Über eine verwirrende Lage bei Kriegsende berichtet die Bielefelder Aktivistin des Projekts »Blumen für Stukenbrock« Elfriede Haug, Jahrgang 1930, in dem Buch über ihre Kinderjahre »Mama, es ist Krieg!«: »Im Mai 1945, vor der deutschen Kapitulation, waren unsere Befreier kanadische Soldaten. Ich konnte ein paar Worte Englisch und hab dem Offizier erzählt, dass die Zwangsarbeiterin Maria sich freute, wieder nach Hause gehen zu können. ›Aber die Maria kommt nicht nach Hause‹, sagte der Offizier, ›weil wir erst mal alle gemeinsam, Alliierte und deutsche Armee, Krieg gegen Russland machen müssen‹.«
Solche Pläne gab es tatsächlich. Sie waren unveröffentlicht, nur gerüchteweise bekannt, aber spiegelten doch das Bewusstsein vieler wider. Heinrich Himmlers Bemühungen um Waffenstillstand mit London waren durch einen Bericht der BBC am 28. April 1945 bekannt geworden. In der FAZ vom 7. Mai 2005 wurde ein Bericht des Berliner FU-Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften publiziert, demzufolge noch am 6. Mai 1945 »die zweifellos überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sich nicht vorstellen konnte, dass die militärische Niederlage des Reiches schon endgültig ist. Man sieht im gegenwärtigen Zustand eine ausgesprochene Übergangssituation und erst dann das Endstadium des Krieges erreicht, wenn der Kampf gegen die Sowjetunion mit oder ohne fremde Hilfe zu unseren Gunsten entschieden ist.« In der Rundfunkansprache des Nachfolgers des Führers als Reichspräsident, Großadmiral Karl Dönitz, wurde die Fortsetzung des entschlossenen Kampfes »gegen den Bolschewismus« verkündet, vom Kampf an der Westfront war nicht mehr die Rede.
Ein Beitrag von Andreas Hillgruber in »Deutschland zwischen den Weltmächten 1945-1965« wird in Wikipedia so zusammengefasst: »Der britische Premierminister Winston Churchill hielt zunächst noch an der Regierung Dönitz fest, um für den Fall eines sowjetischen Vormarsches bis an die Nordsee die deutschen Truppen gegen die Rote Armee einsetzen zu können. Diese antisowjetische Faustpfandpolitik fand allerdings in der britischen Öffentlichkeit zu wenig Rückhalt.« Rückhalt fand sie jedoch bei der deutschen Marine und ihrem Oberkommandierenden Karl Dönitz, später in Nürnberg als Kriegsverbrecher zu langer Haft verurteilt; er war noch bis zum 23. Mai 1945 deutscher Regierungschef von Churchills Gnaden.
Es gab gegen das Weiterkämpfen der Marine im Osten mehrere Matrosenaufstände. Am 5. Mai 1945 starben der 21jährige Maschinen-Maat Heinrich Glasmacher aus Neuss und zehn seiner Kameraden als einige der letzten deutschen Widerstandskämpfer. Das Mitglied der katholischen Jugend wurde mit Duldung der Briten, die seine Einheit nicht entwaffnet hatten, von Deutschen erschossen, weil er den Matrosenaufstand auf dem Minensuchboot »M 612« nahe der schleswig-holsteinisch-dänischen Küste angeführt hatte. Er und seine Kameraden wollten nicht nach dem Osten fahren, um weiter gegen den »Bolschewismus« – nun mit Billigung der Briten – zu kämpfen. Die Ermordeten wollten Frieden. Sie wurden die ersten Toten im sich abzeichnenden Kalten Krieg. Ihre Mörder wurden hohe Offiziere der Bundesmarine.
Es gab weitere solche Aufstände. In der Geschichtsschreibung aus Kreisen der Marine werden diese als Weigerung, Flüchtlinge zu retten, dargestellt. Die Hinrichtung der Aufständischen sei jedoch nicht legal gewesen. Es handele sich um drei Männer auf dem Begleitschiff »Buea«, hingerichtet am 10.05.1945, und um Kapitänleutnant Asmus Jepsen sowie um drei Männer des Zerstörers »Paul Jacobi«, am 5.5.1945 um 10.00 Uhr – nach Beginn der Kapitulation – hingerichtet, die ebenfalls das Auslaufen nach Osten hatten verhindern wollen.
Was geschah auf der M 612? Nach Durchsickern der Nachricht von der deutsch-britischen Teilkapitulation am 4. Mai 1945 entschließen sich die jungen Matrosen zum Widerstand gegen die Durchhalteparolen ihrer Offiziere. Sie bringen das Schiff in ihre Gewalt und nehmen statt auf das heiß umkämpfte lettische Kurland direkten Kurs Richtung Heimat, zunächst wollten sie nach Flensburg. Das Kommando übernimmt Heinrich Glasmacher. Doch bald wird der Minensucher, der nun unter roter Flagge fährt, von deutschen Schnellbooten verfolgt und gestoppt. Kapitän zur See Hugo Pahl stellt die alte »Ordnung« auf dem Schiff wieder her und organisiert mit Hilfe der Marineführung ein Standgericht, das elf der aufständischen Matrosen zum Tode verurteilt. Kommodore Rudolf Petersen bestätigte das Urteil, das am 5. Mai auf der Reede vor Sonderburg/Dänemark in der Flensburger Förde vollstreckt wurde. Dies zu einem Zeitpunkt, da die Teilkapitulation ein Ende aller Kampfhandlungen an den entsprechenden Frontabschnitten im Norden vorsah und die Engländer bereits Kopenhagen besetzt hatten. Offenbar haben die Briten von dem Mord an den Matrosen gewusst, aber nichts dagegen unternommen.
Von den neben Heinrich Glasmacher erschossenen jungen Matrosen sind uns die Namen bekannt: Wilhelm Bretzke (22), Gustav Kölle (21), Reinhold Kolenda (20), Helmut Nuckelt (24) Rolf Peters (21), Gerhard Prenzler (21), Gustav Ritz (22), Anton Roth (20), Bruno Rust (22) und Heinz Wilkowski (21). Für sie wurde im September 2020 in Sonderburg/Dänemark eine Gedenkstätte eingerichtet. Wilhelm Bretzke und Reinhold Kolenda bekamen ein Grab auf dem Sonderburger Friedhof. Sie gehören zu den sieben angeschwemmten Opfern, die nach der Hinrichtung ins Meer geworfen wurden. Von ihren weiteren Kameraden fehlte jede Spur.
In derselben Nacht, da Glasmacher und seine Kameraden erschossen wurden, machten sich vier Angehörige des in Dänemark stationierten 2. Schnellbootbataillons im Schutze der Dunkelheit und allgemeinen Auflösungserscheinungen auf den Weg in Richtung Heimat. Es sind die Matrosen Alfred Gail (20), Martin Schilling (22), Kurt Schwalenberg und Fritz Wehrmann (22). Am 6. Mai 1945 werden die Flüchtigen von dänischen Polizisten aufgegriffen und an ihre Einheit übergeben, die sich schon im Bereich der Briten befindet. Die Briten hatten den deutschen Kommandeuren die Verantwortung für die »Aufrechterhaltung der Ordnung« in der Truppe und in den Unterkünften überlassen. Nach der Flaggeneinholung und der Bekanntgabe der bedingungslosen Gesamtkapitulation werden die vier Deserteure wie ihre Leidensgefährten von M 612 abgeurteilt, drei von ihnen erschossen, Schwalenberg bekam Zuchthaus, praktisch als letzte Amtshandlung der hohen Offiziere, die sich unmittelbar darauf den Westalliierten mit ihren Erfahrungen andienten. Wieder hat Kommodore Petersen das Urteil bestätigt; er kommt deswegen später vor Gericht, wird freigesprochen und vom MAD der Bundeswehr (Militärischem Abschirmdienst) übernommen. Die Mutter von Alfred Gail nahm sich nach dem Freispruch des Kriegsverbrechers das Leben.
Die Defa hat vor 50 Jahren den jungen Widerständlern in dem Film »Rottenknechte« ein filmisches Denkmal gesetzt, und Siegfried Lenz lieferte 1984 das literarische Gegenstück mit dem Titel »Ein Kriegsende«.
Sechs Jahre zuvor musste Hans Filbinger (CDU) als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten. Es waren vier Todesurteile gegen junge Matrosen bekannt geworden, die Filbinger als Marinerichter bei Kriegsende verhängte. Sie waren nicht vollstreckt worden. Filbinger rechtfertigte die Mordurteile bis zuletzt: »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Unrecht war nach seiner Meinung auch nicht die Leitung der Hinrichtung des Matrosen Walter Gröger in Norwegen. Noch am 29. Mai 1945 – drei Wochen nach Kriegsende – verurteilte Filbinger in einem englischen Kriegsgefangenenlager den Gefreiten Kurt Petzold, der in englischer Kriegsgefangenschaft seinem ehemaligen Vorgesetzten gesagt hatte: »Ihr Nazihunde, Ihr seid schuld an diesem Krieg.« Filbinger erklärte, als ehemaliger HJ-Führer hätte Petzold mit seinen Äußerungen »Gesinnungsverfall« bewiesen. Einer der Nachfolger Filbingers als Landesministerpräsident, Günter Oettinger, löste scharfe Proteste aus, als er den »furchtbaren Juristen« und Nazi Filbinger zum Widerstandskämpfer erklärte.
Dass es auch 1945 Matrosen gab, die sich gegen den Krieg erhoben wie 1918, ist heute weitgehend unbekannt. Die Veröffentlichungen darüber liegen 50 Jahre zurück. Es wird Zeit, auch diese Seite des antifaschistischen Widerstandes junger Menschen wieder in Erinnerung zu rufen und auch die Tatsache der Weiterbeschäftigung ihrer Mörder in der Bundeswehr.