che Feind­schaft des Westens ein­trug. Was aus ihrem »sozia­li­sti­schem Expe­ri­men­tie­ren« dann wur­de, steht auf einem ande­ren Kriegsblatt.

Zual­ler­meist aber geht es Auf­stän­di­schen dar­um, sich mit einem Ensem­ble von Spra­che, Reli­gi­on, Geschich­te, Tra­di­ti­on, Lebens­füh­rung und (»Leit«-)Kultur eine ein­zig­ar­ti­ge »Iden­ti­tät« anzu­eig­nen, die danach ver­langt, eine natio­na­le zu sein und des­halb einer Staat­wer­dung mit Hel­den und Füh­rungs­fi­gu­ren bedarf. Das Bild von Ido­len ori­en­tiert sich an deren Ein­satz für die natio­na­le Sache; Ban­de­ras Rus­sen­hass recht­fer­tigt das Errich­ten natio­na­ler Denk­mä­ler und macht sei­nen Faschis­mus uner­heb­lich. Da ein Stolz auf die »Eth­nie« einem mög­lichst homo­ge­nen Volks­kör­per ent­sprin­gen soll und so eine Mul­ti­kul­ti-Belie­big­keit nicht zulas­sen will, kann er ohne ras­si­sti­sches »Othe­ring« nicht aus­kom­men. Dass »ande­re« eben »nicht wir« sind, ist Grund genug, ihnen mit Her­ab­las­sung und »nöti­gen­falls« mit Gewalt zu begeg­nen. Auch eine »Will­kom­mens­kul­tur« – schließ­lich sind alle im Aus­land Frem­de – ist kei­ne prin­zi­pi­el­le Kri­tik des Kon­strukts von Natio­nal­cha­rak­te­ren, son­dern deren mora­lisch fein dif­fe­ren­zie­ren­des Austarieren.

Dass das poli­ti­sche Füh­rungs­per­so­nal quer über das Spek­trum von links nach rechts ein Natio­nal­be­wusst­sein grund­sätz­lich begrüßt, ver­wun­dert nicht; schließ­lich ver­leiht des­sen Auf­trag staat­li­chem Han­deln eine höhe­re Dimen­si­on. Wie aber kommt es dazu, dass das Fuß­volk, des­sen Inter­es­sen zunächst ein­mal pro­sa­ischer aus­fal­len, die gro­ße Sache zu sei­ner eige­nen macht? Und zwar in dop­pel­ter Hin­sicht: Zum einen als tat­säch­lich gül­ti­ge und erfah­re­ne Exi­stenz­be­din­gun­gen, die prak­ti­sche »Anpas­sun­gen« unab­ding­bar machen – der Schorn­stein muss ja rau­chen –, das heißt: als staat­li­che Garan­tie und vom Bür­ger hono­rier­ter Schutz von Chan­cen­gleich­heit beim erzwun­ge­nen Bemü­hen, als Kon­kur­renz­sub­jekt zu Geld zu kom­men. Zwei­tens tritt zur natio­na­len Staat­lich­keit die Nati­on als legi­ti­ma­to­ri­sche Instanz, als heh­re, von Kin­des­bei­nen an kul­ti­vier­te Vor­stel­lung und Trieb­kraft, in der die Unter­schie­de schnö­der Wirk­lich­keit, auch wenn sie noch wahr­ge­nom­men wer­den, nicht gel­ten; damit fun­giert die Nati­on noch­mals, dies­mal idea­li­ter, als Iden­ti­tät von Staats- und Bür­ger­inter­es­se, als gro­ßer Gleich­ma­cher von Ungleichen.

Die natio­na­le Idee, als Staat schon mani­fest, ist ein die all­täg­li­che Pra­xis beglei­ten­des Emp­fin­den, wie es z. B. in Erin­ne­run­gen an gemein­sa­me Wehr­dienst­zei­ten zum Aus­druck kommt, in denen der zivi­le Sta­tus von Rekru­ten kei­ne Rol­le spiel­te. Das Gefühl, in einem gro­ßen Gan­zen unter­schieds­los zusam­men­ge­fasst, auf­ge­ho­ben und hei­misch zu sein, ist attrak­tiv und begei­ste­rungs­träch­tig. Es ist bil­lig zu haben – »siehs doch ein­fach mal so« –, schwellt die Brust, spen­det Trost bei schlech­tem Abschnei­den im »wirk­li­chen Leben« und »erklärt« die Unvoll­kom­men­heit der Welt mit natio­na­len bzw. patrio­ti­schen Feind­bil­dern. An Gele­gen­hei­ten, dem Hass auf die Ver­ge­wal­ti­ger­hor­den von »Pudn« (der Name ist in kor­rek­tem Ame­ri­ka­nisch ange­ekelt aus­zu­spucken) gemein­sa­men Aus­druck zu ver­lei­hen, man­gelt es nicht.

Neben expli­zi­ten Bekennt­nis­sen zu Ruhm und Ehre fehlt es auch nicht an anrüh­ren­den Ver­an­stal­tun­gen, die »unver­gess­li­che Momen­te« besche­ren; mit gemein­schaft­li­chem »Schland!«-Rufen auf Sta­di­on­rän­gen, mit Schul­be­su­chen von Kon­takt­of­fi­zie­ren, die jugend­li­ches Tech­nik­in­ter­es­se wecken, und vom schmis­si­gen Rhyth­mus, bei dem jeder mit­muss, der Bun­des­wehr-Big­band lässt man sich auch gern bewe­gen. All das, so heißt es, sei ein unschul­di­ges Ver­gnü­gen. Wirk­lich? Eine gefüh­li­ge Ver­bin­dung zu Mut­ter Nati­on lässt sich jeden­falls gera­de so her­stel­len. Der Genuss rei­ner Her­zen ist aber durch­aus nicht harm­los, son­dern die Mini-Aus­ga­be und der Keim des grund­sätz­li­chen, mün­di­gen, also kon­struk­tiv kri­ti­schen Ein­ver­ständ­nis­ses mit dem gro­ßen Wir und des­sen Agenda.

Gibt es aber alter­na­tiv nicht auch noch einen »guten Natio­na­lis­mus«? Der Bera­ter Chi­nas, Micha­el Hud­son, und Frantz Fanon bejah(t)en: Er sei ein not­wen­di­ges und nütz­li­ches Agi­ta­ti­ons­mit­tel auf dem Weg zum Sozia­lis­mus. Damit wer­den Eigen­in­ter­es­sen rele­giert zu einem War­ten­müs­sen, bis »es so weit ist«. Godot lässt grü­ßen. Wür­de man nun, was ziem­lich albern wäre, sich das Eti­kett eines »Anti­na­tio­na­li­sten« anhef­ten – Klap­pe zu, Natio­na­lis­mus tot –, so begnüg­te man sich mit dem Basteln eines eige­nen alter­na­ti­ven Selbst­ver­ständ­nis­ses. Wenn der Kapi­ta­lis­mus aber, um sich mit der Ver­hee­rung der Welt aus sei­nen selbst­ge­mach­ten not­wen­di­gen Kri­sen zu ret­ten, »den Krieg in sich trägt wie die Wol­ke den Regen«, so erfor­dert das den Wil­len, die­sen »Motor des Fort­schritts« still­zu­le­gen. Wer sich um des­sen Wei­ter­lau­fen sorgt, um eine Gesun­dung des Kapi­ta­lis­mus, der Dau­er­re­zep­te für unzäh­li­ge Tode nebst bis­wei­len ehren­vol­len Begräb­nis­sen aus­stellt; wer sei­ne Über-Lebens­in­ter­es­sen (so weit sind wir schon) im gro­ßen Gan­zen auf­ge­hen lässt, erhält die schö­ne Aus­sicht, frü­her zu ster­ben und län­ger tot zu sein (»They shall not grow old«). Das Agi­ta­ti­ons­or­gan der Nati­on, ARD, stellt denn auch die pas­sen­de Fra­ge: »Kön­nen wir Krieg?« (Sen­dungs­ti­tel vom 03.04.2023). Eine Ant­wort dar­auf, die von mög­lichst vie­len zu ertei­len wäre: Wir wol­len weder ihn noch sei­ne auch dem Frie­den imma­nen­ten guten Gründe.