Ein Novum in der langen Geschichte des Zinses: Geschäftsbanken leihen sich von den Zentralbanken Geld, ohne dafür zu zahlen. Der Leitzins der Europäischen Zentralbank (EZB) beträgt null Prozent, der der amerikanischen, der Federal Reserve, darf, so ihr Präsident Jerome Powell, höchstens bis 0,25 Prozent steigen. Der Zinssatz für Einlagen der Banken bei der EZB ist seit 2014 sogar negativ, beträgt momentan minus 0,5 Prozent. Verkehrte Welt: Die Gläubiger zahlen Zinsen an die Schuldner. Man rechnet damit, dass deutsche Banken in diesem Jahr für ihre Einlagen 3 300 bis 4 650 Millionen Euro Strafzinsen an die EZB zahlen müssen (www.tagesgeldvergleich.net). Einige reichen die Negativzinsen an ihre Sparer weiter. Nach Angaben der Verbraucherschutzorganisation Verivox berechneten im März 21 etwa 300 Banken ihren Kunden Negativzinsen (www.verivox.de). Die Gläubiger bekommen weniger zurück, als sie geben. Wann jemals wurden die Schuldner auf diese Weise belohnt, die Geldgeber und Sparer bestraft?
Jahrtausende lang waren die Gläubiger klar die Stärkeren: Die ersten Zeugnisse über Schulden und Zinsen sind rund 5 000 Jahre alt und stammen aus der frühen babylonischen Zeit. Missernten, Naturkatastrophen oder Kriege trieben die Menschen zu den Tempelpriestern oder reichen Kaufleuten, um von ihnen Kredite zu erbeten. Sie wurden in Silber und Naturalien gewährt und führten die Schuldner in eine dauerhafte Abhängigkeit. Die Zinssätze betrugen bis zu 50 Prozent der Kreditsumme. Der Gläubiger legte den Termin für die Rückzahlung fest. Es gab keine Tilgungspläne. Als Sicherheit mussten die Schuldner dem Gläubiger ihre Arbeitskraft verpfänden. Wer zahlungsunfähig wurde, fiel in die Schuldknechtschaft. Die berühmten Gesetzestafeln aus dem 18. Jahrhundert v. u. Z. regelten erstmals die Kreditvergabe über eine Schuldurkunde und die Rückzahlung der Schulden. Hammurapi, Babyloniens König von 1792 bis 1750 v. u. Z., begrenzte die Zinshöhe auf 20 bis 30 Prozent. Er wollte noch größeren Wucher verhindern. Die Schuldknechtschaft tastete er nicht an – ebenso wenig wie seine Nachfolger. Im Römischen Reich regelte das Zwölftafelgesetz (ca. 450 v. u. Z.) die Vollstreckung. Falls der verurteilte Schuldner nicht zahlte, konnte ihn der Gläubiger bis zu 60 Tagen in Schuldhaft nehmen, musste ihn aber ernähren. Der Schuldner konnte sich nur durch Zahlung befreien. Oder ein Bürge löste ihn aus. Andernfalls hatte der Gläubiger das Recht, den Schuldner zu töten oder ihn als Sklave zu verkaufen. Im Jahre 43 v. u. Z. brachten ausufernder Militäretat und Schuldenlast die römische Republik an den Rand des Untergangs. Octavius, der spätere Kaiser Augustus, ersann den Ausweg: »Moriturum esse!« »Es muss gestorben werden!« Die Köpfe der Gläubiger rollten im ganzen Reich, eine derbe Form des Gläubigerverzichts. Es traf also nicht immer nur die Schuldner. Heute ist es üblich, dass Gläubiger auf Teile oder sämtliche ihrer Forderungen verzichten müssen, geraten die Schuldner in die Insolvenz.
Theologen und Kirchenfürsten des Mittelalters wetterten wie vor ihnen der griechische Philosoph Aristoteles gegen den Zins. Er sei gegen die Natur, weil Geld nicht aus Geld entstehen könne. Sie verboten, Zinsen zu nehmen, und fanden Wege, ihr eigenes Zinsverbot zu umgehen. Die kritische Haltung zum Zins änderte sich in dem Maße, wie sich Warenproduktion und Geldwirtschaft entfalteten und frühkapitalistische Wirtschaftsformen keimten. Die Kirche riskierte, unglaubwürdig zu werden, wenn sie den Zins verurteilte, von dem sie lebte. Dogmatischen Lehrsätzen und dem Feudaleigentum verhaftet, fällt ihr deren Preisgabe schwer. Den Stürmen der Entwicklung hielt das kirchliche Theoriengebäude nicht stand. Obgleich sie stur an ihren lächerlichen Dogmen festhält, verzeiht »die englische Hochkirche«, so Marx, »eher den Angriff auf 38 von 39 ihrer Glaubensartikel als auf 1/39 ihres Geldeinkommens.«
Von den Wucher- und Höchstzinsen der Antike und des Mittelalters zu den Null- und Negativzinsen des 21. Jahrhunderts ist ein weiter Weg. Es scheint, als hätten sich die Zinskritiker durchgesetzt, die im Zins die Wurzel allen Übels sehen und ihn abschaffen wollen. Wie der Kaufmann Silvio Gesell (1862-1930), der »Freigeld« forderte. DDR-Ökonom Fritz Behrens über ihn: »Es gibt auf jedem wissenschaftlichen Gebiet Käuze, deren Komik« darin bestehe, dass ihre Wichtigtuerei umgekehrt proportional zu ihrer Unkenntnis wachse: »die Konstrukteure des perpetuum mobile auf physikalischem Gebiet, die Weiße-Käse-Doktoren auf medizinischem Gebiet und die ›Frei-Geld-Leute‹ auf ökonomischem Gebiet.« Der Zins, so die Anhänger Gesells, untergrabe die Bereitschaft zu investieren, sei schädlich für die Produktion und erhöhe die Arbeitslosigkeit. Er untergrabe den sozialen Frieden und verschärfe Konflikte in der Gesellschaft. Er vertiefe die Krise des Staatshaushalts wie die Schuldenkrise der dritten Welt und weite die Kluft zwischen armen und reichen Ländern. Obgleich die Argumentation mehr als ein Körnchen Wahrheit enthält, ist sie falsch. Mit dem Wegfall des Zinses entfiele keinesfalls der Wachstumsdruck mit all seinen Problemen bis hin zur Klimakrise. Der Profit bliebe in einer zinslosen Wirtschaft das Maß aller Dinge, Wachstumsmotor Nr. 1 und der Verursacher vieler Krisen und Konflikte. Er, nicht der Zins, ist das Problem.
Warum wollen manche Ökonomen den Zins abschaffen und das Aufbewahren des Geldes mit Negativzinsen bestrafen? Bekomme man für Geld keine Zinsen, oder werde es durch Strafzinsen weniger, so sagen sie, werde es niemand mehr horten, sondern rasch wieder ausgeben. Somit bliebe es im Umlauf und kurbele die Wirtschaft an. Schlau gedacht, aber stimmt die ökonomische Logik? Und entscheiden die Zentralbanken über Existenz und Höhe des Zinses?
Die Zinsen sind auf einem historischen Tiefststand, nicht weil irgendwelche Zentralbankpräsidenten die Idee dazu hatten, sondern weil die Unternehmen Überschüsse produzieren und kein Geld brauchen, um zu investieren. Deshalb senken die Banken die Zinsen und verlagern ihre überschüssigen Geldmittel zur Zentralbank, die daraufhin auch ihre Zinsen senkt. Mehr Geld in der Krise wird nicht gebraucht. Keiner traut sich zu investieren, solange er auf Überschüssen sitzt. Die Zentralbanken treiben die Wirtschaft nicht. Sie sind Getriebene. Zwar sieht es danach aus, als befolgten ihre Chefs seit Jahren die Tipps, mit denen es gelingen soll, die Wirtschaft in Fahrt zu bringen. US-amerikanische und europäische Zentralbanken kaufen Massen von Wertpapieren und überschäumen die Banken mit billigstem Geld. In Billionenhöhe! Gigantische Anleihekäufe der EZB und der Fed, um den Staaten Geld zur Bekämpfung der Corona- und Wirtschaftskrise in die Hand zu geben. Die Effekte sind gering: Die Unternehmen nehmen nicht mehr, sondern weniger Kredite auf, trotz historisch niedriger Zinsen. Die Liquiditätsschwemme kommt nicht bei den Produzenten an. Sie flutet die spekulativen Finanzmärkte und begünstigt dort die berüchtigten Blasen.
Warum ist das so? Die Nachfrage der Unternehmen nach Krediten hängt nicht nur von den Zinsen ab. Wichtiger: Kann die kreditfinanzierte Mehrproduktion mit Gewinn verkauft werden? Die Aussichten dafür sind schlecht: Weit und breit werden Überschüsse produziert, sind Märkte gesättigt, verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum und steigen die Ersparnisse. Da hilft auch nicht, dass die EZB die Geschäftsbanken mit einem Negativzins für das Halten von Geld bestraft, um sie zu zwingen, Kredite an die Unternehmen und Konsumenten zu vergeben. Wer leiht sich Geld, das er nicht braucht, nur weil gerade die Zinsen niedrig sind? Und wer stößt sein Geld ab, wenn er für das Halten mit Zinsen bestraft wird, wenn er nicht weiß, wohin damit? Bargeld ließe sich unterm Kopfkissen verstecken oder im häuslichen Safe aufbewahren. Manche Ökonomen wollen es deshalb abschaffen, damit sich die Leute nicht der scheinbar wirtschaftlich belebenden Wirkung der Negativzinsen entziehen können, indem sie es vom Konto abheben. Dennoch: Mehr Geld, um zu investieren, bedarf es nicht, solange Märkte gesättigt, Kapazitäten nicht ausgelastet und die Lager überfüllt sind. Um die Wirtschaft zu beleben, bedarf es mehr als niedriger oder negativer Zinsen. Die Zeiten sind nicht danach. Die Geldpolitik, der mitunter Heilswirkungen in Bezug auf die Beschäftigungspolitik nachgesagt werden, kann lediglich die Verfügbarkeit des Geldes und die Bedingungen seiner Inanspruchnahme beeinflussen. Damit diese Politik güterwirtschaftliche Effekte und Effekte auf den Arbeitsmärkten auslösen kann, müsste Geld in Einkommen und Kredite transformiert werden. Automatisch geschieht das nicht. Dazu fehlen die Voraussetzungen, müssten zusätzliche Konsum- und Investitionsgüter und Arbeitskräfte nachgefragt werden. Und darauf haben die Banken keinen, allenfalls einen mittelbaren Einfluss. Das viele Geld, das die Zentralbanken in die Zirkulation drücken, finanziert die Staatsverschuldung, kommt aber in den produktiven Sektoren gar nicht im notwendigen Umfang an. Und das ist gut so: In einer Welt, die vor dem Klimakollaps steht, braucht es keine Erhöhung des Wirtschaftswachstums zur Mehrung sinnloser Überschüsse.