Eine der zentralen Sorgen oder Ängste unserer Zeit ist die Verunsicherung darüber, inwieweit die Fundamente der Demokratie und ihrer Institutionen den Sturmböen der aufkommenden Barbarei in all ihren Facetten standhalten können. Es ist ja in der Tat auf den ersten Blick unverständlich, warum eine beträchtliche Zahl von Menschen ihre Hoffnung auf politische Bewegungen setzt, die ihrem Selbstverständnis nach autoritäre Politikansätze vertreten. Diese stehen immer im Gegensatz zur Idee der Freiheit, die den Menschen das Recht auf die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit in der Verfassung verbürgt. Offensichtlich leben wir in Zeiten, in denen das Freiheitsstreben nicht mehr selbstverständlich ist. Wie konnte es dazu kommen?
Ich möchte beginnen mit Gedanken des Gründers der ersten deutschen Arbeiterorganisation, Ferdinand Lassalle: »Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.« In einem anderen Aufsatz fährt er fort: »Wenn also in einer geschriebenen Verfassung immer noch etwas ist, was der wirklichen Verfassung, den tatsächlichen Machtverhältnissen, widerspricht. Und wo dieser Widerspruch einmal da ist, da ist die geschriebene Verfassung – kein Gott und kein Schreien kann hier helfen – immer unrettbar verloren!«
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und den tatsächlichen Gegebenheiten in den westlichen Gesellschaften zu verstehen und bloßzulegen, ist nach meiner Sicht ein ganz wichtiger Aspekt des neuen Werks von Noam Chomsky und seines Coautors Marvin Waterstone, mit dem Titel »Konsequenzen des Kapitalismus«. Der US-Bürger Chomsky, geb. 1928, im Hauptberuf Professor für Linguistik, gilt als der wohl angesehenste Kritiker seiner Regierung und ist einer der bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit.
Chomsky ist ein Vorbild für alle, die an dem alten marxistischen Anspruch auf die Befreiung des Menschen hin zum Subjekt des eigenen Lebens und zum kritischen Blick auf die Verhältnisse festhalten. Dieser Befreiungsanspruch schließt alle Menschen ein und darf nicht auf Besitz oder sonstige Privilegien beschränkt werden.
Wir erkennen, beginnend mit der »glorreichen Revolution« im England des 17. Jahrhunderts, als das Parlament die Machtfrage gegen den König für sich entschied, eine Struktur, die sich gleich einem roten Faden in der Geschichte der westlichen Demokratien bis in die Gegenwart erhalten hat. Es ist dieser Widerspruch, von dem Lassalle sprach. Die Sonntagsreden vom Wert der Demokratie sind das eine, die tatsächlichen Verhältnisse das andere. Damals war es offensichtlicher. Das Parlament war gleichbedeutend mit dem aufstrebenden, besitzenden Bürgertum, also den Kaufleuten und den Fabrikanten. Die besitzlose Mehrheit sollte vor allem gehorchen und keinesfalls auf dumme – das heißt eigene – Gedanken kommen. Denn eines war klar, die bestehende Gesellschaftsordnung verschaffte dieser Minderheit erhebliche Privilegien, die auf einer sehr ungerechten Verteilung des gemeinschaftlich erarbeiteten Wohlstands fußte. Deshalb kann man durchaus von Herrschafts- oder Gewaltverhältnissen sprechen. Von welcher Art waren diese »gefährlichen« Gedanken der Beherrschten? Sie waren beseelt von dem Grundansatz, dass einem Staat das Recht auf Entwicklung eines jeden Menschen ein Herzensanliegen sein sollte. Das bedeutet Investitionen in Bildung und Erziehung, eine gute Gesundheitsversorgung, gerechte Entlohnung und eine Demokratisierung des Rechtssystems.
Das jedoch würde die bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse aushebeln. Wir erkennen, dass das Wesen des Kapitalismus nicht demokratisch ist, dass es ein Beherrschungssystem ist, jedoch in Angst lebt vor der Möglichkeit, dass die Massen ihre Stärke erkennen. Diese Angst, die bis heute wirkt, ist es, die die Privilegierten dazu verleitet, ungeheure finanzielle Mittel für die »Indoktrinierung und Gedankenkontrolle der Mehrheit« in die Hand zu nehmen. Das Ziel ist – so schon der Philosoph und Ökonom David Hume (1711-1776) –, dass die Vielen von den Wenigen regiert werden und dass sie ihre eigenen Wünsche und Leidenschaften zugunsten derer ihrer Herrscher aufgeben.
Chomsky, in seiner nüchternen Art, untermauert diese Gedanken mit dem Verweis auf allgemein respektierte Persönlichkeiten. Er beginnt mit dem zitierten David Hume und lässt Adam Smith (1723-1790), den Begründer des klassischen Liberalismus, zu Wort kommen. So seien in England »die Kaufleute und Manufakturbesitzer« die Urheber der staatlichen Politik gewesen und hätten sie so gestaltet, dass ihre Interessen in ganz besonderem Maße geschützt worden seien. Sie folgten der »elenden Devise, alles für uns selbst und nichts für andere«. Dieses Prinzip sollte dann ganz besonders in den Kolonien seine verheerende Wirkung entfachen. Trotz aller Bekenntnisse zur Demokratie ist es für Smith unstrittig, dass sie, die Kaufleute und Manufakturbesitzer, die »Herren der Menschheit« seien.
Jetzt könnte man sagen, 18. Jahrhundert, Schnee von gestern. Aber leider ist es nicht so. Chomsky lässt den Ökonomen und Nobelpreisträger James Buchanan (1919-2013) zu Wort kommen. Dieser rechtfertigt das bestehende ökonomische System mit dem Verweis auf die menschliche Natur. Diese sei so angelegt, dass jeder die volle Handlungsfreiheit anstrebt, und also bestrebt ist, das Verhalten anderer so einzuschränken, dass diese gezwungen sind, sich den eigenen Wünschen zu fügen. Jeder Mensch strebt die Herrschaft über eine Welt von Sklaven an.
Es ist also dieser Herrschaftsanspruch der Profiteure des kapitalistischen Systems, der ungebrochen auch in unserer Gegenwart wirkt. Chomsky erläutert dies genauer. Er zitiert dazu den Psychologen Edward Bernays (1891-1995). Hier geht es vor allem darum, eine Verschleierungstaktik zu entwickeln, um den offiziellen Anspruch, eine Demokratie sein zu wollen, nicht allzu sehr zu entlarven. Das Mittel dazu sei, so Bernays, die Herstellung von Konsens. Dies sichert einer mit Hunderten von Milliarden Dollar aufgepäppelten PR-Industrie ein gutes Auskommen. Es ist letztlich der Versuch, die Meinungsbildung der Massen im Sinne der Profiteure zu steuern.
Auf diesen Gedanken baut der Psychologe B. F. Skinner (1904-1990) auf. Er entwickelte dazu das Konzept der ethischen Kontrolle der Bevölkerung durch Fachleute zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse. Man spürt in diesen Äußerungen den gleichen Anflug der Verachtung gegenüber der Mehrheit wie schon im 17. Jahrhundert in England. Es gibt eben zu viele Menschen im Kapitalismus, deren legitime Entfaltungsrechte mit Füßen getreten werden. Diese waren und sind auch heute eine latente Gefahr für die Privilegierten.
Dies macht den Unterschied aus. Eine lebendige Demokratie will eigenständige Denk- und Erkenntnisprozesse des mündigen und kritischen Bürgers. Ein Gewaltsystem, dass vor allem die ungerechtfertigten Privilegien einer Minderheit schützt, will die geistige Fremdsteuerung des Bürgers im Sinne der Mächtigen, was somit die Idee der Demokratie von innen her zerstört.
Chomsky sieht die Zeichen des Verfalls heute: Das öffentliche Interesse tritt immer mehr in den Hintergrund zugunsten einer unersättlichen Bereicherungssucht einer kleinen Schicht. Dem ging jedoch etwas voraus. Die Ideen des klassischen Liberalismus, mitsamt dem »Freiheitsbegriff«, sind, so Chomsky, schon länger in Auflösung begriffen. Es hat sich, vor allem in den USA, die Ideologie des Libertarismus durchgesetzt, der vor allem auf den Gedanken von Ayn Rand (1905-1982) gründet. Kurzgefasst lässt sich diese als die Fortsetzung der schon von Adam Smith erkannten elenden Devise »Alles für uns selbst, und nichts für andere« beschreiben. »Freiheit« ist demnach die Ermöglichung der maximalen Durchsetzung des Ego-Interesses – ein Denken, das wichtige Führungskräfte in den USA stark beeinflusste.
Dies alles offenbart, so Chomsky, einen enormen geistigen Substanzverlust. Wir erkennen diesen auch in der uns prägenden Politik der Wohlstandssicherung, die fast unsere gesamte Zeit und Energie zu absorbieren scheint. Es fehlt an »Mußezeit«, in der über Grundsatzfragen in der Breite reflektiert werden kann. Geschieht dies nicht, so sind wir in Gefahr, die Wertschätzung für diese so kostbaren Errungenschaften, die in unserer Verfassung niedergelegt sind, zu verlieren. Es fehlt dann auch die Fähigkeit, sich klarzumachen, welche Konsequenzen autoritäre Politikmodelle für unser Zusammenleben haben.
Das ist das eine. Andererseits hat es Gründe, dass sich nicht wenige Bürger von den demokratischen Parteien nicht mehr gehört oder verstanden fühlen. Etwa die Hälfte der Bevölkerung hat keine Rücklagen, was in Zeiten einer galoppierenden Inflation zu einem schwierigen Leben führt. Jedoch hat unsere Gesellschaft als Ganzes in den letzten 10 Jahren einen enormen Wohlstandszuwachs erlebt, der jedoch bei den bedürftigen 50 Prozent nicht angekommen ist. Es profitiert meist eine kleine Schicht, die schon längst nicht mehr weiß, wohin mit dem ständig weiterwachsenden Reichtum. Es ist bei den demokratischen Parteien, mit Ausnahme der Linkspartei, kein ernsthafter Wille zur Veränderung dieser strukturellen Ungerechtigkeit zu erkennen. Man traut sich nicht. Die Privilegierten leben offensichtlich in ihrer eigenen, unantastbaren Welt. Hier weht uns der Hauch einer Oligarchie entgegen.
Zurück zu Lassalle: Wenn also ein Widerspruch existiert zwischen der geschriebenen Verfassung und der wirklichen Verfassung einer Gesellschaft, so ist diese auf längere Sicht »unrettbar verloren«? Ist dann die Barbarei noch aufzuhalten? Braucht die Rettung unserer Demokratie die Überwindung des Kapitalismus, dem das Wohlergehen aller Bürger egal ist? Es ist seine innere Struktur, die sich in bizarren Verteilungsungleichheiten äußert. Dies führt dazu, dass die Demokratie bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird und die Ideen der Demokratie und der Freiheit nurmehr Trugbilder und Täuschungen sind.