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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von der Kunst der Erinnerung

All­mo­nat­lich stellt SWR Kul­tur sei­ne Bücher-Besten­li­ste vor, für die »renom­mier­te Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin­nen und -kri­ti­ker in frei­er Aus­wahl Buch-Neu­erschei­nun­gen« nen­nen, denen sie »mög­lichst vie­le Lese­rin­nen und Leser wün­schen«. Auf Platz 1 stand im Okto­ber – im Novem­ber immer­hin noch auf Platz 6 – der Roman Frank­furt-Paris-Frank­furt von Peter Kurzeck.

Der Schrift­stel­ler wur­de 1943 in der Stadt Tach­au gebo­ren, die damals zum »Reichs­gau Sude­ten­land« gehör­te, die heu­te Tachov heißt und in Tsche­chi­en in der Pils­ner Regi­on liegt. 1946 wur­de die Fami­lie Kurz­eck aus dem Sude­ten­land ver­trie­ben, und Peter kam mit Mut­ter und Schwe­ster nach Stau­fen­berg im Kreis Gie­ßen. Der Vater war noch in Kriegsgefangenschaft.

Kurz­eck ver­brach­te sei­ne Jugend hier in der hes­si­schen Pro­vinz. 1977 zog er nach Frank­furt am Main, spä­ter hielt er sich auch in Paris und im süd­fran­zö­si­schen Uzès auf. Stau­fen­berg, die Nach­bar­stadt Lol­lar, die 20 Kilo­me­ter ent­fern­te Uni­ver­si­täts­stadt Gie­ßen, Frank­furt, Paris und Uzès, das Lahn­tal sei nicht ver­ges­sen, wur­den zu Bezugs­punk­ten sei­nes auto­bio­gra­fisch-poe­tisch gepräg­ten schrift­stel­le­ri­schen Schaf­fens. »Ihre Gegend und ihre Zeit waren für Kurz­eck der Stoff, um die sein Erzäh­len von Anfang an krei­ste«, schreibt Her­aus­ge­ber Rudi Deub­le, seit Jahr­zehn­ten ein lite­ra­ri­scher Beglei­ter Kurz­ecks, in sei­nem infor­ma­ti­ven Nach­wort zu dem aktu­el­len Buch.

Frank­furt-Paris-Frank­furt ist der vier­te Roman, der nach dem Tod Peter Kurz­ecks aus dem Nach­lass erschie­nen ist, ein abge­schlos­se­ner Roman in 24 Kapi­teln und kein Frag­ment wie die drei ande­ren Bücher aus dem Nach­lass. Das Buch war von Kurz­eck als zehn­ter Band des auf zwölf Bän­de ange­leg­ten, unvoll­endet geblie­be­nen Roman­pro­jek­tes Das alte Jahr­hun­dert vor­ge­se­hen. Alle Bücher sind zwar Tei­le der Chro­nik eines ein­zi­gen Jah­res im Leben des Schrift­stel­lers, des Jah­res 1984, sie beschrän­ken sich jedoch in der erzähl­ten Hand­lung nicht auf die­ses Jahr, son­dern wan­dern durch die Zei­ten, von der Kind­heit in Stau­fen­berg hin zum spä­te­ren Auf und Ab des erwach­se­nen, schrift­stel­lern­den Lebens. Bezie­hungs- und Lebens­kri­sen, wirt­schaft­lich pre­kä­re Situa­tio­nen wer­den nicht aus­ge­spart, eben­so wenig poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Ereig­nis­se wie zum Bei­spiel der Deut­sche Herbst in dem Frankfurt-Paris-Buch.

Mit den Jah­ren stell­ten sich Erfolg und Aner­ken­nung ein, Prei­se und Sti­pen­di­en häuf­ten sich. Bei­spiel­haft genannt sei­en der Alfred-Döb­lin-Preis, der Joseph-Breit­bach-Preis, der Gro­ße Lite­ra­tur­preis der Baye­ri­schen Aka­de­mie der Schö­nen Kün­ste, der Hans-Erich-Nossack-Preis, die Goe­the­pla­ket­te der Stadt Frank­furt, der Grim­mels­hau­sen-Preis, der Wer­ner-Ber­gen­gruen-Preis und schließ­lich die Ehren­bür­ger­schaft der Stadt Stau­fen­berg und die Umbe­nen­nung des Plat­zes vor der ehe­ma­li­gen Schu­le in Stau­fen­berg in Peter-Kurzeck-Platz.

Blicken wir in den Spät­som­mer 1977. Kurz­eck arbei­tet in Frank­furt an sei­nem ersten Buch, dem hier vor­ge­stell­ten, das erst fast 20 Jah­re spä­ter, 1995, abge­schlos­sen wurde.

»Noch ein­mal die Ankunft, noch ein­mal die glor­rei­che Gegen­wart des ersten Sep­tem­ber­mit­tags und wie alles sich um mich her ein­fin­det. Das Fen­ster, der Tag, ein Tisch und ein Arbeits­stuhl. Ein Platz für mein Manu­skript. Eine Lam­pe. Eine elek­tri­sche Schreib­ma­schi­ne, gelie­hen, die erste in mei­nem Leben. Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Ein wei­ßes Blatt Papier ein­ge­spannt, auf dem das Mit­tags­licht zit­tert. Hin und her in Gedan­ken. Das bin ich!«

Sei­te 1, zwei­ter Absatz. Es ist die­ser Sound, der die Lese­rin­nen und Leser sowie die Zuhö­re­rin­nen und Zuhö­rer bei Kurz­ecks Lesun­gen unmerk­lich und unauf­halt­sam in ihren Bann zog. Die Lau­da­to­ren von SWR Kul­tur nann­ten ihn einen »schmei­cheln­den Ton­fall, der die Welt beschreibt und sie zugleich transzendiert«.

Es gibt jedoch noch einen »zwei­ten Kurz­eck«, ich fin­de ihn sie­ben­mal in mei­ner Audio-Biblio­thek. Ein­ge­fan­gen und kon­ser­viert und mit ihm: die ver­gäng­li­che Zeit. Kurz­eck der Erzäh­ler. Ich sehe ihn noch nahe vor mir sit­zen, über sein Buch gebeugt, habe noch sei­ne Stim­me im Ohr. Ein Scha­ma­ne. Der Erfin­der einer aku­sti­schen Lite­ra­tur. Berühmt und soli­tär: die Box mit Ein Som­mer, der bleibt – Peter Kurz­eck erzählt das Dorf sei­ner Kind­heit aus dem Früh­jahr 1977. Vier Audio-CDs, 290 Minu­ten lang. Ich zitie­re aus dem Beiheft:

»Ver­gleich­bar der impro­vi­sier­ten Vor­trags­kunst der legen­dä­ren schwar­zen Blues­sän­ger, die er in den 60er Jah­ren in hes­si­schen Army-Clubs gehört hat, gerät Peter Kurz­eck aus dem Gespräch her­aus ins Erzäh­len und fin­det so zu einer neu­en Form des Romans: ein Text, der erst wäh­rend der Rede, wäh­rend der Auf­nah­me ent­steht. Ohne Buch­vor­la­ge und ohne Manu­skript – eine Beschwö­rung. In Ein Som­mer, der bleibt fügt sich ein Kalei­do­skop an Geschich­ten zu einem detail­rei­chen Bild von Nach­kriegs­deutsch­land und frü­her Bun­des­re­pu­blik, ent­spinnt sich aus einer Kind­heit im Dorf Stau­fen­berg ein exem­pla­ri­sches Leben, in dem die Kunst der Erin­ne­rung in eins fällt mit der Kunst der Literatur.«

Den Platz 1 auf der Besten­li­ste von SWR Kul­tur für Frank­furt-Paris-Frank­furt betrach­te­ten die Kri­ti­ke­rin­nen und Kri­ti­ker als »eine Ermun­te­rung, das gan­ze Werk zu ent­decken«. Ich hof­fe, dass auch ich Sie dazu ermun­tern konnte.

Im Übri­gen, wenn Sie es kür­zer als 290 Minu­ten haben wol­len: Die Audio-CD Da fährt mein Zug ist pas­sa­ble 62 Minu­ten lang, und so lan­ge wer­den Sie Spaß haben an dem, was Ihnen Peter Kurz­eck erzählt. Versprochen.

Peter Kurz­eck: Frank­furt-Paris-Frank­furt, Ver­lag Schöff­ling & Co., Frank­furt a. M. 2024, 288 S., 28 €. – Unter dem Stich­wort »Peter Kurz­eck« ist bei Wiki­pe­dia eine aus­führ­li­che Dar­stel­lung des Lebens und des Wer­kes zu finden. 

*

Auf die Suche nach einer ande­ren Zeit und einem ganz ande­ren Kul­tur­gut hat sich die in Anklam gebo­re­ne und in Schwedt an der Oder auf­ge­wach­se­ne Jour­na­li­stin Eva-Mar­ti­na Wey­er bege­ben, die fast 40 Jah­re bei einer Regio­nal­zei­tung in Schwedt gear­bei­tet hat. Ihre Recher­che zum Tabak­an­bau in der Ucker­mark leg­te sie zur dies­jäh­ri­gen Frank­fur­ter Buch­mes­se in Roman­form vor. Tabak­pech heißt ihr Erst­ling, ein Lese­ver­gnü­gen selbst für Nicht­rau­che­rin­nen und Nicht­rau­cher. Buch­pre­mie­re war am Don­ners­tag, 28. Novem­ber, in Schwedt.

Die Ursprün­ge des Tabak­an­baus in der Ucker­mark rei­chen 300 Jah­re zurück. Ende des 17. Jahr­hun­derts hat­ten sich im Unte­ren Oder­tal, wo sich heu­te der ein­zi­ge deut­sche Fluss­au­en-Natio­nal­park erstreckt, aus Frank­reich wegen ihres Glau­bens geflüch­te­te Huge­not­ten nie­der­ge­las­sen. Sie brach­ten den Tabak in die Regi­on und ver­hal­fen die­ser damit zu Wohlstand.

Wey­er erzählt die Geschich­te einer Fami­lie von Tabak­bäue­rin­nen und -bau­ern von 1930 bis 1995 im Unte­ren Oder­tal, zwi­schen Oder und Wel­se, wo »von jeher stol­ze Men­schen« leb­ten, die »mit ihrer Hän­de Arbeit für die Din­ge des Lebens sorg­ten und mit sich und den Jah­res­zei­ten im Rei­nen« waren. Hier wuchs auch der Tabak für die bekann­te Ziga­ret­ten­mar­ke Salem Gold. Das titel­ge­ben­de Tabak­pech ist der Saft, der beim Ern­ten aus der Pflan­ze tritt, der schwarz an den Hän­den klebt und der »die Fami­li­en fest auf ihren Höfen hält, auch wenn dabei man­cher Traum zugrun­de geht«.

Der Roman beginnt fast wie ein Mär­chen, zwar nicht mit »Es war ein­mal …«, aber doch so: »Im Land zwi­schen den Flüs­sen tönt der Ruf der Kra­ni­che am lau­te­sten. Jeden Herbst zie­hen die Vögel fort. Doch im Früh­jahr keh­ren sie zurück, weil sie die­ses Land lie­ben. Hier leb­te eine Bäue­rin. Sie hieß Elfie und konn­te angst­frei bis in jedes Scheu­nen­dach klet­tern. Elfie hat­te blon­de Haa­re, die im Lau­fe ihres Lebens zu einem wei­ßen Gespinst gewor­den waren. Es umrahm­te ihr Gesicht, das vor Anstren­gung rot gewor­den war.«

Die Rea­li­tät ist jedoch alles ande­re als mär­chen­haft, auch für Kin­der. Das muss auch Elfrie­de, genannt Elfie, erfah­ren, die weib­li­che Haupt­per­son des Romans. Ihr Traum, in Ber­lin zur Sän­ge­rin aus­ge­bil­det zu wer­den, bleibt ein Traum. Mit fünf Jah­ren Wai­se gewor­den, von Tan­te und Onkel groß­ge­zo­gen, war der Tabak­an­bau von Kind­heit an ihre Welt. Und er blieb es, denn: »Tabak war Gemein­schafts­sa­che, alle hat­ten ran­ge­musst. Män­ner, Frau­en und Kin­der waren über den Som­mer mit ihm beschäf­tigt gewesen.«

Elfie über­nimmt spä­ter mit ihrem Mann den Fami­li­en­hof und muss ihn schon nach weni­gen Jah­ren allein wup­pen, wie so vie­le Frau­en auf ande­ren Höfen in jener Zeit – und nicht nur im Tabak­an­bau. Der Krieg hat­te die Män­ner fort von den hei­mi­schen Fel­dern geris­sen, sie stan­den jetzt auf dem »Feld der Ehre«, von dem sie nicht wie­der heim­kehr­ten oder, wenn doch, nicht mehr in der Ver­fas­sung, in der sie hin­aus­ge­zo­gen waren. Dem Zwei­ten Welt­krieg folg­ten die Hun­ger­win­ter der Nach­kriegs­jah­re, schließ­lich neue Hoff­nung, Grün­dung der DDR, dann die LPG-Wirt­schaft. In der DDR war Schwedt eine der größ­ten Tabak­an­bau­re­gio­nen des Lan­des. Nach dem Mau­er­fall begann der Niedergang.

Erschie­nen ist der Roman in der Münch­ner STROUX Edi­ti­on, die sich seit 2017 bio­gra­fi­scher Lite­ra­tur wid­met und dabei »auf die Ver­gan­gen­heit Euro­pas mit ihren Kata­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts bis in die jüng­ste Geschich­te blickt«, wie es die Jury for­mu­lier­te, als sie STROUX in die­sem Jahr als einen von zehn Inde­pen­dent-Ver­la­gen in Bay­ern auszeichnete.

Für mich schloss die­ser Roman über das »Ucker­mär­ki­sche Gold« eine Wis­sens­lücke, hat­te ich bis­her bei dem Stich­wort »Tabak­an­bau« eher an Bra­si­li­en, Chi­na, Vir­gi­nia oder an die frucht­ba­re rote Erde in der Regi­on Vuel­ta Aba­jo im Westen Kubas gedacht, wo der beste Tabak der Kari­bik­in­sel wach­sen soll.

 Eva-Mar­ti­na Wey­er: Tabak­pech, STROUX Edi­ti­on, Mün­chen 2024, 279 S., 25 €.