Der Propaganda-Krieg im Gefolge des Überfalls auf die Ukraine leitet jeden Tag Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Leugner und trägt zu allem Überfluss dazu bei, dass ein historisch ebenfalls bedeutsames Ereignis vollständig in den Hintergrund gerät, der Umgang mit der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und seine Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Ost und West.
Zu Recht beschwerte sich der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in der Süddeutschen Zeitung vom 9. November 2022 darüber, dass in rechtsradikalen Kreisen beheimatete revisionistische Strömungen vom bürgerlichen Lager aufgegriffen würden. Er verwies auf einen Beitrag des renommierten Historikers Wolfgang Reinhard in der Frankfurter Allgemein Zeitung vom Januar, in dem von einem »Recht auf Vergessen« die Rede gewesen sei.
Solche wortmächtigen Stimmen gegen das Vergessen des Missbrauchs der Vertreibungen fehlen heute, gäbe es nicht das fulminante Werk der Historikerin Eva Hahn und des Historikers Hans Henning Hahn: »Die Vertreibung im deutschen Erinnern«, das bei den politisch Verantwortlichen und den Hauptmedien der Bundesrepublik jedoch ohne Echo geblieben ist (Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, München, Wien, Zürich, 2010).
Kürzlich erlebte der fast 900 Seiten umfassende Band in Tschechien eine Neuauflage in der Landessprache, was angesichts der über Jahrzehnte hinweg gespannten Beziehungen zwischen Berlin und Prag nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Die Vertreibung der drei Millionen Deutschen hat auch bei den Tschechen tiefe Spuren hinterlassen. In einem Brief an Eva Hahn schreibt der 1976 geborene tschechische Historiker Michal Téra, mit besonderem Interesse habe er das Kapitel über Kurt Nelhiebel und sein Gedicht »In der alten Heimat« gelesen, das ihm den Atem genommen habe.
Es beschreibe eine Gegend, aus der er selber stamme. In dem Gedicht würden sich die Eindrücke und Erfahrungen eines um zwei Generationen älteren Menschen mit seinem eigenen Erleben überschneiden und berühren. Das Gedicht beeindrucke ihn ungemein. Er sehe die Landschaft jetzt nicht nur mit den eigenen Augen, sondern auch mit den Augen eines Menschen, der früher dort zu Hause war. Verstärkt werde die Wirkung des gemeinsamen Bildes durch den Umstand, dass der Dichter ein Deutscher sei.
Seit seiner Kindheit lebe er mit einem Gefühl der Unvereinbarkeit im Begreifen und Erleben der eigenen Heimat, schreibt Michal Téra, waren da doch die unübersehbaren Spuren eines verschwundenen Volkes. Für viele seiner Altersgenossen sei das Aufdecken der deutschen Vorgeschichte so etwas wie die Suche nach einer untergegangenen Zivilisation. »Für mich ist es eine permanente und manchmal auch quälende Frage, inwiefern ich den Anspruch erheben kann, was hier ›tschechisch‹ und was hier ›deutsch‹ sei.« Diese gedankliche Wand in seinem Kopf habe das Gedicht beseitigt. Es beschreibe ein Empfinden gegenüber der Heimat, das auch er in sich trage.
Ich schrieb das Gedicht 1991 nach der Rückkehr von einer Reise in die alte Heimat, die ich nach dem Zweiten Weltkrieg ungeachtet meiner Gegnerschaft zum Naziregime mit einem Sammeltransport deutscher Antifaschisten verlassen habe. Dass ich im Westen Deutschlands auf die alten Widersacher traf, machte mich zum entschiedenen Kritiker des offiziellen Umgangs mit der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und Polen. Mein Kampf gegen die Unbelehrbaren von einst bildet das Schlusskapitel in dem eingangs erwähnten Buch über die Vertreibung im deutschen Erinnern. Dort haben Eva und Hans Henning Hahn auch das Gedicht »In der alten Heimat« untergebracht, das ein bemerkenswertes Echo bei einem tschechischen Historiker der jüngeren Generation gefunden hat.
Dass die Erforschung der historischen Ursachen des so genannten Abschubs der deutschen Minderheiten aus der Tschechoslowakei und aus Polen, die in dem Werk von Eva und Hans Henning Hahn einen breiten Raum einnimmt, in der Bundesrepublik auf taube Ohren gestoßen ist, bleibt eine noch zu tilgende Schande der deutschen Historikerzunft.
In der alten Heimat
Lange suche ich im grauen Gesicht
der engen Gassen
nach einem Zeichen der Vertrautheit,
aber die Steine
sehen mich teilnahmslos an.
Kalt fährt es mir unvermittelt
durchs Herz –
hier hast du nichts mehr verloren.
Draußen dann, vor der Stadt,
das unvergleichliche Bild
der böhmischen Landschaft.
Nirgendwo sonst entflammt
der September das Ahornlaub
so in leuchtendem Rot,
verströmt so verschwenderisch die Erde
ihr Blut an den herbstlichen Himmel.
Wie in der Dünung eines gütigen Ozeans
wiegen rostfarbene Felder
sich von Hügel zu Hügel,
und der frische Acker duftet
wie in den Tagen der Kindheit.
Behutsam legt die Erinnerung
ihren Arm um mich,
und lässt mich die Kälte
des Abschieds vergessen.