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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von den Herren der Menschheit

Eine der zen­tra­len Sor­gen oder Äng­ste unse­rer Zeit ist die Ver­un­si­che­rung dar­über, inwie­weit die Fun­da­men­te der Demo­kra­tie und ihrer Insti­tu­tio­nen den Sturm­bö­en der auf­kom­men­den Bar­ba­rei in all ihren Facet­ten stand­hal­ten kön­nen. Es ist ja in der Tat auf den ersten Blick unver­ständ­lich, war­um eine beträcht­li­che Zahl von Men­schen ihre Hoff­nung auf poli­ti­sche Bewe­gun­gen setzt, die ihrem Selbst­ver­ständ­nis nach auto­ri­tä­re Poli­tik­an­sät­ze ver­tre­ten. Die­se ste­hen immer im Gegen­satz zur Idee der Frei­heit, die den Men­schen das Recht auf die Ent­fal­tung der eige­nen Per­sön­lich­keit in der Ver­fas­sung ver­bürgt. Offen­sicht­lich leben wir in Zei­ten, in denen das Frei­heits­stre­ben nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ist. Wie konn­te es dazu kommen?

Ich möch­te begin­nen mit Gedan­ken des Grün­ders der ersten deut­schen Arbei­ter­or­ga­ni­sa­ti­on, Fer­di­nand Lass­alle: »Alle gro­ße poli­ti­sche Akti­on besteht in dem Aus­spre­chen des­sen, was ist, und beginnt damit. Alle poli­ti­sche Klein­gei­ste­rei besteht in dem Ver­schwei­gen und Bemän­teln des­sen, was ist.« In einem ande­ren Auf­satz fährt er fort: »Wenn also in einer geschrie­be­nen Ver­fas­sung immer noch etwas ist, was der wirk­li­chen Ver­fas­sung, den tat­säch­li­chen Macht­ver­hält­nis­sen, wider­spricht. Und wo die­ser Wider­spruch ein­mal da ist, da ist die geschrie­be­ne Ver­fas­sung – kein Gott und kein Schrei­en kann hier hel­fen – immer unrett­bar verloren!«

Die­ses Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Anspruch und den tat­säch­li­chen Gege­ben­hei­ten in den west­li­chen Gesell­schaf­ten zu ver­ste­hen und bloß­zu­le­gen, ist nach mei­ner Sicht ein ganz wich­ti­ger Aspekt des neu­en Werks von Noam Chom­sky und sei­nes Coau­tors Mar­vin Water­s­tone, mit dem Titel »Kon­se­quen­zen des Kapi­ta­lis­mus«. Der US-Bür­ger Chom­sky, geb. 1928, im Haupt­be­ruf Pro­fes­sor für Lin­gu­istik, gilt als der wohl ange­se­hen­ste Kri­ti­ker sei­ner Regie­rung und ist einer der bedeu­tend­sten Intel­lek­tu­el­len unse­rer Zeit.

Chom­sky ist ein Vor­bild für alle, die an dem alten mar­xi­sti­schen Anspruch auf die Befrei­ung des Men­schen hin zum Sub­jekt des eige­nen Lebens und zum kri­ti­schen Blick auf die Ver­hält­nis­se fest­hal­ten. Die­ser Befrei­ungs­an­spruch schließt alle Men­schen ein und darf nicht auf Besitz oder son­sti­ge Pri­vi­le­gi­en beschränkt werden.

Wir erken­nen, begin­nend mit der »glor­rei­chen Revo­lu­ti­on« im Eng­land des 17. Jahr­hun­derts, als das Par­la­ment die Macht­fra­ge gegen den König für sich ent­schied, eine Struk­tur, die sich gleich einem roten Faden in der Geschich­te der west­li­chen Demo­kra­tien bis in die Gegen­wart erhal­ten hat. Es ist die­ser Wider­spruch, von dem Lass­alle sprach. Die Sonn­tags­re­den vom Wert der Demo­kra­tie sind das eine, die tat­säch­li­chen Ver­hält­nis­se das ande­re. Damals war es offen­sicht­li­cher. Das Par­la­ment war gleich­be­deu­tend mit dem auf­stre­ben­den, besit­zen­den Bür­ger­tum, also den Kauf­leu­ten und den Fabri­kan­ten. Die besitz­lo­se Mehr­heit soll­te vor allem gehor­chen und kei­nes­falls auf dum­me – das heißt eige­ne – Gedan­ken kom­men. Denn eines war klar, die bestehen­de Gesell­schafts­ord­nung ver­schaff­te die­ser Min­der­heit erheb­li­che Pri­vi­le­gi­en, die auf einer sehr unge­rech­ten Ver­tei­lung des gemein­schaft­lich erar­bei­te­ten Wohl­stands fuß­te. Des­halb kann man durch­aus von Herr­schafts- oder Gewalt­ver­hält­nis­sen spre­chen. Von wel­cher Art waren die­se »gefähr­li­chen« Gedan­ken der Beherrsch­ten? Sie waren beseelt von dem Grund­an­satz, dass einem Staat das Recht auf Ent­wick­lung eines jeden Men­schen ein Her­zens­an­lie­gen sein soll­te. Das bedeu­tet Inve­sti­tio­nen in Bil­dung und Erzie­hung, eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung, gerech­te Ent­loh­nung und eine Demo­kra­ti­sie­rung des Rechtssystems.

Das jedoch wür­de die bestehen­den Macht- und Eigen­tums­ver­hält­nis­se aus­he­beln. Wir erken­nen, dass das Wesen des Kapi­ta­lis­mus nicht demo­kra­tisch ist, dass es ein Beherr­schungs­sy­stem ist, jedoch in Angst lebt vor der Mög­lich­keit, dass die Mas­sen ihre Stär­ke erken­nen. Die­se Angst, die bis heu­te wirkt, ist es, die die Pri­vi­le­gier­ten dazu ver­lei­tet, unge­heu­re finan­zi­el­le Mit­tel für die »Indok­tri­nie­rung und Gedan­ken­kon­trol­le der Mehr­heit« in die Hand zu neh­men. Das Ziel ist – so schon der Phi­lo­soph und Öko­nom David Hume (1711-1776) –, dass die Vie­len von den Weni­gen regiert wer­den und dass sie ihre eige­nen Wün­sche und Lei­den­schaf­ten zugun­sten derer ihrer Herr­scher aufgeben.

Chom­sky, in sei­ner nüch­ter­nen Art, unter­mau­ert die­se Gedan­ken mit dem Ver­weis auf all­ge­mein respek­tier­te Per­sön­lich­kei­ten. Er beginnt mit dem zitier­ten David Hume und lässt Adam Smith (1723-1790), den Begrün­der des klas­si­schen Libe­ra­lis­mus, zu Wort kom­men. So sei­en in Eng­land »die Kauf­leu­te und Manu­fak­tur­be­sit­zer« die Urhe­ber der staat­li­chen Poli­tik gewe­sen und hät­ten sie so gestal­tet, dass ihre Inter­es­sen in ganz beson­de­rem Maße geschützt wor­den sei­en. Sie folg­ten der »elen­den Devi­se, alles für uns selbst und nichts für ande­re«. Die­ses Prin­zip soll­te dann ganz beson­ders in den Kolo­nien sei­ne ver­hee­ren­de Wir­kung ent­fa­chen. Trotz aller Bekennt­nis­se zur Demo­kra­tie ist es für Smith unstrit­tig, dass sie, die Kauf­leu­te und Manu­fak­tur­be­sit­zer, die »Her­ren der Mensch­heit« seien.

Jetzt könn­te man sagen, 18. Jahr­hun­dert, Schnee von gestern. Aber lei­der ist es nicht so. Chom­sky lässt den Öko­no­men und Nobel­preis­trä­ger James Buchanan (1919-2013) zu Wort kom­men. Die­ser recht­fer­tigt das bestehen­de öko­no­mi­sche System mit dem Ver­weis auf die mensch­li­che Natur. Die­se sei so ange­legt, dass jeder die vol­le Hand­lungs­frei­heit anstrebt, und also bestrebt ist, das Ver­hal­ten ande­rer so ein­zu­schrän­ken, dass die­se gezwun­gen sind, sich den eige­nen Wün­schen zu fügen. Jeder Mensch strebt die Herr­schaft über eine Welt von Skla­ven an.

Es ist also die­ser Herr­schafts­an­spruch der Pro­fi­teu­re des kapi­ta­li­sti­schen Systems, der unge­bro­chen auch in unse­rer Gegen­wart wirkt. Chom­sky erläu­tert dies genau­er. Er zitiert dazu den Psy­cho­lo­gen Edward Ber­nays (1891-1995). Hier geht es vor allem dar­um, eine Ver­schleie­rungs­tak­tik zu ent­wickeln, um den offi­zi­el­len Anspruch, eine Demo­kra­tie sein zu wol­len, nicht all­zu sehr zu ent­lar­ven. Das Mit­tel dazu sei, so Ber­nays, die Her­stel­lung von Kon­sens. Dies sichert einer mit Hun­der­ten von Mil­li­ar­den Dol­lar auf­ge­päp­pel­ten PR-Indu­strie ein gutes Aus­kom­men. Es ist letzt­lich der Ver­such, die Mei­nungs­bil­dung der Mas­sen im Sin­ne der Pro­fi­teu­re zu steuern.

Auf die­sen Gedan­ken baut der Psy­cho­lo­ge B. F. Skin­ner (1904-1990) auf. Er ent­wickel­te dazu das Kon­zept der ethi­schen Kon­trol­le der Bevöl­ke­rung durch Fach­leu­te zur Sta­bi­li­sie­rung der bestehen­den Ver­hält­nis­se. Man spürt in die­sen Äuße­run­gen den glei­chen Anflug der Ver­ach­tung gegen­über der Mehr­heit wie schon im 17. Jahr­hun­dert in Eng­land. Es gibt eben zu vie­le Men­schen im Kapi­ta­lis­mus, deren legi­ti­me Ent­fal­tungs­rech­te mit Füßen getre­ten wer­den. Die­se waren und sind auch heu­te eine laten­te Gefahr für die Privilegierten.

Dies macht den Unter­schied aus. Eine leben­di­ge Demo­kra­tie will eigen­stän­di­ge Denk- und Erkennt­nis­pro­zes­se des mün­di­gen und kri­ti­schen Bür­gers. Ein Gewalt­sy­stem, dass vor allem die unge­recht­fer­tig­ten Pri­vi­le­gi­en einer Min­der­heit schützt, will die gei­sti­ge Fremd­steue­rung des Bür­gers im Sin­ne der Mäch­ti­gen, was somit die Idee der Demo­kra­tie von innen her zerstört.

Chom­sky sieht die Zei­chen des Ver­falls heu­te: Das öffent­li­che Inter­es­se tritt immer mehr in den Hin­ter­grund zugun­sten einer uner­sätt­li­chen Berei­che­rungs­sucht einer klei­nen Schicht. Dem ging jedoch etwas vor­aus. Die Ideen des klas­si­schen Libe­ra­lis­mus, mit­samt dem »Frei­heits­be­griff«, sind, so Chom­sky, schon län­ger in Auf­lö­sung begrif­fen. Es hat sich, vor allem in den USA, die Ideo­lo­gie des Liber­ta­ris­mus durch­ge­setzt, der vor allem auf den Gedan­ken von Ayn Rand (1905-1982) grün­det. Kurz­ge­fasst lässt sich die­se als die Fort­set­zung der schon von Adam Smith erkann­ten elen­den Devi­se »Alles für uns selbst, und nichts für ande­re« beschrei­ben. »Frei­heit« ist dem­nach die Ermög­li­chung der maxi­ma­len Durch­set­zung des Ego-Inter­es­ses – ein Den­ken, das wich­ti­ge Füh­rungs­kräf­te in den USA stark beeinflusste.

Dies alles offen­bart, so Chom­sky, einen enor­men gei­sti­gen Sub­stanz­ver­lust. Wir erken­nen die­sen auch in der uns prä­gen­den Poli­tik der Wohl­stands­si­che­rung, die fast unse­re gesam­te Zeit und Ener­gie zu absor­bie­ren scheint. Es fehlt an »Muße­zeit«, in der über Grund­satz­fra­gen in der Brei­te reflek­tiert wer­den kann. Geschieht dies nicht, so sind wir in Gefahr, die Wert­schät­zung für die­se so kost­ba­ren Errun­gen­schaf­ten, die in unse­rer Ver­fas­sung nie­der­ge­legt sind, zu ver­lie­ren. Es fehlt dann auch die Fähig­keit, sich klar­zu­ma­chen, wel­che Kon­se­quen­zen auto­ri­tä­re Poli­tik­mo­del­le für unser Zusam­men­le­ben haben.

Das ist das eine. Ande­rer­seits hat es Grün­de, dass sich nicht weni­ge Bür­ger von den demo­kra­ti­schen Par­tei­en nicht mehr gehört oder ver­stan­den füh­len. Etwa die Hälf­te der Bevöl­ke­rung hat kei­ne Rück­la­gen, was in Zei­ten einer galop­pie­ren­den Infla­ti­on zu einem schwie­ri­gen Leben führt. Jedoch hat unse­re Gesell­schaft als Gan­zes in den letz­ten 10 Jah­ren einen enor­men Wohl­stands­zu­wachs erlebt, der jedoch bei den bedürf­ti­gen 50 Pro­zent nicht ange­kom­men ist. Es pro­fi­tiert meist eine klei­ne Schicht, die schon längst nicht mehr weiß, wohin mit dem stän­dig wei­ter­wach­sen­den Reich­tum. Es ist bei den demo­kra­ti­schen Par­tei­en, mit Aus­nah­me der Links­par­tei, kein ernst­haf­ter Wil­le zur Ver­än­de­rung die­ser struk­tu­rel­len Unge­rech­tig­keit zu erken­nen. Man traut sich nicht. Die Pri­vi­le­gier­ten leben offen­sicht­lich in ihrer eige­nen, unan­tast­ba­ren Welt. Hier weht uns der Hauch einer Olig­ar­chie entgegen.

Zurück zu Lass­alle: Wenn also ein Wider­spruch exi­stiert zwi­schen der geschrie­be­nen Ver­fas­sung und der wirk­li­chen Ver­fas­sung einer Gesell­schaft, so ist die­se auf län­ge­re Sicht »unrett­bar ver­lo­ren«? Ist dann die Bar­ba­rei noch auf­zu­hal­ten? Braucht die Ret­tung unse­rer Demo­kra­tie die Über­win­dung des Kapi­ta­lis­mus, dem das Wohl­erge­hen aller Bür­ger egal ist? Es ist sei­ne inne­re Struk­tur, die sich in bizar­ren Ver­tei­lungs­un­gleich­hei­ten äußert. Dies führt dazu, dass die Demo­kra­tie bis zur Unkennt­lich­keit ent­stellt wird und die Ideen der Demo­kra­tie und der Frei­heit nur­mehr Trug­bil­der und Täu­schun­gen sind.