»Ein alter Mann, ganz in schwarz, mit grauem Bart und Schläfenlocken, ein strenggläubiger Jude, der aussah, als habe er vor drei Tagen noch in seinem Schtetl in Galizien gesessen und sei eben erst in Berlin eingetroffen.« So beschreibt Volker Kutscher in seinem im Jahr 1931 angesiedelten dritten Gereon-Rath-Roman »Goldstein« diesen Alten, dem der titelgebende US-Amerikaner Abraham Goldstein das Leben rettet, als ihm eine SA-Horde an den Kragen geht. Und in der 4. Staffel der Anfang Oktober in der ARD ausgestrahlten Fernsehserie »Babylon Berlin«, die sehr frei nach dem Roman gedreht wurde, wird die Herkunft der jüdischen Verwandten Goldsteins präzisiert: Sie stammen aus Czernowitz.
Dass die Drehbuchautoren sich diese Stadt am Pruth, einem Nebenfluss der Donau, auswählten, erscheint naheliegend. Hier an der Peripherie des Habsburger Reichs lebten bis 1918 und teils noch darüber hinaus ukrainische, polnische, jüdische, rumänische, deutsche, armenische, ungarische und andere Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften friedlich nebeneinander, mit eigenen Bräuchen und Riten und in eigenen Vierteln oder Straßen. Zeitweise waren 60 Prozent der mehr als hunderttausend Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Stadt deutschsprachige Juden.
Galizien gibt es nicht mehr. Czernowitz ist heute eine Stadt im Südwesten der Ukraine, 40 Kilometer von der rumänischen und 60 Kilometer von der moldawischen Grenze entfernt –»und längst ein mythischer Ort«, eine »Stadt der Zeitenwenden«, wie es der Literaturkritiker und Autor Helmut Böttiger formuliert. Er hat in diesem Herbst ein schmales Bändchen mit drei Essays veröffentlicht, ein Destillat aus seinen drei Reisen in die Ukraine in den Jahren 1993, 2005 und 2022. Seine Beobachtungen nennt er Momentaufnahmen, die »eine dramatische Periode in einzelnen, prägnanten Ereignissen zu spiegeln« versuchen.
Czernowitz (deutsch), Tschernauti (rumänisch), Tschernowzi (russisch), Czerniowce (polnisch), Tscherniwzi (ukrainisch) – die Schreibweisen variieren, die jiddische und die hebräische gibt meine Computertastatur nicht her – war seit Mitte des 18. Jahrhunderts kultureller, wirtschaftlicher und administrativer Mittelpunkt der Bukowina in Galizien. Hier wurde 1875 die östlichste deutschsprachige Universität gegründet.
In den verschiedenen Benennungen spiegelt sich das wechselhafte Schicksal der Stadt und der Region wider: 1775 mit der Bukowina an Österreich gefallen, 1849 bis 1918 Hauptstadt des Kronlandes Bukowina, nach dem Ersten Weltkrieg und der Niederlage der Donaumonarchie von den Rumänen besetzt, 1940 Anschluss an die UdSSR, dann für kurze Zeit wieder rumänisch, dann wieder Teil der Ukrainischen SSR und somit der UdSSR. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gehörte Czernowitz ab 1991 zum neuen, unabhängigen Staat Ukraine. »U kraina« bedeutet wörtlich »am Rande«.
Auf seiner ersten Reise traf Böttiger die fast 90-jährige Deutschjüdin Lydia Harnik, die ihre Heimatstadt nie verlassen hat und die ihm ihre verschiedenen Staatsangehörigkeiten und damit die von ihr erlebten Zeitenwenden aufzählte: österreichisch-ungarisch, rumänisch, sowjetisch und ukrainisch.
Aber was ist nun das Mythische an diesem Ort, an dieser Region? Gegenfrage: Was haben heute noch bekannte deutschsprachige Autorinnen und Autoren wie Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger, Manès Sperber, Karl Emil Franzos, Soma Morgenstern, Hermann Kesten, Salcia Landmann, Joseph Roth miteinander gemein? Sie wurden alle in Galizien und der Bukowina geboren, den östlichsten Kronländern des Habsburger Reichs, die vier Erstgenannten in Czernowitz. Auch der Schriftsteller Bruno Schulz stammte aus Galizien, ebenso wie die Schauspielerin Elisabeth Bergner, bis zu ihrer Emigration nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten eine der bedeutendsten Darstellerinnen auf deutschsprachigen Bühnen und im Film.
»Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, / wir schlafen wie Wein in den Muscheln, / wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.« Es waren kryptische Zeilen wie diese, die den jungen Helmut Böttiger »elektrisierten«, wie er schreibt. »Ich ahnte, dass hier etwas verborgen war, von dem ich unbedingt mehr wissen wollte, und dieses produktive Nicht-Verstehen war ein Schlüsselerlebnis.«
Der Band »Mohn und Gedächtnis« erschien 1952 und enthält 56 Gedichte, darunter die »Todesfuge« und das Gedicht mit den zitierten Zeilen. Geschrieben wurden die Verse, aber Sie wissen es ja schon, von Paul Celan zwischen 1944 und 1952 in seiner Geburtsstadt Czernowitz sowie in Bukarest und Paris.
Anfang der 1970er Jahre gehörte die Stadt zur Sowjetunion und lag in einem militärischen Sperrbezirk an der Grenze. Böttiger: »Das befeuerte noch das Mythische daran. Es war ein Ort, der einmal in einer unerhörten Blüte gestanden haben musste, aber jetzt jeglicher Vorstellbarkeit entzogen war. Ich wusste: Wenn sich jemals die Möglichkeit eröffnen würde, in dieses magische Czernowitz zu gelangen, würde ich das versuchen.«
Das war dann 1993 der Fall. Zusammen mit einem Freund aus der DDR macht Böttiger sich über Rumänien auf den Weg in die seit zwei Jahren selbständige Ukraine, in ein »Land, das allerdings immer noch dabei ist, sich als ein solches zu definieren«. Und die beiden Touristen kommen in eine Stadt, die aussieht wie 1910: »Sie hat ein bisschen Patina angesetzt, aber diese gelben, diese ornamentalen, diese Stuckfassaden atmen den Geist von Kaiser Franz Joseph, den Geist der Romane von Joseph Roth.« Und mittendrin, im Zentrum, »fehlte nicht viel, ein paar Tische hinausgestellt und ein Kellner, der käme (…), und Gregor von Rezzori stocherte noch einmal in seinen Jugenderinnerungen, schriebe Ninon Ausländer noch einmal ihre seitenlangen Bewunderungsbriefe an Hermann Hesse, die später in eine Ehe münden sollten, bereitete Wilhelm Reich sich noch einmal darauf vor, die Lehren des Sigmund Freud vom Kopf auf die Füße zu stellen.«
Aber: »Die Juden, die die Atmosphäre der Stadt geprägt hatten, waren nahezu vollständig ermordet worden, und jetzt lebte dort eine Bevölkerung, die zumeist aus den östlichen Gebieten der Sowjetunion umgesiedelt worden war und keine Beziehung zur Geschichte von Czernowitz hatte.« Außerhalb ihres Kerns war Czernowitz eine Industriestadt.
Zwölf Jahre später war Czernowitz nicht wiederzuerkennen. Eine Orangene Revolution gegen die Zentralregierung in Kiew, »die Statthalter Moskaus«, hatte inzwischen stattgefunden. Die Ukraine war, so beschreibt sie Böttiger, »zu einem phantastisch anmutenden Experimentierfeld« geworden. Symptomatisch für die Veränderung war der Sieg der Sängerin Ruslana im Mai 2004 beim European Song Contest. Czernowitz »suchte in diesen Nullerjahren wieder verstärkt nach seinen Wurzeln«.
Im September 2022 dagegen mussten sich Böttiger und seine Begleitung – sie waren zu einem Lyrik-Treffen angereist – anstrengen, um rechtzeitig vor 22 Uhr im Hotel zu sein: Ab dann galt absolutes Ausgeh- und Fahrverbot. Seit der russischen Invasion am 24. Februar hatte sich, so die Beobachtung der Reisenden, in der Ukraine alles verändert. Und der Krieg bestimmt auch das Treffen der Lyriker, die Gedanken und Gefühle, so wie überall im Land.
*
Czernowitz war einmal eine multikulturelle, kulturbeflissene Stadt gewesen, aus der, wie aus der ganzen Region, auffallend viele künstlerisch begabte Persönlichkeiten kamen. Diese Tatsache war Ausgangspunkt einer einzigartigen Idee: des – inzwischen abgeschlossenen – deutsch-ukrainischen Kulturprojekts einer »Bukowinisch-Galizischen Literaturstraße«.
Da die Geburts- und Herkunftsorte vieler deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller bukowinischer und galizischer Herkunft relativ nah beieinander liegen, konnten sie mit einer einzigen Route verbunden werden: ein Traum, dem sich die in Berlin lebende Künstlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Jüdischen Museums, Helga von Loewenich, und Petro Rychlo aus Czernowitz, Professor für fremdsprachige Literatur an der dortigen Universität und Mitglied des ukrainischen PEN-Zentrums, verschrieben.
Die Idee der beiden war, in Galizien und der Bukowina den deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern Denkmäler zu setzen, bronzene Büsten auf granitenen Sockeln, um ihr literarisches Werk wieder ins Bewusstsein der einheimischen Bevölkerung zu bringen. Unterstützung fanden sie bei dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Inzwischen stehen 13 Büsten, in Czernowitz und »in kleinen, abgelegen Dörfern, deren Bewohner oft nichts von den Dichterinnen und Dichtern wussten, die hier einst gelebt hatten«. Die Denkmäler wurden von zwei ukrainischen Künstlern aus Lwiw und Ternopil entworfen und gefertigt.
Dokumentiert ist die einzigartige kulturelle Leistung in einem ansprechend gestalteten Buch mit vielen Fotos, aufschlussreichen Informationen zu den ausgewählten Autorinnen und Autoren, mit kurzen Exzerpten aus ihrem Werk sowie zu den Standorten der Büsten.
Es ist ein literarischer Reiseführer, der, wie die Initiatoren hoffen, »in nicht allzu ferner Zukunft« genutzt werden kann, »um auf den Spuren deutsch-jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu wandeln und die entschwundene Welt wieder zu entdecken«. Und Bundespräsident Steinmeier endet sein Vor- und Geleitwort mit einem Versprechen: »Ich freue mich sehr auf den Tag, an dem ich selbst zu Ihnen nach Czernowitz kommen kann.«
Dazu müssten aber endlich die Waffen schweigen.
Helmut Böttiger: Czernowitz – Stadt der Zeitenwenden, Berenberg Verlag, Berlin 2023, 88 S., 22 €. – Helga von Loewenich, Petro Rychlo: Bukowinisch-Galizische Literaturstraße, 288 S., 20 €. Das Buch ist in Czernowitz erschienen und in Deutschland nur erhältlich über die Literarische Buchhandlung »Der Zauberberg«, Bundesallee 133, 12161 Berlin, info@der-zauberberg.eu.