Manchmal kommt so eine Art Aha-Erlebnis fast ein Menschenalter später. Ich hatte zwar den Sinnzusammenhang nicht gesucht, ja, der Vorgang war mir vollkommen aus dem Gedächtnis verschwunden. Dann aber stieß ich auf das 2018 erschienene Buch »Schwindsucht« der in Berlin lebenden Historikerin Ulrike Moser, und da war sie wieder präsent, die Erinnerung aus der Kindheit.
Damals in der Nachkriegszeit kam es vor, selten zwar, dass jemandem aus dem Dorf oder der Gegend, wo ich lebte, irgendetwas so Außergewöhnliches widerfuhr, dass es auch mir als Kind auffiel. Vielleicht wurde der/die Dorfbewohner/in unter Sicherheitsmaßnahmen in ein Krankenhaus gebracht. Vielleicht galt für Haus oder Wohnung eine Art Quarantäne wie für Bauernhöfe, wenn die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen war. Ich weiß es nicht mehr. Meine Großmutter allerdings, noch zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. geboren, wusste Bescheid, senkte die Stimme, flüsterte: Das ist die Schwindsucht.
Warum aber flüsterte sie, als habe der/die Kranke Schimpf und Schande über Familie, Haus und Dorf gebracht? Bei Ulrike Moser fand ich die mutmaßliche Antwort: Dieses Flüstern war wohl die Spätfolge der NS-Propaganda, als die Lungentuberkulose nicht allein als persönliches Leid empfunden worden war, sondern als Angriff auf den »gesunden Volkskörper« der Deutschen.
Die Indoktrination, ich lese es in Mosers Buch, nahm Ende des 19. Jahrhunderts in England mit einer Bewegung ihren Anfang, für die deren Gründer Francis Galton, ein Vetter Charles Darwins, den Begriff »Eugenics« prägte. Die Eugenik wurde als Wissenschaft definiert, »die sich mit allen Einflüssen befasst, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und welche diese Eigenschaften zum größtmöglichen Vorteil der Gesamtheit zur Entfaltung bringen« (Moser zitiert hier die Definition der Historikerin Doris Kaufmann).
Ausgehend von der Theorie seines Cousins vom »Kampf ums Dasein« machte Galton die biologische Auslese »zu einem sozialen und politischen Modell«. Schon im Deutschen Kaiserreich wurde Ende des 19. Jahrhunderts aus der englischen »Eugenics«-Bewegung die spezifisch deutsche »Gesellschaft für Rassenhygiene«. Eines ihrer Mitglieder war Gerhart Hauptmann.
Moser: Diese »Rassenhygiene wollte einen ›gesunden Volkskörper‹ der Zukunft schaffen, indem sie verhinderte, dass kranke Erbanlagen weitergegeben werden konnten. Gemeint waren damit auch Schwindsüchtige. Zwar war der Erreger bekannt, dennoch blieb rätselhaft, warum nicht jeder Infizierte auch tatsächlich erkrankte. Wurde das Leiden etwa doch direkt vererbt? Oder wurde eine Disposition, an der Tuberkulose zu erkranken, von den Eltern an die Kinder weitergereicht, wie einige Rassenhygieniker und Ärzte folgerten? Die Frage, ob und wie Krankheiten sich vererben, wurde für Rassenhygiene und Eugenik zu eigenen wissenschaftlichen Disziplinen.«
Die Autorin zeigt, wie »die sozialen und demografischen Folgen« des Ersten Weltkriegs die rassenhygienische Diskussion »radikalisierten, welche von ›völkischen‹ Kräften zusätzlich angestachelt wurde«. Schon 1923 bezeichnete der Hygieniker Alfred Grotjahn in der dritten Auflage »seines Standardwerkes ›Soziale Pathologie‹ die Tuberkulose als ›Krankheit der körperlich minderwertigen Personen‹«. Im selben Jahr rief ein zu der Zeit noch ziemlich unbekannter Adolf Hitler auf einer NSDAP-Versammlung in München seinen Zuhörerinnen und Zuhörern zu: »Der Jude ist das Ebenbild des Teufels. Das Judentum bedeutet Rassentuberkulose der Völker« (Moser zitiert hier aus einem Buch des Historikers Dirk Blasius).
Von hier bis zu den Menschenversuchen kranker Hirne, speziell den Tuberkuloseexperimenten in den Konzentrationslagern des »Dritten Reiches«, war es ideologisch nur noch ein kleiner Schritt. Am Ende dieses Buchkapitels voller Grauen steht der Kindermord am Bullenhuser Damm in Hamburg. Im Keller der ehemaligen Schule ermordete die SS 1945 im April 20 Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren sowie mindestens 48 Erwachsene aus dem KZ Neuengamme, dem nahe gelegenen größten Konzentrationslager Nordwestdeutschlands. Sie wurden vor den näher rückenden Alliierten aus dem Wege geschafft, waren sie doch Opfer und Zeugen verbrecherischer Tuberkulose-Experimente.
»Eine andere deutsche Gesellschaftsgeschichte« lautet der Untertitel des Buches. Und eine wahrlich andere Geschichte ist es, die in den Teilen I bis III erzählt wird. Das zeigen schon die Überschriften der Kapitel: »Romantisches Fieber« ist der zweite Hauptteil benannt, denn: »Keine Krankheit hat von der Romantik bis zur Moderne einen ähnlichen Nachhall und vielgestaltige Darstellung in der Literatur und Kultur gefunden wie die Schwindsucht.« Moser nennt unter anderem: Chopin, krank an Schwindsucht auf Mallorca, Arthur Schnitzlers Novelle »Sterben« mit dem schwindsüchtigen Felix, Theodor Fontanes »Effi Briest«, Leo Tolstois Lewin in »Anna Karenina«, Maxim Gorkis Anna im »Nachtasyl«, Thomas Mann und »Der Zauberberg«, im Schwindsucht-Kurort Davos angesiedelt, Novalis, Kafka, Klabund, alle an Schwindsucht erkrankt. Und Verdi »zeigt in ›La Traviata‹ zum ersten Mal den Tod durch Schwindsucht … auf der Opernbühne«.
Die Lungentuberkulose gehörte seit Beginn der industriellen Revolution zu den großen Seuchen und stellte – laut Brockhaus-Enzyklopädie – noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Mitteleuropa die häufigste Todesursache dar. Während Künstler und Literaten durch die Krankheit »gezeichnet und ausgezeichnet«, »verfeinert« wurden in ihren Gesichtszügen, starben »Bauern oder Fabrikarbeiter … in ihren Katen oder Hinterhäusern, ohne von ihrem Leid einen Bericht zu hinterlassen«. »Krankheit der Proletarier« heißt daher folgerichtig der dritte Teil des Buches. In dem Kapitel begegnen wir auch Heinrich Zille (»Vom Armeleutekind zum Armeleutemaler«), Edvard Munch (»Ein Maler von Krankheit, Angst und Tod«) und Oskar Kokoschka (»Krankenbildnisse aus dem Schweizer Sanatorium«).
Mit ihrem Buch gelang Ulrike Moser, ich pflichte dem Verlag bei, »ein neuer, origineller Blick auf die Geschichte der deutschen Gesellschaft«. Und selbstverständlich fehlt auch die Darstellung des Kampfes um die Entdeckung des Erregers der Infektionskrankheit nicht, bis hin zu jenem Tag im Jahr 1944, als es Wissenschaftlern in den USA gelang, aus dem Stoffwechselprodukt eines Pilzes das Antibiotikum Streptomyzin zu entwickeln. Von da an war »die Diagnose Tuberkulose … kein Todesurteil mehr«. Aber das alles lesen Sie am besten selbst.
Ulrike Moser: »Schwindsucht«, Matthes & Seitz, 264 Seiten, 26 €