Allmonatlich stellt SWR Kultur seine Bücher-Bestenliste vor, für die »renommierte Literaturkritikerinnen und -kritiker in freier Auswahl Buch-Neuerscheinungen« nennen, denen sie »möglichst viele Leserinnen und Leser wünschen«. Auf Platz 1 stand im Oktober – im November immerhin noch auf Platz 6 – der Roman Frankfurt-Paris-Frankfurt von Peter Kurzeck.
Der Schriftsteller wurde 1943 in der Stadt Tachau geboren, die damals zum »Reichsgau Sudetenland« gehörte, die heute Tachov heißt und in Tschechien in der Pilsner Region liegt. 1946 wurde die Familie Kurzeck aus dem Sudetenland vertrieben, und Peter kam mit Mutter und Schwester nach Staufenberg im Kreis Gießen. Der Vater war noch in Kriegsgefangenschaft.
Kurzeck verbrachte seine Jugend hier in der hessischen Provinz. 1977 zog er nach Frankfurt am Main, später hielt er sich auch in Paris und im südfranzösischen Uzès auf. Staufenberg, die Nachbarstadt Lollar, die 20 Kilometer entfernte Universitätsstadt Gießen, Frankfurt, Paris und Uzès, das Lahntal sei nicht vergessen, wurden zu Bezugspunkten seines autobiografisch-poetisch geprägten schriftstellerischen Schaffens. »Ihre Gegend und ihre Zeit waren für Kurzeck der Stoff, um die sein Erzählen von Anfang an kreiste«, schreibt Herausgeber Rudi Deuble, seit Jahrzehnten ein literarischer Begleiter Kurzecks, in seinem informativen Nachwort zu dem aktuellen Buch.
Frankfurt-Paris-Frankfurt ist der vierte Roman, der nach dem Tod Peter Kurzecks aus dem Nachlass erschienen ist, ein abgeschlossener Roman in 24 Kapiteln und kein Fragment wie die drei anderen Bücher aus dem Nachlass. Das Buch war von Kurzeck als zehnter Band des auf zwölf Bände angelegten, unvollendet gebliebenen Romanprojektes Das alte Jahrhundert vorgesehen. Alle Bücher sind zwar Teile der Chronik eines einzigen Jahres im Leben des Schriftstellers, des Jahres 1984, sie beschränken sich jedoch in der erzählten Handlung nicht auf dieses Jahr, sondern wandern durch die Zeiten, von der Kindheit in Staufenberg hin zum späteren Auf und Ab des erwachsenen, schriftstellernden Lebens. Beziehungs- und Lebenskrisen, wirtschaftlich prekäre Situationen werden nicht ausgespart, ebenso wenig politische und gesellschaftliche Ereignisse wie zum Beispiel der Deutsche Herbst in dem Frankfurt-Paris-Buch.
Mit den Jahren stellten sich Erfolg und Anerkennung ein, Preise und Stipendien häuften sich. Beispielhaft genannt seien der Alfred-Döblin-Preis, der Joseph-Breitbach-Preis, der Große Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Hans-Erich-Nossack-Preis, die Goetheplakette der Stadt Frankfurt, der Grimmelshausen-Preis, der Werner-Bergengruen-Preis und schließlich die Ehrenbürgerschaft der Stadt Staufenberg und die Umbenennung des Platzes vor der ehemaligen Schule in Staufenberg in Peter-Kurzeck-Platz.
Blicken wir in den Spätsommer 1977. Kurzeck arbeitet in Frankfurt an seinem ersten Buch, dem hier vorgestellten, das erst fast 20 Jahre später, 1995, abgeschlossen wurde.
»Noch einmal die Ankunft, noch einmal die glorreiche Gegenwart des ersten Septembermittags und wie alles sich um mich her einfindet. Das Fenster, der Tag, ein Tisch und ein Arbeitsstuhl. Ein Platz für mein Manuskript. Eine Lampe. Eine elektrische Schreibmaschine, geliehen, die erste in meinem Leben. Schreibmaschinenpapier. Ein weißes Blatt Papier eingespannt, auf dem das Mittagslicht zittert. Hin und her in Gedanken. Das bin ich!«
Seite 1, zweiter Absatz. Es ist dieser Sound, der die Leserinnen und Leser sowie die Zuhörerinnen und Zuhörer bei Kurzecks Lesungen unmerklich und unaufhaltsam in ihren Bann zog. Die Laudatoren von SWR Kultur nannten ihn einen »schmeichelnden Tonfall, der die Welt beschreibt und sie zugleich transzendiert«.
Es gibt jedoch noch einen »zweiten Kurzeck«, ich finde ihn siebenmal in meiner Audio-Bibliothek. Eingefangen und konserviert und mit ihm: die vergängliche Zeit. Kurzeck der Erzähler. Ich sehe ihn noch nahe vor mir sitzen, über sein Buch gebeugt, habe noch seine Stimme im Ohr. Ein Schamane. Der Erfinder einer akustischen Literatur. Berühmt und solitär: die Box mit Ein Sommer, der bleibt – Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit aus dem Frühjahr 1977. Vier Audio-CDs, 290 Minuten lang. Ich zitiere aus dem Beiheft:
»Vergleichbar der improvisierten Vortragskunst der legendären schwarzen Bluessänger, die er in den 60er Jahren in hessischen Army-Clubs gehört hat, gerät Peter Kurzeck aus dem Gespräch heraus ins Erzählen und findet so zu einer neuen Form des Romans: ein Text, der erst während der Rede, während der Aufnahme entsteht. Ohne Buchvorlage und ohne Manuskript – eine Beschwörung. In Ein Sommer, der bleibt fügt sich ein Kaleidoskop an Geschichten zu einem detailreichen Bild von Nachkriegsdeutschland und früher Bundesrepublik, entspinnt sich aus einer Kindheit im Dorf Staufenberg ein exemplarisches Leben, in dem die Kunst der Erinnerung in eins fällt mit der Kunst der Literatur.«
Den Platz 1 auf der Bestenliste von SWR Kultur für Frankfurt-Paris-Frankfurt betrachteten die Kritikerinnen und Kritiker als »eine Ermunterung, das ganze Werk zu entdecken«. Ich hoffe, dass auch ich Sie dazu ermuntern konnte.
Im Übrigen, wenn Sie es kürzer als 290 Minuten haben wollen: Die Audio-CD Da fährt mein Zug ist passable 62 Minuten lang, und so lange werden Sie Spaß haben an dem, was Ihnen Peter Kurzeck erzählt. Versprochen.
Peter Kurzeck: Frankfurt-Paris-Frankfurt, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2024, 288 S., 28 €. – Unter dem Stichwort »Peter Kurzeck« ist bei Wikipedia eine ausführliche Darstellung des Lebens und des Werkes zu finden.
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Auf die Suche nach einer anderen Zeit und einem ganz anderen Kulturgut hat sich die in Anklam geborene und in Schwedt an der Oder aufgewachsene Journalistin Eva-Martina Weyer begeben, die fast 40 Jahre bei einer Regionalzeitung in Schwedt gearbeitet hat. Ihre Recherche zum Tabakanbau in der Uckermark legte sie zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse in Romanform vor. Tabakpech heißt ihr Erstling, ein Lesevergnügen selbst für Nichtraucherinnen und Nichtraucher. Buchpremiere war am Donnerstag, 28. November, in Schwedt.
Die Ursprünge des Tabakanbaus in der Uckermark reichen 300 Jahre zurück. Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich im Unteren Odertal, wo sich heute der einzige deutsche Flussauen-Nationalpark erstreckt, aus Frankreich wegen ihres Glaubens geflüchtete Hugenotten niedergelassen. Sie brachten den Tabak in die Region und verhalfen dieser damit zu Wohlstand.
Weyer erzählt die Geschichte einer Familie von Tabakbäuerinnen und -bauern von 1930 bis 1995 im Unteren Odertal, zwischen Oder und Welse, wo »von jeher stolze Menschen« lebten, die »mit ihrer Hände Arbeit für die Dinge des Lebens sorgten und mit sich und den Jahreszeiten im Reinen« waren. Hier wuchs auch der Tabak für die bekannte Zigarettenmarke Salem Gold. Das titelgebende Tabakpech ist der Saft, der beim Ernten aus der Pflanze tritt, der schwarz an den Händen klebt und der »die Familien fest auf ihren Höfen hält, auch wenn dabei mancher Traum zugrunde geht«.
Der Roman beginnt fast wie ein Märchen, zwar nicht mit »Es war einmal …«, aber doch so: »Im Land zwischen den Flüssen tönt der Ruf der Kraniche am lautesten. Jeden Herbst ziehen die Vögel fort. Doch im Frühjahr kehren sie zurück, weil sie dieses Land lieben. Hier lebte eine Bäuerin. Sie hieß Elfie und konnte angstfrei bis in jedes Scheunendach klettern. Elfie hatte blonde Haare, die im Laufe ihres Lebens zu einem weißen Gespinst geworden waren. Es umrahmte ihr Gesicht, das vor Anstrengung rot geworden war.«
Die Realität ist jedoch alles andere als märchenhaft, auch für Kinder. Das muss auch Elfriede, genannt Elfie, erfahren, die weibliche Hauptperson des Romans. Ihr Traum, in Berlin zur Sängerin ausgebildet zu werden, bleibt ein Traum. Mit fünf Jahren Waise geworden, von Tante und Onkel großgezogen, war der Tabakanbau von Kindheit an ihre Welt. Und er blieb es, denn: »Tabak war Gemeinschaftssache, alle hatten rangemusst. Männer, Frauen und Kinder waren über den Sommer mit ihm beschäftigt gewesen.«
Elfie übernimmt später mit ihrem Mann den Familienhof und muss ihn schon nach wenigen Jahren allein wuppen, wie so viele Frauen auf anderen Höfen in jener Zeit – und nicht nur im Tabakanbau. Der Krieg hatte die Männer fort von den heimischen Feldern gerissen, sie standen jetzt auf dem »Feld der Ehre«, von dem sie nicht wieder heimkehrten oder, wenn doch, nicht mehr in der Verfassung, in der sie hinausgezogen waren. Dem Zweiten Weltkrieg folgten die Hungerwinter der Nachkriegsjahre, schließlich neue Hoffnung, Gründung der DDR, dann die LPG-Wirtschaft. In der DDR war Schwedt eine der größten Tabakanbauregionen des Landes. Nach dem Mauerfall begann der Niedergang.
Erschienen ist der Roman in der Münchner STROUX Edition, die sich seit 2017 biografischer Literatur widmet und dabei »auf die Vergangenheit Europas mit ihren Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Geschichte blickt«, wie es die Jury formulierte, als sie STROUX in diesem Jahr als einen von zehn Independent-Verlagen in Bayern auszeichnete.
Für mich schloss dieser Roman über das »Uckermärkische Gold« eine Wissenslücke, hatte ich bisher bei dem Stichwort »Tabakanbau« eher an Brasilien, China, Virginia oder an die fruchtbare rote Erde in der Region Vuelta Abajo im Westen Kubas gedacht, wo der beste Tabak der Karibikinsel wachsen soll.
Eva-Martina Weyer: Tabakpech, STROUX Edition, München 2024, 279 S., 25 €.