Auf rückständige Weltregionen, in denen Tribalismus, Kastenwesen und Potentaten herrschen, vor allem auf das, was in dortigen Böden steckt, haben moderne, der produktiven Verwertung von Eigentum verpflichtete Staaten ein unwidersprechliches und z. B. mit einem Bundeswehrengagement in elf Regionen stabil zu haltendes Zugriffs- und Ausbeutungsrecht (»unser« Lithium). Auf der höher gelagerten Ebene internationaler Konkurrenz mit ihresgleichen konstituieren und arrondieren sich Staaten, die diesen Namen verdienen (wollen), neu: mit der Bekämpfung von Einwohnern, die nicht (mehr) zum Staatsvolk gehören, wie etwa im Kosovo und in der Ukraine. Und Staaten erweitern sich: mit Heimholung der DDR in die Freiheit, mit dem Überlaufen Abtrünniger zum Feind auf der Krim und im Donbass, mit des Nato-Partners Türkei Bekriegen rebellischer Kurdengebiete auch jenseits seiner Grenze. Oder Staaten lösen sich los und auf: Aktuell wird Serbien mit ökonomischer und militärischer Erpressung das Ultimatum gestellt, Kosovo endlich und jetzt ganz schnell als unabhängig anzuerkennen; Jahre zuvor setzte Jelzin gegen seinen Erzfeind Gorbatschow die Abschaffung des Sowjetunionnachfolgers GUS durch. Oder Staaten schließen sich zusammen: im grenzaufweichenden europäischen Vereinigungsprojekt EU und in der Nato.
In diesem Zusammenhang eine Präzisierung des Texts »Täuschung und Ehrlichkeit« (Ossietzky 6/2023): Untersuchungen der Historikerin Mary Sarotte zufolge war die nur wenig später, wie von ihr nicht erwähnte Gesprächsprotokolle belegen, auch noch in deutschen Politikeräußerungen Russland gegenüber als mündliche Beteuerung wiederholte »Not one inch«-Bemerkung des von US-Präsident Bush zurückgepfiffenen Botschafters Baker hypothetisch und wurde von seiner Regierung nicht gebilligt, wie sich dann auch praktisch herausstellte. Wieso auch hätte sie mit dem sich bietendem Vordringen nach Osten einfach aufhören sollen? Anscheinend aber nahm Russland, obwohl es aus zahlreichen Präzedenzfällen hätte lernen können, im Wunschdenken, mit dem Systemgegensatz sei auch der Grund westlicher Feindschaft entfallen, den objektiv desinformierenden Sirenengesang der EU-Expansionisten für eine feste Zusicherung, deren Nichteinhaltung von Putin nun post festum beklagt wird.
Fakten solch geostrategischen Handelns werden dem Alltagsverstand vor allem als Material einer von vornherein parteilichen Bewertung interessant: Ob dies oder das denn im Sinne und zum Wohl der Nation ausfalle? Das ist seine reflexhafte regelmäßige Frage. Für seinen Staat und ihn, der nun einmal von ersterem regiert wird, entfaltet sich Staatwerdung teleologisch-organisch aus einem vorlaufenden Willen zur Nationwerdung heraus und verkörpert diesen. Ganz so eindeutig verhält sich die Sache jedoch nicht. In vielen Fällen wurden Kriegsergebnissen von den Siegern eine staatliche Herrschaftsform gegeben, ohne dass diese groß von den Betroffenen ersehnt worden wäre. Für ein europäisches Land drückte dies Massimo d’Azeglio so aus: »Italien ist gemacht, jetzt müssen wir Italiener machen.« Bestätigt sich bei Bewohnern einer Weltregion der Wille, sich von (fremder) Herrschaft zu befreien, so kann er in Unterschiedliches münden. Er muss nicht zwangsläufig die Etablierung einer eigenen Herrschaft über sich selbst anstreben; es steht zu vermuten, dass die ursprünglichen Motive von Vietnamesen und Kubanern darin lagen, sich an einer herrschaftsfreien Selbstorganisation zu versuchen, die ihnen die unverbrüchliche Feindschaft des Westens eintrug. Was aus ihrem »sozialistischem Experimentieren« dann wurde, steht auf einem anderen Kriegsblatt.
Zuallermeist aber geht es Aufständischen darum, sich mit einem Ensemble von Sprache, Religion, Geschichte, Tradition, Lebensführung und (»Leit«-)Kultur eine einzigartige »Identität« anzueignen, die danach verlangt, eine nationale zu sein und deshalb einer Staatwerdung mit Helden und Führungsfiguren bedarf. Das Bild von Idolen orientiert sich an deren Einsatz für die nationale Sache; Banderas Russenhass rechtfertigt das Errichten nationaler Denkmäler und macht seinen Faschismus unerheblich. Da ein Stolz auf die »Ethnie« einem möglichst homogenen Volkskörper entspringen soll und so eine Multikulti-Beliebigkeit nicht zulassen will, kann er ohne rassistisches »Othering« nicht auskommen. Dass »andere« eben »nicht wir« sind, ist Grund genug, ihnen mit Herablassung und »nötigenfalls« mit Gewalt zu begegnen. Auch eine »Willkommenskultur« – schließlich sind alle im Ausland Fremde – ist keine prinzipielle Kritik des Konstrukts von Nationalcharakteren, sondern deren moralisch fein differenzierendes Austarieren.
Dass das politische Führungspersonal quer über das Spektrum von links nach rechts ein Nationalbewusstsein grundsätzlich begrüßt, verwundert nicht; schließlich verleiht dessen Auftrag staatlichem Handeln eine höhere Dimension. Wie aber kommt es dazu, dass das Fußvolk, dessen Interessen zunächst einmal prosaischer ausfallen, die große Sache zu seiner eigenen macht? Und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen als tatsächlich gültige und erfahrene Existenzbedingungen, die praktische »Anpassungen« unabdingbar machen – der Schornstein muss ja rauchen –, das heißt: als staatliche Garantie und vom Bürger honorierter Schutz von Chancengleichheit beim erzwungenen Bemühen, als Konkurrenzsubjekt zu Geld zu kommen. Zweitens tritt zur nationalen Staatlichkeit die Nation als legitimatorische Instanz, als hehre, von Kindesbeinen an kultivierte Vorstellung und Triebkraft, in der die Unterschiede schnöder Wirklichkeit, auch wenn sie noch wahrgenommen werden, nicht gelten; damit fungiert die Nation nochmals, diesmal idealiter, als Identität von Staats- und Bürgerinteresse, als großer Gleichmacher von Ungleichen.
Die nationale Idee, als Staat schon manifest, ist ein die alltägliche Praxis begleitendes Empfinden, wie es z. B. in Erinnerungen an gemeinsame Wehrdienstzeiten zum Ausdruck kommt, in denen der zivile Status von Rekruten keine Rolle spielte. Das Gefühl, in einem großen Ganzen unterschiedslos zusammengefasst, aufgehoben und heimisch zu sein, ist attraktiv und begeisterungsträchtig. Es ist billig zu haben – »siehs doch einfach mal so« –, schwellt die Brust, spendet Trost bei schlechtem Abschneiden im »wirklichen Leben« und »erklärt« die Unvollkommenheit der Welt mit nationalen bzw. patriotischen Feindbildern. An Gelegenheiten, dem Hass auf die Vergewaltigerhorden von »Pudn« (der Name ist in korrektem Amerikanisch angeekelt auszuspucken) gemeinsamen Ausdruck zu verleihen, mangelt es nicht.
Neben expliziten Bekenntnissen zu Ruhm und Ehre fehlt es auch nicht an anrührenden Veranstaltungen, die »unvergessliche Momente« bescheren; mit gemeinschaftlichem »Schland!«-Rufen auf Stadionrängen, mit Schulbesuchen von Kontaktoffizieren, die jugendliches Technikinteresse wecken, und vom schmissigen Rhythmus, bei dem jeder mitmuss, der Bundeswehr-Bigband lässt man sich auch gern bewegen. All das, so heißt es, sei ein unschuldiges Vergnügen. Wirklich? Eine gefühlige Verbindung zu Mutter Nation lässt sich jedenfalls gerade so herstellen. Der Genuss reiner Herzen ist aber durchaus nicht harmlos, sondern die Mini-Ausgabe und der Keim des grundsätzlichen, mündigen, also konstruktiv kritischen Einverständnisses mit dem großen Wir und dessen Agenda.
Gibt es aber alternativ nicht auch noch einen »guten Nationalismus«? Der Berater Chinas, Michael Hudson, und Frantz Fanon bejah(t)en: Er sei ein notwendiges und nützliches Agitationsmittel auf dem Weg zum Sozialismus. Damit werden Eigeninteressen relegiert zu einem Wartenmüssen, bis »es so weit ist«. Godot lässt grüßen. Würde man nun, was ziemlich albern wäre, sich das Etikett eines »Antinationalisten« anheften – Klappe zu, Nationalismus tot –, so begnügte man sich mit dem Basteln eines eigenen alternativen Selbstverständnisses. Wenn der Kapitalismus aber, um sich mit der Verheerung der Welt aus seinen selbstgemachten notwendigen Krisen zu retten, »den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen«, so erfordert das den Willen, diesen »Motor des Fortschritts« stillzulegen. Wer sich um dessen Weiterlaufen sorgt, um eine Gesundung des Kapitalismus, der Dauerrezepte für unzählige Tode nebst bisweilen ehrenvollen Begräbnissen ausstellt; wer seine Über-Lebensinteressen (so weit sind wir schon) im großen Ganzen aufgehen lässt, erhält die schöne Aussicht, früher zu sterben und länger tot zu sein (»They shall not grow old«). Das Agitationsorgan der Nation, ARD, stellt denn auch die passende Frage: »Können wir Krieg?« (Sendungstitel vom 03.04.2023). Eine Antwort darauf, die von möglichst vielen zu erteilen wäre: Wir wollen weder ihn noch seine auch dem Frieden immanenten guten Gründe.